Passau. Seit fast zehn Jahren ist Prof. Dr. Matthias Keller in der Kinderklinik Dritter Orden in Passau nun beschäftigt. Der Ärztliche Direktor und Chefarzt gilt als weitum bekannter Experte für Kinder- und Jugendmedizin, ist mit seinem Team international bestens vernetzt und befindet im regelmäßigen Austausch mit Fachleuten auf der ganzen Welt. So auch in Sachen Corona-Impfungen bei Kindern und Jugendlichen.
Damals, im März 2020, als der Militär-Konvoi in Bergamo eingefahren ist, oder als es um die Entwicklung der Corona-Lage in Schweden ging, holten der 47-Jährige und seine Mitarbeiter sich Informationen aus erster Hand. In beiden Fällen hieß es sogleich: Die Kinderstationen in den Krankenhäusern sind nicht betroffen. „Das eine ist ja, was an öffentlichen Informationen zur Verfügung steht. Das andere – und das darf man nicht unterschätzen – ist das, was die Fachleute weltweit untereinander austauschen“, sagt Dr. Keller im Gespräch mit dem Onlinemagazin da Hog’n. „Und bevor man eine Studie bewertet, hat man sich bereits immer mit den internationalen Fachgesellschaften besprochen. Wir rufen die Fachgesellschaften etwa in Großbritannien an und fragen, wie es dort in der Realität aussieht. Eine Studie benötigt ja immer auch seine Zeit, bis diese dann veröffentlich wird.“
Im folgenden Interview spricht der Mediziner über Corona-Impfungen bei Buben und Mädchen, über die Verantwortung der Ständigen Impfkommission (STIKO), das Infektionsgeschehen an den Schulen und darüber, warum er eine generelle Impflicht bei Kindern als nicht sinnvoll erachtet. Eine seiner Kernaussagen dabei: „Ein Hauptgrund dafür, sich impfen zu lassen, ist das Vertrauen in denjenigen, der es empfiehlt. Und das ist wichtig. Wenn die STIKO etwas empfiehlt, hat das auch Hand und Fuß.“
„Ich habe meine Kinder bereits impfen lassen“
Herr Dr. Keller: Würden Sie Ihre eigenen Kinder bedenkenlos impfen lassen?
Ja, weil die Sicherheitsdaten dergestalt sind, dass man davon ausgehen kann, dass das Risiko in punkto unerwünschter Nebenwirkungen bzw. Langzeitfolgen sehr gering ist. Ich habe sie auch bereits impfen lassen – einfach deshalb, weil ich aufgrund meiner überstandenen Leukämie-Erkrankung zu den Risikopersonen gehöre und daher besonders infektanfällig bin. Sie sind acht, zehn und zwölf Jahre alt.
Betrachten Sie bei dem bekannt milderen Corona-Verlauf eine Impfung nicht als einen zu großen Eingriff in das Immunsystem von jungen Menschen?
Hinsichtlich des Eingriffs in das Immunsystem habe ich keine Bedenken. Impfungen haben einen mittelbaren Nutzen, sie führen daher keinesfalls zu einer Schwächung des Immunsystems.
Welche Impfstoffe erachten Sie als geeignet? Oder gibt es bei den Impfstoffen generell keinerlei Unterschiede, wenn es um die Impfung von Kindern geht?
Grundsätzlich sollte man immer nur Impfstoffe verwenden, die zugelassen, geprüft und somit sicher sind. Dies gilt in Sachen Corona-Impfung bei Kindern bislang ausschließlich für den Biontech-Impfstoff von Pfizer.
Gehen Sie davon aus, dass das Immunsystem bei Kindern effektiver reagiert als bei Älteren? Sprich: Hält der Impfschutz bei Kindern eventuell länger an? Und: Macht es aus daher Sinn, die Jüngeren quasi vorbeugend zu impfen, auch wenn ihr Erkrankungsrisiko geringer ist?
Das ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Hier haben wir das Problem, dass es dazu noch keine Erkenntnisse gibt. Der Schlüssel ist das Wissen, dass Kinder grundsätzlich nicht schwer erkranken. Das ist aus meiner Sicht die wichtigste Botschaft.
