Pünktlich zum Anpfiff erreicht mein Wohnzimmer die WM-Feeling adäquate Temperatur von 32 Grad. Vuvuzela, Pyrotechnik und meinen 17-Meter-Banner gegen Menschenrechte musste ich leider in der Küche abgegeben. Immerhin konnte ich ein Plakat unter der Bauchfalte in meinen Fußballtempel schmuggeln: „Hier könnte ihre Werbung stehen!“, prangt nun hinterm Fernseher. Da kommt Investorenstimmung auf. Und noch einen Trick habe ich auf Lager: Die Regenbogen-Binde stecke ich in die Unterhose – das schützt nicht nur vor gelbe Karten, sondern auch vor braunen Streifen. Ich nicke zufrieden und schlürfe an meinem alkoholfreien Bier, das ich zur Tarnung in eine Coca-Cola Dose umgefüllt habe.
Ja, soll man nicht schauen, weiß ich schon. Vor dem Fernseher sitze ich deshalb auch alleine. „Korrupt“ und „überhaupt ein Wahnsinn“ sei das, diese WM in Katar, haben meine Freunde* gesagt. Aber seitdem die oberste Fußballmoralinstanz im Lande, Karl-Heinz Rummenigge, Gegenteiliges behauptet hat, bin ich anderer Meinung. Gegenüber der Investigativ-Plattform Postillon konnte „Kalle“ nämlich argumentativ schlüssig darlegen, dass die Menschenrechtsfestspiele auf der arabischen Halbinsel einem höheren Zweck dienten:
„Wir nehmen die Millionen von Katar nur, damit die weniger Geld für Menschenrechtsverletzungen haben“, sagte Rummenigge in einem Exklusiv-Interview, dessen Tonbandaufnahme leider verloren ging . Und Uhrenkenner Kalle muss es wissen, der ist schließlich vom FC Bayern, dem Verein, der sich immer nur fürs Allgemeinwohl und nie fürs Geld interessier. Eine absolut selbstlose, kommerzkritische Hippie-Truppe, elendige Moralaposteln.
Pizza al Halāl, inklusive Ausbeutungs-Folklore
Zwar bleiben letzte Zweifel, aber im Zuge eines inneren, FIFA-gleichen Moral-Spagats gehe ich einen Kompromiss ein: Ich boykottiere nicht und schaue. Aber dabei halte ich mich vorschriftsgemäß an alle FIFA-Richtlinien. Natürlich bleibe ich dabei kritisch. Um das glaubhaft zu untermauern, schaue ich grimmig.
Bis dato läuft alles nach Plan. Meine Pizza al Halāl wird pünktlich geliefert. Das war auch das Mindeste – immerhin hatte ich tags zuvor ein paar Geldsäcke bei einer griechischen Ex-EU-Abgeordneten deponiert, die sich ihre Brötchen nach einer fehlinterpretierten Menschrechts-Promotion seit vergangener Woche als Pizzabäckerin verdient. Zum Preis von 600.000 Euro war auch etwas katarische Ausbeutungs-Folklore im Preis mit drin: Statt die 1,5 Kilometer Lieferstrecke auf direktem Weg zurückzulegen, nahm der Pizzabote aus Bangladesch mit seinem Dreigangrad die Route über Dreisessel und Rachel. Zugegebenermaßen wirkte der gute Mann im Anschluss etwas zerknirscht.
Um zu verhindern, dass mir der authentisch versklavte Pizzabote den Appetit verdirbt, versuche ich es diplomatisch, im Stile Christian Lindner’schen Wirtschafts-Voodoos: „Hör zu mein Freund (No homo!!), du magst zwar regelmäßig kollabieren, aber du musst das ökonomische Potenzial darin sehen. Wir haben hier die einmalige Chance, gemeinsam etwas aufzubauen, für Perspektiven zu sorgen, in dem wir für Wirtschaftswachstum sorgen und dabei Arbeitsplätze schaffen, lokale Strukturen stärken, Investoren anlocken und somit den Grundstein für Demokratie und Menschenrechte legen. Die Basis unseres Wohlstands ist der Mittelstand!“. Er kippt um. Ich hoffe, Amnesty hat nichts bemerkt…
Das Schöne daran: Der Pizza merkt man das gar nicht an. Die ist echt lecker. Feinsäuberlich sortiere ich die Zutaten, damit hier ja nichts nach Regenbogen aussieht. Jetzt, so kurz vor Anpfiff, nur nichts riskieren.
