Eggenfelden. Fräulein Weiler geht gern ins Theater – auch wenn sie verliebt ist. Sie hat Glück: Ihr Liebster begleitet sie mit Freude an die Spielstätte nach Eggenfelden. Diesmal waren die beiden an der frischen Luft unterwegs. „Die zehn Gebote“ führte sie durch die ganze Stadt…
Diese Premiere kann ich mir auf keinen Fall entgehen lassen – aus zwei Gründen nicht: Erstens macht mich die Art der Aufführung neugierig: An zehn Orten in Eggenfelden wird gespielt – von Bürgern für Bürger. Und zweitens ist Dr. Uwe Lohr der Regisseur – der Mann, der nach Karl M. Sibelius‘ Abschied Intendant sein wird. Eigentlich gibt es auch noch einen dritten Grund. Das Stück heißt „Die zehn Gebote“. Ich weiß nicht, wie Sie mich einschätzen – Sie kennen mich ja nun auch schon ziemlich lange… Mit der Religion habe ich meine Schwierigkeiten und wehe, mir würde einer die Gretchenfrage stellen. Ich denke, es geht vielen so wie mir. Ich glaube, brauche aber die Institution Kirche nicht. Als Christin würde ich mich nicht bezeichnen, mein Glaube ist universeller… Nun denn, das führt zu weit. Kommen Sie lieber mit mir auf meinem Rundgang durch meine kleine Stadt, die ich zusammen mit meinem Liebsten nochmal ganz neu entdeckt habe.
Vor dem Theater an der Rott teilt sich die Menge auf – in eine grüne und eine blaue Gruppe. Ich mag beide Farben gleich gerne – und so schließe ich mich dem Regisseur höchstselbst an, der seine Schäfchen durch Eggenfelden treiben wird. Der Abend ist angenehm, die Luft duftig, die frisch gemähten Wiesen und Rasenflächen riechen schon eher sommerlich. Am Himmel bilden sich einige Wolken – aber es besteht die Hoffnung, dass es trocken bleibt. Halb acht, die Kirchturmuhr schlägt, die ersten Amseln stimmen in den Bäumen ihr Abendlied an. Es geht los.
Du sollst nicht lügen
Wir traben hinters Theater. Im Hof lamentiert ein Mann über Steuerhinterziehungen, eine Frau sitzt mit der Zeitung „Emma“ auf einer Bank und wirft ihre Meinung ein. Steuerhinterziehung, da fällt mir freilich gleich mal Uli Hoeneß ein. Und der „kleine Mann“, wer auch immer das sein mag. Dann schlängelt sich der Theaterchor singend im schwarzen Zwirn die Wendeltreppe herab, in der Hand Mappen mit der Aufschrift „Meine Schwarzgeldkonten“. Du sollst also nicht den Staat anlügen. Lügen und betrügen… Und der Staat? Lügt uns der etwa nicht an?
Ich persönlich hab’s mit Lügen überhaupt nicht. Ich kann’s einfach schlecht und bin mir sicher, dass ich sofort auffliegen würde. Warum sollte ich auch. Weil die Wahrheit manchmal so bitter schmeckt? Weil eine kleine Notlüge doch nicht schadet? Weil es eben manchmal bequemer ist? Ach, aber mein Gewissen belaste ich so unnötig. Und ich missbrauche Vertrauen. Im Übrigen hat mich ein lieber Freund einmal „Frau Doktor Moralis“ genannt…
Du sollst Vater und Mutter ehren
Wir überqueren die Straße, gehen stadteinwärts, biegen scharf rechts ab und stehen schließlich vor dem Christanger-Wohnheim. Im Wintergarten sitzen alte Menschen, die von Pflegerinnen umsorgt werden. Vor dem Wintergarten stehen wir und haben auch die Gelegenheit, Platz zu nehmen. Ich setze mich und finde mich plötzlich in der Spiegelung am Tisch einer alten Frau wieder. Sie starrt ins Leere, ihr Gesicht ist friedlich und von Demenz gezeichnet. Das Spiegelbild verrät noch mehr. Die alten Menschen im Heim und wir Zuschauer werden im Spiegelbild eins. Wir schauen uns an. Es ist still, es rührt mich an. Es ist ein Blick in die Zukunft und in die Vergangenheit. Auch meine Oma war im Heim und meine Mutter hatte ein schrecklich schlechtes Gewissen deswegen. Mama hat sie aber dennoch geehrt.
Und wie wird es später einmal sein? Müssen Mama und Papa irgendwann auch in ein Heim? Muss ich selbst mal in ein Heim? Ehre ich meine Eltern? Wie geht Ehre? Ich schlucke, kann den Blick nicht vom Fenster wenden, in dem sich alles spiegelt. Die Münder werden ihnen abgeputzt, die Schnabeltassen aufgefüllt, die allabendliche Tablettenration verteilt, das Mensch-ärgere-Dich-nicht weggeräumt. Wir gehen leise weiter.