Welche Gefahren sehen Sie für Kinder seitens der Omikron-Variante? Erachten Sie diese Varianten als gefährlicher als die bisherigen?
Ich habe hierzu Informationen aus Großbritannien und Südafrika. Es scheint so zu sein, dass die Omikron-Variante bei Kindern einen ähnlichen Verlauf hat wie die Delta-Variante. Ich habe keine Kenntnisse, dass es sich um einen schweren Krankheitsverlauf handelt – was zunächst ja beruhigend ist. Wenn Kinder tatsächlich bei dieser Variante schwer erkranken würden, wäre diese Erkenntnis mit Sicherheit bereits evident.
„Die STIKO mischt sich auch nicht in Lehrpläne der Schule ein“
Wissen Sie, welche Daten die STIKO für eine Beurteilung verwendet? Sind dies eigene Studien? Daten aus dem Ausland? In den USA werden Kinder ja schon seit November geimpft.
Die STIKO macht keine eigenen Studien. Sie prüft einerseits diejenigen Studien, die notwendig sind für den Bereich der Zulassung. Andererseits prüft sie auch alle weiteren zur Verfügung stehenden Daten – etwa Registerdaten – hinsichtlich der Frage des Nutzens der Impfung, deren möglicher Nebenwirkungen und Impfschäden. Man schaut sich also alle Daten an, die verfügbar sind, bewertet sie dann – auch bezüglich der Frage, ob sie auf Deutschland übertragbar sind – und kommt dann zu einer Empfehlung oder eben auch nicht. Dies geschieht immer nach dem aktuell bestem Wissen und Gewissen.
Bei den Empfehlungen der STIKO hatte man häufig den Eindruck, als hinke sie dem Willen der Politik zeitlich etwas hinterher – weshalb man ebenfalls den Eindruck gewinnen konnte, dass die Politik im Gegenzug latenten Druck auf die STIKO ausgeübt hatte, um eine zeitnahe Empfehlung auszusprechen. Wie haben Sie das empfunden?
Das ist ein Spannungsfeld, eindeutig. Ich denke, dass wir in der Öffentlichkeit und auch bei gewissen Meinungsbildnern eine Unschärfe in der Betrachtung haben. Die STIKO hat den Auftrag zu bewerten, ob eine Impfung insbesondere für den individuellen Gesundheitsschutz sinnvoll ist oder nicht. Sie geht dabei nach medizinisch-ethischen Prinzipien vor, wobei das oberste Prinzip lautet: Schädige nicht! Wir müssen sicher sein, dass der Impfstoff sicher und der Nutzen der Impfung für das jeweilige Kind größer ist als das Risiko.
Wir müssen ja auch Organisationen wie der STIKO vertrauen können. Wenn man heute einen BMW kauft, dann entscheidet man sich dafür, weil BMW über Jahrzehnte hinweg eine Marke aufgebaut hat, die ihren Kunden Sicherheit vermittelt. Das heißt: BMW prüft stetig, wie sicher das Auto ist. Das ist vergleichsweise die Aufgabe der STIKO.
Die Politik hingegen befindet sich derzeit in der Situation, dass sie eine Pandemie zu bekämpfen hat. Sie hat sich mit vielen Einflüssen von außen auseinander zu setzen, wie beispielsweise den Lehrerverbandsvertretern. Diese sagen etwa, dass sie nur mit geimpften Kindern arbeiten möchten. Das ist aber keine Frage, die jetzt auf den Gesundheitsschutz des Kindes abzielt. Da geht’s um den Schutz der Lehrer. Doch es ist nicht die Aufgabe der STIKO diese Frage zu beantworten. Und das bringt die Konflikte. Wenn die STIKO etwas empfiehlt, was nicht sicher ist, dann verwirkt sie die Glaubwürdigkeit für alle anderen Schutzimpfungen. Und das ist das große Risiko, das entsteht, wenn die Politik auf die STIKO einzuwirken versucht. Es gibt ja auch noch andere Erkrankungen außer Corona.
