
Er ist zurück! Benjamin Barker alias Sweeney Todd (Norman Stehr) kehrt aus der Verbannung nach London zurück, um sich zu rächen. Fotos: Rupert Rieger
Eggenfelden. Nach zwei Stücken, die vorrangig für Kinder gemacht wurden – Mein Bruder, der Räuber Kneißl und Ox und Esel – gibt sich Fräulein Weiler diesmal das krasse Gegenteil am Theater an der Rott: Sweeney Todd, ein Musical-Thriller. Spannend, düster, durchdringlich und ganz schön grausam. Eins sei gleich gesagt: Fräulein Weiler hatte mehrmals eine heftige Gänsehaut. Und zwar nicht nur, weil’s so gruslig war …
Ein Gläschen Sekt und Sweeney machen doppelt berauscht
Voll. Das Theater an der Rott ist so voll, dass ich zunächst in einer langen Schlange, die bis vor die Tür reicht, an der Abendkasse warten muss. Sweeney Todd, das Musical, das alle sehen wollen, wie’s scheint. Haben die noch Johnny Depp im Kopf? Ich jedenfalls nicht und ich freue mich, als sich der rotsamtene Sitz um mich herum schmiegt, sich die holzig-warme Theaterluft mit den vielen Parfums mischt und ich die Darsteller schon alle auf der noch dunklen Bühne erahne. Das laute Geplapper wandelt sich nach dem Gong in ein Raunen und verstummt schließlich ganz. Das Licht geht an und ich tauche diesmal so sehr ab, dass mir in der Pause ganz schwindlig wird, als ich ins Foyer gehe, um mir ein Gläschen Sekt zu gönnen.

Carin Filipcic steht Sweeney als Mrs. Lovett zur Seite. Ihre kracherte Rolle harmoniert wunderbar mit ihrer klaren Stimme.
Nach diesem Gläschen bin ich im doppelten Sinne leicht berauscht, setze mich wieder, genieße die kurze Stille, bevor es weitergeht und ich mich wieder ins Geschehen fallen lasse. Kennen Sie das, wenn sie ein Theaterstück so verschluckt? Manchmal passiert das auch bei einem Film oder einem Buch. Sie kennen das bestimmt. Sie sind dann eigentlich gar nicht mehr anwesend – also freilich sitzt Ihr Körper da, aber Ihr Geist ist so sehr in der Geschichte verloren, dass alles andere verblasst. Genug abgeschweift – Sie wollen ja nun wirklich wissen, was da los war.
Musik, Schauspiel, Chor – die Elf erschafft einfach alles
Der schräge Bühnenaufbau aus Holzlatten, eine Umrahmung aus Plastikfolie, bedruckt mit schemenhaften Körpern – daraus setzt sich das Bühnenbild von Tobias Flemming zusammen. Mehr brauchen die elf Darsteller auch nicht – sie sind alle irgendwie auf der schiefen Bahn. Sie erschaffen alles. Sie sind die Musiker. Sie machen in den Szenen ihre eigenen kleinen Bühnen. Mit ihren Instrumenten und ihrem Schauspiel. Sie sind der Chor. Sie treten einzeln auf und sind doch ein festes Gesamtes. Sie sind die Sänger. Jede Rolle tritt ganz klar hervor in diesem Londoner Sumpf, in den Sweeney Todd zurückgekehrt ist. Zu Unrecht hat ihn Richter Turpin damals verbannt. Seine Liebe hat er verloren. Sein Verlangen nach Rache ist enorm. Wie gut, dass er Barbier ist und ein scharfes Messer hat. Wie gut, dass er Mrs. Lovett, die erfolglose Pasteten-Bäckerin findet, die sich über die teuren Fleischpreise beschwert. Wie gut, dass auch für Liebe Platz ist und sich Anthony und Johanna finden. Wie gut?!

Anna Veit ist gebürtige Hauzenbergerin und hat sich als Chanson-Sängerin einen Namen gemacht. Jetzt schmeißt sie sich als Bettlerin Anthony (Christopher Ryan) vor die Füße.
