Passau. Wenn Ralf Grunow mit seinem Fahrrad in den Straßen Passaus unterwegs ist, erkennen ihn die meisten schon von Weitem. Der 48-Jährige ist für sie kein Unbekannter mehr. Immer wieder mal kreuzt der Mann mit der blonden Lockenmähne ihren Weg. Denn genau das ist der Job des studierten Sozialpädagogen und Streetworkers. Sich die Probleme und Sorgen derjenigen anzuhören, die von den gängigen Hilfseinrichtungen nicht mehr erreicht werden. Und sie im Bedarfsfall zu beraten und zu unterstützen.
Gemeinsam mit seiner Kollegin Nicole Waschinger (37) versucht der Sozialarbeiter mittels Streetwork vor allem einen Zugang zu denjenigen Jugendlichen zu bekommen, die ihr Dasein im Abseits der Gesellschaft fristen. Heranwachsende, die abgeschrieben wurden, die keinen Halt mehr finden und auf die schiefe Bahn gelangt sind. Sie wollen ihnen Hilfestellung geben, damit sie wieder Struktur in ihr Leben bringen können. Ein Gespräch über Problembewältigung, Hemmschwellen und Kontaktanbahnungen.
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Via Facebook haben Sie vor einiger Zeit einen Post veröffentlicht, in dem Sie sich vorstellen und Menschen Ihre Hilfe anbieten. An wen genau richtet sich Ihr Angebot?
Nicole und ich richten unser Streetwork-Angebot im Auftrag der Stadt Passau ganz allgemein an junge Menschen bis 27 Jahre und in Einzelfällen darüber hinaus, wenn wir jeweils unser eigenes Stadtgebiet erkunden. Gezielt richten wir uns an junge Menschen in schwierigen Lebenslagen, d.h. ohne Tagesstruktur, Job, Ausbildung, ggfs. mit psychischen Auffälligkeiten oder Suchtproblemen. Diese Menschen sind meist von sogenannter sozialer Benachteiligung betroffen und haben einen schwierigeren Start ins Leben. Das Ziel ist, sie in die Gesellschaft hinein zu bringen, was aber jeweils von ihrer persönlichen Lebenslage und ihren eigenen Wünschen und Möglichkeiten abhängig ist.
Konstruktiv mit Bewältigungsstrategien unterstützen
Diese können graduell ganz unterschiedlich sein: Bei manchen genügt es z. B. eine Ausbildung oder einen Job zu finden. Andere sind betroffen von Obdachlosigkeit, fehlenden Dokumenten wie Personalausweis, haben keinerlei Geldmittel oder Krankenversicherung. Viele sind geplagt von Überschuldung und ziehen sich aufgrund der Schuldgefühle zurück, trauen sich nicht, Hilfe zu holen, was die Sache aber eher verschlechtert. Deswegen ermutigen wir sie zur Problembewältigung und begleiten oder vermitteln den Betroffenen auch zu Fachstellen, wie z. B. zur Schuldnerberatung der Diakonie Passau, oder erledigen gemeinsam mit ihnen erforderliche Behördengänge.
All diese Probleme können bei einigen irgendwann zum Rückzug führen, in Kreise die ihren Selbstwert stärken. Denn wer Probleme mit Behörden, Polizei und Gerichten wegen Delinquenz hat, weicht diesen Konsequenzen gern aus. Aber auch hierbei werden sie von uns konstruktiv mit Bewältigungsstrategien unterstützt. Die meisten wollen von selbst irgendwann raus aus dieser Situation, müssen aber erst noch Geduld und Kompetenzen entwickeln, die ihnen dies ermöglichen. Ich bezeichne diese jungen Menschen ganz allgemein, aber in optimistischer Weise als ‚Spätentwickler‘ – und für sie sind wir da!