Ich verstehe aber auch die Politik, weil sie ganz viele Einflussfaktoren hat, viele Stimmen, die die Kinder-Impfung fordern. Aber da muss man so ehrlich sein und sagen, warum man diese Kinder-Impfung haben will. Doch das wird häufig nicht offen kommuniziert. Denn es ist absurd, wenn ein Lehrerverbandsvertreter eine Impfempfehlung bei Kindern ausspricht. Der kann sagen: Ich wünsche mir eine Impfung bei Kindern, damit meine Lehrer geschützt werden. Aber es ist nicht seine Kompetenz zu sagen: Ich empfehle die Kinder-Impfung aus Gründen des Gesundheitsschutzes für die Kinder. Die Mediziner der STIKO mischen sich auch nicht in Lehrpläne und pädagogische Konzepte der Schule ein – weil sie’s nicht können. Es ist wichtig zu verstehen, was die Aufgaben der unterschiedlichen Institutionen sind.
„Eine Impfung ruft keine sterile Immunität hervor“
Gehen Sie davon aus, dass jedes Kind sich innerhalb dieses Winters irgendwann infizieren wird?
Davon gehe ich nicht aus. Allein aus mathematischen Gründen. Wir testen die Kinder in den Schulen momentan sehr viel. In Niederbayern hatten wir Inzidenzen von über 1.000, jetzt sind wir wieder im 300er-Bereich angelangt. Bei den Kindern sind es Werte zwischen 500 und 700. Das heißt konkret: 0,7 Prozent der Kinder sind positiv. Vereinfacht gerechnet: Wir bräuchten 100 Wochen, bis alle Kinder durchinfiziert wären, wenn diese Rate aufrecht erhalten werden würde. Sprich: zwei Jahre.
Denken Sie, dass die Impfung bei Kindern das Infektionsgeschehen in den Schulen effektiv senken könnte?
Das ist nicht einfach zu beantworten. Die große Schwierigkeit ist, dass diese Impfung ja keine sterile Immunität hervorruft. Diese Vorstellung, sich impfen zu lassen und dann das Virus nicht mehr bekommen zu können, ist nicht korrekt. Eine Impfung hat immer das Ziel, dass man weniger krank wird. Das heißt, dass auch geimpfte Personen das Virus haben können. Insofern liegt die Schwierigkeit beim Begriff des Infektionsgeschehens. Durch die Impfung ist die Übertragungsrate des Virus insgesamt geringer. Das bedeutet also, dass die Impfung sicherlich einen Effekt auf das Infektionsgeschehen bei Kindern hat.
In Großbritannien gab es vor Kurzem eine Analyse, bei der untersucht wurde, wie viele Personen geimpft werden müssten, um einen Krankenhausaufenthalt zu vermeiden. Das Ergebnis: 300 Erwachsene und 24.000 Kinder. Man muss also 24.000 Kinder impfen, um einen Krankenhausaufenthalt eines Erwachsenen zu verhindern – während man nur 300 Erwachsene impfen muss, um dasselbe zu erreichen. Wenn man also Erwachsene vor einer Infektion schützen und deren Krankenhausaufenthalt vermeiden möchte, ist die Effektgröße bei der Impfung von Erwachsenen viel größer als bei der Impfung eines Kindes.
Wir unterscheiden ja mehrere Gründe, warum man Kinder impfen kann bzw. sollte. Da ist zum einen der individuelle Gesundheitsschutz, vor allem bei chronisch kranken Kindern. Zweitens: Der Nestschutz, um Angehörige, die infektionsgefährdet sind, zu schützen. Drittens: Es gibt sehr viel Verunsicherung darüber, wie schwer Kinder erkranken können – weshalb sie auch in ihrer sozialen Teilhabe eingeschränkt werden. Daher kann auch die Impfung notwendig werden, um die soziale Teilhabe weiter zu gewährleisten. Der letzte Grund ist der Beitrag zur Pandemie-Bekämpfung, der sicherlich gegeben ist, wenn man alle Kinder impfen lassen würde – der von der Effektgröße her jedoch deutlich geringer ist als bei den Erwachsenen.