Da passiert es: Der nervige Pirelli, ein ekelhafter Konkurrent im Geschäft, sitzt auf Sweeneys Stuhl. Es wird dunkel, Sweeney erhebt das Messer, fährt über Pirellis Hals, ein durchdringender Ton erklingt und durch die Bühnenbretter scheint helles Licht. Wahrscheinlich Höllenfeuer. Denn dort unten ist Mrs. Lovetts Pasteten-Bäckerei, da steht auch der Fleischwolf und auf die Folie ganz hinten werden schon die ganze Zeit Videos projiziert (verantwortlich dafür: Katarina Eckold). Jetzt Hackfleisch, viel Hackfleisch… Oh… Vorher war’s nur Regen, dessen Tropfen wunderbar herabperlten. Jetzt Hackfleisch. Pirelli steht auf, geht langsam durch den Vorhang, kommt wieder mit blutbesudeltem Regencape und macht weiter, er muss ja Akkordeon spielen.
„Das Leben und der Tod sind ein Liebespaar“, oder: Rache ist süß…
So geht es weiter. Sweeney und sein Messer bringen alle um. Auch Mrs. Lovett. Und dann auch noch Sweeney selbst, ja, tatsächlich! Die Liebe und der Tod und der Tod und die Liebe – bringt die Liebe manchmal den Tod mit sich und ist der Tod manchmal die Liebe? Wenn die Liebe das Leben ist, dann ja… „Das Leben und der Tod sind ein Liebespaar“, heißt es im Lied „Alles ist eins“ von den Toten Hosen. Ja, das hat eine ganz spezielle Bedeutung in Sweeney Todd. Wie süß ist Rache? Zum wirklichen Grübeln komme ich dennoch nicht. Viel zu fasziniert bin ich von dem, was ich gesehen habe. Darum brauche ich heute auch kein zweites Glas Sekt im Café „Roses“, sondern gehe gleich danach, zu Fuß, mache ein paar Umwege und denke zurück, habe noch das Rauschen des Applauses im Ohr, der mehrere Minuten anhielt.
Sweeney Todd und Mrs. Lovett – wer ist eigentlich teuflischer?
Norman Stehr ist Sweeney Todd. Eine Erscheinung von einem Mann. Präsent, mit schwarzer Lederhose, charismatisch, mit tiefer und durchdringender Stimme. Carin Filipcic ist Mrs. Lovett. Ein Wahnsinnsweib. Sie wirbelt über die Bühne, zieht Gesichter, trotzdem ist da nichts Affektiertes, nein, gar nicht – sie ist das wahre Leben, sie kennt keine Skrupel in ihrem oma-beigen Strapshemdchen. Das Äußere wird wunderbar ergänzt durch ihre Stimme – so klar und melodisch und schön. Sie wissen ja – ich bin kein Experte, weshalb mir manchmal die Worte fehlen. Dennoch vertraue ich darauf, dass Sie mich verstehen. Carin Filipcic, ja, das muss ich bekennen, sie ist fast dafür verantwortlich, dass das Stück eigentlich „Mrs. Lovett“ heißen müsste. In ihrer Dynamik ist sie viel präsenter als Norman Stehr, der als einziger kein Instrument spielt. Carin Filipcic bedient scheinbar nebenbei das Schlagzeug und trumpft nach der Pause noch mit einer Tuba auf.
Sweeneys Widersacher, Richter Turpin, hat mit Gerhard Karzel die richtige Erscheinung gefunden: Klare, scharfe Gesichtszüge, hünenhaft. Seiner Violine entlockt er die geschmeidigsten und schrägsten Töne. Monica Arnó versteht sich als Pirelli auch auf schräge Töne. Und wie! Die Figur des Italo-Barbiers steht ihr hervorragend. Sie darf spinnen, kreischen, Akkordeon spielen, energisch herumstapfen, fies intrigieren – und ist dann doch die erste, die Sweeneys Klinge zum Opfer fällt. Schade eigentlich.