Ganz wichtig ist die Freiwilligkeit der jungen Menschen. Denn wir zwingen niemanden etwas auf und lösen auch nicht all ihre Probleme. Vielmehr versuchen wir ihre Selbstkompetenz zu stärken, indem wir sie ermutigen, Dinge selber zu lösen, damit sie sich selbst Erfolge erarbeiten. Dieser persönlich erlebte Erfolg kann wie ein positiver Verstärker wirken, der wiederum das eigene Selbstbild positiv beeinflusst. Dies alles gelingt umso besser, wenn man eine vertrauensvolle Basis zueinander auf Augenhöhe entwickelt – und gilt sowohl für Einzelpersonen als auch für Gruppen.
„Ich dränge mich nicht auf“
Sie beschreiben, dass Sie viel mit dem Fahrrad unterwegs sind. Sprechen Sie auch von sich aus Menschen an?
Ganz genau! Wir Streetworker sollen junge Menschen tagsüber und auch abends im öffentlichen Raum ein Kontaktangebot machen – und falls es möglich ist, über diesen lockeren Weg Beziehungen aufbauen, ob zu einzelnen Personen oder zu Cliquen. Mein Bike ist für mich das perfekte Fortbewegungsmittel dafür, denn so bin ich am flexibelsten. Und da wir auch präventive Angebote machen sollen, organisiere ich u.a. Dirtbike-Kurse und Straßenfußball. Einmal jährlich kann ich außerdem mit einer Gruppe zum Bikepark am Geißkopf fahren oder zur Skatehalle Lissfeld in Linz. Darunter sind dann auch Leute, die sich das sonst nie leisten könnten.
Wie reagieren die Angesprochenen, wenn Sie auf sie zugehen?
Mal so, mal so. Je nach Gruppe und je nach Situation. Wir durchstreifen jeweils einzeln unsere Stadtgebiete. Bei Gruppen ist es am besten, wenn mich bereits jemand kennt, was oft der Fall ist. Aber das Entscheidende dabei ist, dass ich darauf Rücksicht nehme, was gerade geschieht und dass ich mich sozusagen nicht aufdränge. Denn auf der Straße läuft es anders: Auf der Straße bin ich der Gast bei den jungen Leuten und verhalte mich dementsprechend.
Es kommt auch schon vor, dass ich ignoriert werde, weil mein Erscheinen gerade unpassend ist, weil etwas anderes gerade die Aufmerksamkeit der jungen Leute beansprucht. Mit so was muss man rechnen. Anders herum kann es aber auch sein, dass man gerade zum richtigen Zeitpunkt erscheint, weil sich jemand dringend Unterstützung wünscht, z. B. wegen Jobsuche oder Bürokratie-Problemen. Und so etwas spricht sich herum und ist die beste Werbung für Streetwork.
„Wir scheitern uns voran“
Wie genau kamen Sie zu dem Beruf des Streetworkers? Was treibt Sie an?
Eher durch Zufall. Ein Bekannter sagte mir 2013, diese Stelle sei frei. Damals war ich im Begriff von Regensburg nach Passau zurück zu ziehen und habe gleichzeitig an drei Mittelschulen in Passau und Umgebung gearbeitet. Ich bin seit mehr als 20 Jahren im Übergangsbereich von der Schule zum Beruf tätig – ob an diversen Schulen, als Seminarleitung des Freiwilligen Sozialen Jahres, in Jugendzentren oder im Bereich Erlebnispädagogik und Jugendhilfe. Ich habe zudem viel Erfahrung in der Arbeit mit behinderten und psychisch kranken Menschen. Meine zweite Seele in der Brust ist jedoch der Musiker in mir. Ich bin ein freiheitsliebender Mensch, kann mich gut allein beschäftigen.
Was mich antreibt, ist es Lernerfahrungen zu machen: Über mich und meine Aufgabe, über die Welt und ihre Zusammenhänge. Aber auch andere dazu zu ermutigen eigene Wege zu gehen, um im Laufe des Lebens immer mehr Autonomie und Tiefe zu entwickeln. Deswegen zielen meine Unterstützungen bzgl. meines Klientels oftmals in Richtung Autonomie und Selbstkompetenzen – aber nur, wenn dies angebracht ist.
