Jandelsbrunn. Ein Stück hinduistische Hochkultur lässt sich in Jandelsbrunn im Bayerischen Wald entdecken. Die Glaubensgemeinschaft ISKCON (International Society of Krishna Consciousness) erbaute hier, genau in der Mitte Europas, einen ihrer vielen Tempel. Aber wer sind eigentlich diese fremd aussehenden Menschen, die manchmal singend und musizierend durch die Passauer Altstadt tanzen?

Der Simhachalam-Tempel in Jandelsbrunn: Ein Ort der spirituellen Entfaltung und ein Stück indischer Kultur. Fotos: Paula Hartwig
Eine bunte Glastür öffnet sich, die Luft ist erfüllt vom Duft und zarten Rauch der unzähligen Räucherstäbchen und dem rhythmischen Klang kleiner Glöckchen. Dieser Raum reizt alle Sinne. Es fühlt sich an, wie eine andere Welt. Was von außen wie ein normaler Bauernhof erscheint, ist in Wahrheit eine Zuflucht, ein Ort der spirituellen Entfaltung und ein Stück indischer Kultur inmitten des erzkatholischen Bayerwalds. Auf einem hölzernen Schild sind die Worte „Welcome to Simhachalam“ eingeschnitzt und markieren den Eingang zum Tempel der Hare Krishna.
Weg vom Materialismus, hin zur Spiritualität
Gambhira heißt eigentlich Julia und ist seit vier Jahren Teil der Gemeinschaft. Auf den ersten Blick wirkt sie völlig normal, auf den zweiten fremd: Sie trägt mehrere Holzkettchen eng um den Hals, ein lilafarbenes Tuch ummantelt ihren Körper von den Schultern bis zur Hüfte – und ihre Stirn zieren zwei sandfarbene Linien. Sie sei schon immer gläubig gewesen, habe in anderen Religionen aber nicht die Antworten auf ihre Fragen bekommen. Da hat sie sich auf die Suche nach einer Religion gemacht, die ihr den Sinn des Lebens beantworten kann. „Ich habe ein YouTube-Video der Hare-Krishna-Bewegung gesehen und war überwältigt davon, wie viel Sinn ihre Antworten auf das Leben machen.“
Im eigenen Shop des Tempels besucht sie ihre Freundin Devaki, die auch hier lebt. „Wir importieren fast alles aus Indien“, erklärt sie. Gambhira kauft sich ein Kleid aus Leinenstoff mit kleinen, mystisch aussehenden Kühen darauf. Die Hare Krishna unterscheiden die materielle Welt von der Spirituellen. Aktuell befinde sich die Welt im Kali-Yuga, einem Zeitalter, in dem sich die Menschen von der Religion abwenden und der Materialismus die Kontrolle ihres Bewusstseins übernimmt, klärt Devaki auf. Die Devotees (Diener Gottes), so nennen sich die Menschen hier, entsagen sich materiellen Dingen und fokussieren sich darauf, ihre spirituelle Seele weiterzuentwickeln.
„Man kann durch dieses Verständnis Glück erfahren, weil man es in sich selbst findet und nicht in materiellen Dingen vergeblich sucht“, sagt Gambhira. „Klar freue ich mich, wenn ich mir ein Kleid kaufe, aber diese Freude geht vorüber. Meine Spiritualität und Seele aber habe ich für immer, sogar über meinen Tod hinaus.“
„Halb Mensch, halb Löwe“
Am nächsten Morgen klingelt der Wecker um 4 Uhr früh. Gambhira und die anderen Devotees stehen auf, bevor der erste Vogel sein Morgenlied zwitschert und die Sonne ihre ersten zaghaften Strahlen über den Horizont schickt, denn die Morgenstunden sind die wichtigsten des Tages.
Lange vor dem Frühstück treffen sie sich zum gemeinsamen Mangal Arati Kirtan im Tempelraum. Dieser ist um diese Uhrzeit nur schwach beleuchtet. Ein großer Kronenleuchter lässt lediglich den Altar hell erstrahlen, auf dem schmuckvoll eine mit vielen bunten Blumengirlanden behangene Erscheinungsform des Hindu-Gottes Krishna thront. „Sri Sri Prahlada Lakshmi Nrisimha ist halb Mensch, halb Löwe“, erklärt Gambhira das Aussehen der Figur.
Hier betet keiner still für sich. Die düstere Atmosphäre weicht den harmonischen Gesängen der Devotees, ihren Tänzen und dem Klang der zahlreichen Instrumente. Kirtan nennen sie dieses spirituelle Konzert, das ihrer tiefen Hingabe zu Krishna einen Ausdruck verleiht. „Krishna ist unser Gott, ihm widmen wir unser Leben, unseren Dienst. Gleichzeitig ist Krishna nur ein Name. Ob Gott, Allah oder Krishna – das ist egal.“
Meditation ist in der Lage, die Hirnstruktur zu verändern
In den frühen Morgenstunden haben die Devotees Zeit, sich ihrem wichtigsten Ritual hinzugeben: dem Chanten des Mahamantras, einer Art der Meditation. Dafür tragen sie eine Holzperlenkette in einem kleinen Beutel mit sich. Jede Perle steht für eine Wiederholung des Mantras, insgesamt hat sie 108 Perlen. 16 Mal sprechen sie alle Perlen der Kette durch. Gambhira und die anderen wiederholen die Wortreihenfolge, die Strophe, also 1.728 Mal. Manche sitzen wie versteinert im Schneidersitz auf dem Boden, nur ihre Lippen bewegen sich leicht. Andere laufen im Kreis durch den Raum, mal schneller, mal langsamer. Die Meditation soll die Seele reinigen und sie mit Krishna verbinden. „Ich werde bis zum Ende meines Lebens Chanten, dafür habe ich sogar ein Versprechen abgelegt“, sagt Gambhira feierlich.