An der Klostermauer
Alte, gemütliche Häuschen und neuere Bauten, verblühte Fliederhecken und lange Gräser. Entlang eines geraden Weges stehen Kunstwerke – selbst gemacht von den Bürgern. Auf einer tibetischen Gebetsfahne stehen Sprüche, auf einem großen Bild treten plastisch Formen hervor, ein Herz liegt im Gras – und ganz hinten steht ein Mann mit einer Motorsäge und schnitzt an einem Baumstamm. Wir kommen näher, er stellt sich vor und erklärt sein Kunstwerk. Ein Stamm, in dem alle Religionen symbolisch vereint sind. Ja – alle großen Religionen, die so genannten Weltreligionen. Ich vermisse die alten Religionen. Die keltische, die germanische Religion. Die Religionen, die eigentlich unsere Kultur geprägt haben, bevor sie das Christentum scheinbar hinwegfegte.
Du sollst nicht töten
Vorbei an einem beißend riechenden Haufen. Dahinter ein Nutzgarten, der halbfertig erscheint. Eine gemähte Wiese, auf der ein Mann steht und so redet, als ob er predigen würde. Es ist tatsächlich Diakon Robert Rembeck. Er spricht von den vielen Arten zu töten. Vom psychischen Töten. Und dass die meisten Arten zu töten überhaupt nicht verboten seien. Vom freundlichen Garten geht es hinunter in den Klosterkeller. Der riecht muffig und feucht. Die Atmosphäre ist beklemmend – noch beklemmender aber sind die Szenen, die sich dort abspielen. Drei Menschen sitzen da und erzählen von ihren Flüchtlingsschicksalen. In der hinteren Ecke kauert ein Mann mit einem Kopfverband, eine Frau schlägt monoton an eine Eisenstange und erzählt. Ich schaffe es nicht, ihr zuzuhören – zu unheimlich ist die Szenerie. Im anderen Kellerwinkel demonstriert eine junge Frau den Zustand der Masttiere. Es packt mich und ich drücke die Hand meines Begleiters. Still gehen wir hinauf und atmen den willkommenen Gartenduft ein.
Habe ich schon getötet? Natürlich. Ich esse Fleisch. Und überlege wieder einmal ernsthaft, es künftig bleiben zu lassen. Einen Menschen habe ich noch nicht getötet, oder? Wobei… Indirekt habe ich es wahrscheinlich schon unterstützt, stillschweigend akzeptiert. Zeuge davon sind die Gebrauchsgegenstände und Kleidungsstücke, deren Produktion ganz oft zweifelhaft ist.
Du sollst keine anderen Götter haben neben mir
Wir gehen in die Kirche. Auch wenn ich nicht an den Kirchengott glaube, in die stillen, wohlriechenden, kunstvollen Häuser gehe ich gerne. Beim Betreten beschleicht mich eine ruhige Unheimlichkeit. Heute wird Grusligkeit daraus. Im Mittelgang stehen drei schwarz verschleierte Frauen mit dem Rücken zu uns. Wir müssen dran vorbei. Die Gesichter: Starr, sie wirken fast wächsern unter den rüschigen Hauben. Vorne am Altar stehen drei komplett weiß verhüllte Frauen. Aus dem einen Seitengang kommen drei ebenfalls weiß verhüllte Frauen, deren Gesichter aber frei sind. Aus dem anderen Seitengang kommen drei Frauen in Burkas. Ein Mann und eine Frau unterhalten sich über den „richtigen“ Gott und finden doch keine Antwort. Irgendwann springt ein goldener Engel hervor und führt einen wilden Tanz auf. Die Verhüllten ebenso. Die Kirchenorgel scheint es fast zu zerreißen.
Ein ganz schönes Spektakel, aufwühlend und Fragezeichen aufwerfend. Der Streit um den einen richtigen Gott hat Kriege hervorgebracht. Und die alte Religion hat nicht einen Gott gekannt, sondern den Dualismus von Gott und Göttin und der belebten Natur als große Einheit. Zerrissen sind wir heute, weil wir uns als Krone der Schöpfung betrachten und abgespalten sind von der alten Kraft – der Natur. Plötzlich bin ich froh, die Kirche verlassen zu können.
Du sollst den Tag des Herrn heiligen
Weiter hinunter in die Stadt geht es, hinein in eine Wirtschaft, hinaus in den gemütlichen Biergarten, in dem wir nun alle Platz nehmen. An dem einen Ende packt eine Frau ihre prallen Einkaufstüten aus – Schnäppchen, die sie am verkaufsoffenen Sonntag erstanden hat. Am anderen Ende sitzt ein traditioneller Bayer mit seinem Weizen, der dies kritisch kommentiert. Woher denn diese Schnäppchen kämen? Ob sie überhaupt wüsste, wie das Zeug hergestellt werde? Was das überhaupt für ein Wort sei – Schnäppchen? Und was die Einkauferei am Sonntag überhaupt solle? Eine Frau mit Akkordeon begleitet die Szene.
Aber was ist das für ein Gebot? Ich kann nichts damit anfangen. Der Tag des Herrn… Der Biergarten. Sich lieber in Gemütlichkeit und Shoppen ergehen anstatt in der Kirche zu sitzen? Gut möglich.