Rückschläge kommen selbstverständlich immer wieder mal vor, etwa wenn jemand zu einem wichtigen Termin nicht kommt. Man braucht wirklich einen langen Atem in der Streetwork – ein Kölner Kollege sagte einmal ganz lakonisch bezüglich seines Klientels: „Wir scheitern uns voran“.
Mit Ihrem Post haben Sie unter Umständen Menschen erreicht, die bisher nichts von den Passauer Streetworkern wussten. Denken Sie, dass die Hemmschwelle durch die sog. Sozialen Medien sinkt?
Ich hoffe doch! Die meisten Jugendlichen haben heutzutage Zugang zum Internet – und digitale Kontakt- und Hilfsangebote gibt es nicht zu wenig. Soweit ich mitbekomme, werden sie in den Schulen darauf getrimmt, sich Hilfe zu holen, wenn es mal brennt. Und wenn sie selbst nicht um Unterstützung bitten, ist es irgendwann meist eine Person aus dem näheren Umfeld, also Freunde oder Verwandte.
Weitaus schwieriger ist die Erreichbarkeit bezüglich der jungen Menschen, die keinen Zugang zum Internet haben oder kein Smartphone oder Handy besitzen. Also für Personen, die allgemein mit Ausstattungsproblemen kämpfen, d.h. keine Wohnung, kein Handy oder PC und auch kein helfendes Umfeld haben. Deswegen ist unsere aufsuchende Jugendarbeit in der Stadt wichtig. Ebenso, dass wir gut vernetzt sind. Denn dann können uns ggfs. Kontaktstellen wie die Bahnhofsmission oder die Caritas auf die Person aufmerksam machen, wenn sie dies möchte.
Social Media statt Telefonseelsorge
Können Facebook, Chats und Co. den persönlichen Kontakt ersetzen?
Ich bin mir da nicht sicher. Die Sozialen Medien bieten eine zusätzliche Möglichkeit der sozialen Kontakte – auch für uns Streetworker. Zwar gibt es seit vielen Jahrzehnten das Erfolgsmodell der Telefonseelsorge, diese wird aber vermutlich eher von älteren Personen genutzt, weil sie damit aufgewachsen sind. Bei Jugendlichen geht der Trend eindeutig in Richtung Soziale Medien, wenn es um deren Alltagssituationen geht oder um Unterhaltung und Informationsaustausch.
In der praktischen Arbeit nutze ich den Mail-Verkehr oder Social Media ähnlich wie ein Telefon: als Medium zur Kontaktanbahnung und um zu erfahren, um welches Thema oder Problem es zunächst geht. Die intensive Beratung zur Thematik folgt dann in einem persönlichen Gespräch von Angesicht zu Angesicht, derzeit natürlich unter Berücksichtigung der coronabedingten Regelungen. Denn mir persönlich fällt es viel leichter, wenn ich in direkter, sozialer Interaktion mit der Person stehe.
Die Komplexität der Fälle bringt es oftmals mit sich, dass man sich schnell einen Überblick verschaffen muss. Das kann bedeuten, dass ich schnell diverse Papiere von Behörden, Vermietern oder Arbeitgebern durchlesen muss, bei denen oftmals zeitliche Fristen entscheidend sind usw. Über das Internet ginge das zwar alles auch, aber die Schrift auf dem Bildschirm ist oft unleserlich oder zu klein, die Klienten verstehen die Behördensprache nicht oder es gibt sonstige Hindernisse.
die Fragen stellte: Malin Schmidt-Ott
Im zweiten Teil unseres Interviews mit Ralf Grunow geht es unter anderem um die Frage, wie sich die Corona-Beschränkungen auf seine Arbeit auswirken, wie gut oder schlecht es ihm gelingt, sich von persönlichen Einzelschicksalen abzugrenzen und was er sich für die Zukunft seiner Arbeit wünscht.