„Wir sollten hier generell nicht polarisieren“
Stichwort: Eltern. Stehen diese Ihrer Erfahrung nach dem Impfangebot für Kinder bislang eher skeptisch gegenüber oder eher befürwortend?
Wir haben jüngst die Impf-Hotline gestartet – und natürlich rufen hier in erster Linie diejenigen Eltern an, die ihre Kinder gerne impfen lassen möchten. Die aus meiner Sicht wichtige Botschaft lautet aber: Wenn die STIKO mitteilt, dass man etwa aufgrund von Sorgen um die soziale Teilhabe auch das gesunde Kind impfen lassen könne, dann darf man sehr wohl davon ausgehen, dass der Impfstoff sicher ist. Letztlich ist die Realisierung aber immer eine Abwägung der Eltern, wie bei anderen Impfungen auch.
Ich denke, dass wir hier generell nicht polarisieren sollten. Und dass denjenigen Eltern – sei es aus Selbstschutzgründen oder aus Sorge ums Kind – das Recht zusteht, ihr Kind impfen zu lassen. Umgekehrt sollten auch diejenigen Eltern akzeptiert und toleriert werden, die zwar sich selbst haben impfen lassen, bei ihren Kindern aber aus Gründen der Vorsicht diesen Schritt noch nicht umsetzen möchten.
Beide Positionen haben ihre Berechtigung. Es ist wichtig zu unterstreichen, dass nicht alle einer Meinung sein müssen bei bestimmten Themen, sondern dass es darum geht die Meinung des anderen zu akzeptieren. Kinder sind etwas Besonderes. Da macht sich jedes Elternteil seine Gedanken und Sorgen. Dementsprechend sollte man diese auch ernst nehmen.
Würden Sie eine generelle Impfpflicht für Kinder befürworten?
Auf keinen Fall. Man muss sich bei einer generellen Impfpflicht fragen: Was ist die Zielgröße, was will man erreichen? Ich denke, dass wir gut daran tun zunächst einmal da anzusetzen, wo unser Problem liegt. Unser Problem sind volle Intensivstationen, in denen Erwachsene liegen, die entweder nicht geimpft oder nicht ausreichend geboostert sind. Und hier sollten wir zunächst ansetzen und die Leute davon überzeugen, dass sie sich impfen lassen. Wenn sie nicht zu überzeugen sind, macht eine Impfpflicht Sinn.
Jetzt diese mangelnde Durchdringung bei Erwachsenen dadurch kompensieren zu wollen, indem man die Kinder verpflichtend impft – das würde unseren sozialen Frieden und unser Miteinander noch mehr gefährden. Kinder sind etwas Besonderes – und als Elternteil tut man sich schwer so etwas zu akzeptieren. Wir haben so viele Spannungsfelder in unserer Zeit. Da sollten wir da ansetzen, wo wir die größte Wirkung erzielen können.
Große Hoffnung „Hybrid-Immunität“
Abschließend: Wie wird sich Ihrer Meinung nach die Corona-Lage im kommenden Jahr 2022 entwickeln?
Wir müssen Wege und Mittel finden mit dem Virus zu leben. Es wird immer wieder eine jahreszeitliche Häufung geben, da das Virus saisonal bedingt zu sein scheint. Wir brauchen Mittel und Wege im Umgang mit diesem Virus – sei’s, dass wir notwendigerweise angepasste Impfstoffe haben oder dass wir bestimmte Teststrategien fahren.
Es gibt die noch nicht geprüfte Idee einer Hybrid-Immunität. Dabei trifft das Virus auf geimpfte Personen und man wird auf diese Weise hybrid-immun. Das heißt: Immunität einerseits durch die Impfung und andererseits durch das natürliche Virus. Man vermutet, dass dies besser wirkt wie die bloße Impfung. Doch da sind die Daten noch vorläufig, doch es wäre meine Hoffnung, dass sich dies in naher Zukunft bestätigt. Denn dann könnten wir alle beruhigter sein.
Interview: Stephan Hörhammer