Du sollst nicht stehlen
Vom Biergarten geht es um die Ecke – hier steht die VR-Bank. Logisch, dieses Gebot hier zu zeigen. Und wie eindrucksvoll! Im Foyer stehen wir dichtgedrängt am Rand, in einer Ecke klopfen drei punkige Leute auf Fässer und veranstalten damit einen Heidenlärm. Dann toben sie herein, die Banker und Bankerinnen. Gut gekleidet schütteln sie ihre Geldkoffer, schmeißen sich auf den Boden, rollen herum, tanzen fast miteinander, wirbeln umher. Alles so schnell und alles so laut, Hilfe, Banküberfall, Hilfe, Hilfe, so ein Trubel ums Geld. Ums Haben. Weniger ums Sein.
Du sollst nicht ehebrechen
Es dämmert schon ordentlich, als wir den Stadtpark erreichen. Die Sträucher und Bäume machen alles noch dusterer. Der ideale Ort zum Ehebrechen, im Dunkeln ist gut munkeln, man weiß es ja. Eine Frau erzählt davon, wie sie nach langen und mühevollen Ehejahren durch eine Jüngere ersetzt wurde. Eine sehr wohlbeleibte, rot gekleidete Frau auf einer Leopardendecke erzählt von großer Lust. Eine weitere Frau mimt die Edelnutte und schreitet telefonierend auf und ab. Und eine weitere Dame schmiegt sich an einen exotischen Gitarrenspieler und sehnt sich danach, seine Gitarre zu sein. Ein dunkelhäutiger Mann spricht mich an und ich kapiere nicht gleich, dass er Teil des Konzepts ist. „Do you speak English?“ Ich verneine erschrocken (und benutze dann doch eine Notlüge, bevor ich leise über mich selber lachen muss).
Treue bedeutet in erster Linie Treue zu sich selbst, oder was meinen Sie? Ich meine, dass die Treue zu sich selbst die Untreue zu seinem Liebsten ausschließt. Keine leichte Übung, aber eine wertvolle Entdeckung. Wir treten aus dem Garten der Lüste hinein ins kleinstädtische Leben.
Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Hab und Gut
Ein langes Haus, erleuchtete Fenster. Die lieben Nachbarn beneiden sich. Sie will auch eine Putzfrau. Die andere auch Schuhe. Möchten, haben wollen, meinen zu brauchen. Was man nicht hat, will man. Was man hat, schätzt man nicht. Was der andere hat, gönnt man ihm nicht. Was der andere hat, kann man bestimmt noch übertrumpfen. Die Szene ist unterhaltsam, komisch und wunderhübsch anzuschauen. Der Bach, das Haus, die gemütlich erleuchteten Fenster. Komödiantisch und doch lebensnah.
Du sollst den Namen des Herrn nicht achtlos aussprechen
Das ist das letzte Gebot, die letzte Station, zu der wir im Finstern tappen. Auf einen Schulhof, wo ein geschwungener, leerer Brunnen steht, gesäumt von Windlichtern. Hier sitzen Menschen aus verschiedensten Kulturen. Sie sprechen den Namen ihres Gottes aus, einer nach dem anderen. Immer wieder. So entsteht ein Klangteppich, der von Flüchen abgelöst wird. Das ist komisch und interessant zugleich. Sie sind unterschiedlich gekleidet, haben traditionelle Gewänder aus ihren Landen an. Sie verteilen sich, erzählen Persönliches und am Ende nennen sie ihre Götter noch einmal beim Namen.
Es ist die Liebe, die zählt
Am Theater angekommen, geht es in den Zuschauerraum. Hier treffen sich alle auf der Bühne, sprechen Zitate über Nächstenliebe, sind alle sichtlich fröhlich, spielen keine Rollen, sind sie selbst. Plötzlich bröselt mir meine Sitznachbarin Blumensamen in die Hand, so dass am Ende jeder den Keim der Nächstenliebe aufgehen lassen kann. Das ist alles ganz schön pathetisch, aber so mag ich es und es rührt mich sehr, die Ausgelassenheit auf der Bühne springt auf mich über. Vorne singen und tanzen alle, der Gitarrenspieler spielt ein Lied, die Punks schlagen ihre Stöcke zusammen, das Publikum wird animiert, mitzumachen und bleibt doch recht zurückhaltend. Uwe Lohr steht vorne und lächelt freudig und entspannt und hat sein Debüt gegeben am Theater an der Rott, das in einem Jahr „seins“ sein wird. Ein sehr sympathisches Debüt, das mich gespannt sein lässt auf alles, was da noch kommen wird an diesem Theater. Und ein Bürgerprojekt, das ebenso schön funktioniert hat wie „Weil i Di mog“ aus der vergangenen Saison – es hat ganz merkbar die Leute zusammengebracht.
„Die zehn Gebote“ waren nicht nur ein schöner Spaziergang durch die Stadt, sie haben mich staunen lassen, zum Nachdenken angeregt, waren so vielseitig inszeniert und haben doch so viele Fragen hinterlassen. Darüber muss ich noch reden mit dem, dem ich meine unmittelbarste Nächstenliebe schenke… Bis bald!
Ihr Fräulein Weiler