Vorfreude auf Oliver Kahn
Da ich die WM bis zum Endspiel wacker boykottiert habe, bin ich gespannt, gegen wen die Deutschen dieses Mal spielen. Meinem kritischen Geist entsprechend habe ich auch die letzten drei FIFA-Investitionsprojekte in Russland, Brasilien und Südafrika mit beiden Augen zielstrebig wegignoriert. Ich freue mich schon auf Oliver Kahn.
Da flitzt auch schon das Maskottchen aufs Spielfeld. Mein sodann bajuwarisch-patriotisch stimuliertes Gemüt gerät in Wallung: Das Maskottchen stammt aus Passau!! Die Österreichische Volkspartei, eine als christlich-konservative Partei getarnte Gangstertruppe mit dem Codenamen ÖVP, war so freundlich und stellte ihren in Südostbayern geborenen Klubobmann August Wöginger zur Verfügung. Weil im österreichischen Parlament ohnehin genügend grenzdebile, alte Männer vor sich hin welken und sich die türkis-schwarze Korruptionsbagage schon lange für nichts mehr zu schade ist, stolziert der Passauer seit vier Wochen als Maskottchen „Un-Gustl“ durch die Wüste. Laut Recherchen des topseriösen österreichischen Portals „Tagespresse“ hatte sich „Un-Gustl“ zuvor in einem parteiinternen Wettbewerb gegen „Hetero-Herby“ und „Peitschen-Peter“ durchgesetzt. Knapp, aber doch!
„WÜR SÜND DEUTSCHE HUUULIGÄÄNS!!
Der Anpfiff naht. Wie fühlt man sich nochmal mit vier Promille? „SCHLAAAAAND“ brülle ich, strecke beide Arme in die Luft und schlage die Handflächen nahezu rhythmisch aneinander. Irgendwie peinlich, denke ich, und versuche mich trotz der unwürdigen Stocknüchternheit mental in einen grad-noch-nicht-komatösen-Rauschzustand zu manövrieren. „WIR SIND KEINE FUßBALLFÄÄÄNS, WÜR SÜND DEUTSCHE HUUULIGÄÄNS!!“. Zu meiner äußersten Verwunderung drängt sich der Gedanke auf, dass derart hochliterarisches Oralejakulat nur besoffen cool klingt. Ich fange an zu randalieren.
22 Heterosexuelle rennen aufs Feld und im nächsten Moment konkurrieren drei Triebregungen in mir: Erstens, Enttäuschung, Deutschland spielt gar nicht im Finale. Zweitens, Holland auch nicht – HÖHÖ!! Drittens, Stolz, die deutsche Nationalmannschaft, dieser Hort kritischer Männlichkeit, hat sich offensichtlich für einen Boykott entschieden.
Trotzdem ist die Finalstimmung dann doch irgendwie dahin. Naja, denke ich, dann halt nächstes Mal. Das nordkoreanische Wetter liegt den Deutschen sicher besser…
Nur zum Teil ernstgemeint von: Johannes Greß
*Da es sich bei einer Fußball-WM um ein ausschließlich sportliches Ereignis handelt und das absolut gar nichts mit Politik zu tun hat, hat sich der Autor dazu entschlossen, auf derart politisch brisantes Material wie Gendersternchen zu verzichten. Ist hier von Männern die Rede, sind damit ausschließlich heterosexuelle Männer gemeint. Frauen sind nicht mitgemeint.