Die Hirnforscherin Prof. Dr. Tania Singer erforscht die Auswirkungen von Meditation auf das menschliche Gehirn im Max-Planck-Institut in Leipzig – mit dem Ergebnis, dass sich die Gehirndichte von Probanden bereits nach acht Wochen intensiven Meditierens verändert: die Substanz der Amygdala – ein Bereich, der für Angst und Stress zuständig ist – bildet sich zurück, während Regionen, die für Selbstwahrnehmung und Mitgefühl ausschlaggebend sind, wachsen. Die Wirkung von Meditation sei allerdings nicht auf Religion oder Spiritualität zurückzuführen, sondern biologisch verankert, sagt Singer in einem Interview.
Einige Forscher glauben, dass das Chanten eine psychedelische Wirkung habe und eine moderne Methode der Gehirnwäsche sei. Zudem gerät die ISKCON in den 1980er Jahren in Kritik: Ihr wird Kindesmissbrauch, organisierte Kriminalität und soziale Isolierung ihrer Mitglieder vorgeworfen. Michael Utsch, deutscher Religionspsychologe, spricht sich allerdings, wie viele seiner Kollegen, für die Gemeinschaft aus: „Die Bewegung hat sich reformiert und wird nicht mehr als Sekte bezeichnet.“
„Viele denken, dass wir auf alles verzichten“
Um 7.15 Uhr liest der Priester Ramananda Gopal in der Bhagavad Gita, einer der zentralsten Schriften des Hinduismus. Im Halbkreis sitzen die anderen Devotees um ihn herum und lauschen erwartungsvoll seinen Worten. „Krishna bedeutet ‚all attractive‘; jeder, der ihn kennenlernt, wird einfach in seinen Bann gezogen. Krishna ist eine Person wie du und ich, keine abstrakte Energie, wie andere Religionen predigen. Er steht zu dir in Beziehung wie ein Tropfen Wasser zum Meer, ist also von derselben Qualität, aber nicht von derselben Quantität. Nicht alles, was existiert, ist Krishna – auch wenn es von ihm geschaffen wurde“, erklärt er seinen Schülern heute.
Zum Frühstück gibt es Porridge und Kartoffelbrei. Die Hare Krishna ernähren sich vegetarisch und nachhaltig. Das meiste, was auf dem Teller landet, wird selbst angebaut. Kein Fleisch zu essen sei tief in ihrem Glauben verwurzelt, denn auch Tiere besäßen eine individuelle Seele. Der Mensch habe kein Recht, diese zu seinem Vorteil auszulöschen. Nach dem gemeinsamen Essen widmet sich jeder seinem täglichen Dienst. Gambhira hilft heute in der Küche.
Devotees verzichten auf Geschlechtsverkehr vor der Ehe und zum Vergnügen, auf Alkohol, Drogen, Tabak, Kaffee, Glücksspiel und Fleisch. „Viele denken, dass wir auf alles verzichten, um uns Gott vollkommen hinzugeben. Dass es nur so funktioniert. Aber eigentlich lernen wir Gott, unser Umfeld und besonders uns selbst so lieben, dass wir nichts anderes wollen“, führt Bashar aus. Er lebt seit zweieinhalb Jahren im Tempel. Eigentlich findet gerade ein Kirtan statt, aber er sitzt draußen und genießt die sanfte Wärme der ersten frühlingshaften Sonnenstrahlen. Devotees sind zu nichts verpflichtet. Sie müssen nicht bei allem mitmachen. Während der Rituale im Tempelraum kommen und gehen sie, wann sie möchten. Sie sind frei.
„Es gibt Leute, die übertreiben es“, sagt er schmunzelnd, „eigentlich reicht es, Krishna lieb zu haben, sich selbst lieb zu haben und die Menschen um einen herum lieb zu haben.“ Bashars dunkelbraune Augen leuchten während er erzählt. Er wirkt glücklich, ausgeglichen – wie jemand, der tief im Inneren mit sich im Reinen ist. Wer kann das schon von sich behaupten? „Krishna schenkt uns die Welt und beschützt uns, wie eine Mutter ihr Kind. Es ist unsere Pflicht, ihm etwas dafür zurückzugeben, unseren Dienst, unsere Liebe.“
Ein Stück Heimat mitten im Bayerwald
Heute ist Samstag, ein bedeutsamer Tag der Woche. Jeden Samstagabend veranstaltet der Tempel eine Feuerzeremonie, die von vielen Inderinnen und Indern der Region besucht wird. Es ist ihr einziger spiritueller Ort in Europa, an dem Sri Sri Prahlada Lakshmi Nrisimha auf dem Altar anwesend ist. Das macht den Simhachalam-Tempel in Jandelsbrunn einzigartig. Es ist ein Stück Heimat, die sie hier im Bayerischen Wald erschaffen haben. Im Feuer opfern sie ihrem Gott Obst, im Glauben, er möge sie immer beschützen.
Nach dem Abendprogramm verabschiedet sich Gambhira. Sie geht nun schlafen, denn morgen früh um 4 Uhr klingelt ihr Wecker erneut und kündigt einen weiteren Tag im Dienste Krishnas an.
Paula Hartwig