Johanna und Anthony – auch im wirklichen Leben ein Liebespaar

Aus Löchern im Bühnenaufbau musizieren die Darsteller (vorne Thomas Huber) heraus – das ist untergründig, mystisch und leicht gruslig.
Das Liebespaar – Sidonie Smith ist Johanna, Christopher Ryan Anthony. Die beiden sind auch im echten Leben ein Paar, entnehme ich viel später daheim der Theaterzeitung. Er fällt weniger durch sein Äußeres auf als durch seinen Gesang – lupenrein und supergut. Ganz einfach. Und ein Saxophon hat er auch noch dabei. Sie scheint ein Wesen aus einer anderen Welt zu sein. Welch feiner Kontrast – ihre dunkle Haut und das weiße Satinkleid, ihre geschmeidige Art, sich zu bewegen. Und da spielt sie auch noch Harfe… Es macht nichts, dass ich sie nicht so gut verstehe, die Präsenz des Paares überwiegt.
Und dann ist da noch Toby, Thomas Huber, der mit Klarinette und naiv-drolliger Art besticht, da ist Büttel Bamford, der junge Konstantin Riedl, der in schleimig-gebückter Haltung Cello spielt. Da sind Mrs. Fogg und Mr. Fogg, die im großen Loch sitzen – Hariklia Apostolu hat alle unter einen musikalischen Hut gebracht, sie ist dafür verantwortlich, was ich zu hören bekommen habe. Eine ordentliche Leistung, zumal sich ja alle auf der Bühne bewegen, die Instrumente die Rollen unterstreichen. Martin Kiener am Keyboard hat nebenbei mit der Blockflöte den Todeston verursacht – kaum bemerkt.
Rose Divine alias Karl M. Sibelius inszeniert den Wahnsinn

Ein schräger Bühnenaufbau für ein schräges Stück: Wenn Karl M. Sibelius Sweeney Todd inszeniert, spielen die Darsteller auch die Instrumente.
Und nicht zuletzt: Anna Veit! Anna Veit aus Hauzenberg, die Bettlerin. Sie war es, die mir die meiste Gänsehaut verursacht hat. Die kleine, zierliche Darstellerin mit dem roten Kleid und dem riesigen Kontrabass, ich hab sie ihr so derart abgenommen, diese verrückte Alte. Mit irrem Lachen und Geschau schleift sie ihr Rieseninstrument hinter sich her, kauert elendig auf dem Boden, streicht die Saiten und singt auch noch.
Wissen Sie, genau das war der eigentliche Wahnsinn. Da stehen elf Multitalente auf der Bühne. Erschaffen alles. Und wer hat es ihnen beigebracht – wer inszenierte den Wahnsinn? Es war Rose Divine, Karl M. Sibelius‘ Alter Ego. Mehr wird Rose nicht machen diese Saison. Leider. Sie hat’s drauf, diese künstlerische Leiterin, die noch mehr Herz als Verstand hat, die einfach macht, was sie machen muss. Ich schließe die Haustüre auf, mein Daheim begrüßt mich, ich summe „Pasteten…“, gehe im Walzerschritt zum Kühlschrank und trinke noch ein Glas Sekt. Wahrhaft berauschend…
Ihr Fräulein Weiler
Danke für diese tolle Kritik, die ich nur unterschreiben kann. Das Theater an der Rott ist wirklich einzigartig. Die beste Sweeney Todd Inszenierung, die ich kenne und ich habe viele gesehen. Mittlerweile spricht sich herum, dass Eggenfelden eine der innovativsten Bühnen im süddeutschen Raum besitzt. So was haben wir in Linz, trotz wunderbarem neuen Musiktheater, leider nicht mehr. Sibelius war auch bei uns ein Garant für herausragendes Theater, egal ob als Schauspieler oder Regisseur.
Ich fand es auch großartig! Finde Sie schreiben wunderbar Frau Weiler, da kann die PNP bei Weitem nicht mithalten.