Freitag, 10. April: Warum wühlt es mich eigentlich so gut wie gar nicht auf, dass der Staat momentan eine Reihe meiner Grundrechte einschränkt? Warum halte ich es für notwendig und richtig? Schließlich haben die Generationen vor uns erbittert um die Freiheitsrechte gekämpft, die in diesen Tagen von heute auf morgen und ohne große Proteste beschnitten werden. Fragen, über die sich Hog’n-Autorin Sabine Simon durchaus Gedanken macht, wie sie im folgenden Text schildert.
So einiges, was derzeit geschieht, könnte aus einem Science-Fiction-Film stammen: der große Shutdown, weltweit abstürzende Börsen-Indizes, die Bilder von in Kühllastern gelagerten Leichen und überfüllten Intensivstationen, in denen Menschen ums Überleben kämpfen. Wenn mir vor einem halben Jahr jemand erzählt hätte, dass all das möglich ist – und vor allem: dass die große Mehrheit der Deutschen eine Einschränkung ihrer Grundrechte ohne jegliche Proteste hinnimmt -, ich hätte ihn wahrscheinlich ausgelacht.
Wir schützen das wichtigste Menschenrecht: das Recht auf Leben
Warum halte ich die Maßnahmen gegen das Coronavirus jetzt trotzdem für richtig, obwohl dadurch Grundrechte wie Freizügigkeit oder Versammlungsfreiheit massiv eingeschränkt werden? Der wichtigste Grund dafür ist, dass ich mir sicher bin, dass durch die Einschränkung der Grundrechte das allerwichtigste Menschenrecht geschützt wird: das Recht auf Leben.
Deshalb sieht auch Peter Dabrock, der Chef des deutschen Ethikrates, die derzeitigen Ausgangsbeschränkungen weniger als Freiheitseinschränkung, sondern als Akt der Solidarität mit Alten und Kranken. Der Ethikrat schreibt in seiner aktuellen Beurteilung der Corona-Krise aber auch, dass man dem Recht auf Leben andere Grundrechte nicht auf unbestimmte Zeit bedingungslos unterordnen dürfe. Wichtig hält das Gremium eine gesellschaftliche Diskussion über die Voraussetzungen, wann und wie wir wieder zum Normalzustand zurückkehren können.
Auch rechtlich sieht es ähnlich aus: Die Maßnahmen gegen das Virus müssen zu jeder Zeit verhältnismäßig sein. Das schreibt das sog. Infektionsschutzgesetz vor. Dieses Gesetz erlaubt weitreichende Einschnitte in unseren Alltag und unsere Grundrechte. Aber eben immer nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Dass die Maßnahmen unausweichlich sind, um Leben zu retten, muss jederzeit nachgewiesen werden. Eine aktuelle Zahl belegt, dass die Bevölkerung daran auch so gut wie keinen Zweifel hat: 93 Prozent halten die Maßnahmen Umfragen zufolge derzeit für angemessen.
Sollte diese Zahl deutlich abnehmen und der Rückhalt der Gesellschaft schwinden, kann man daraus schlussfolgern, dass die Maßnahmen eventuell nicht mehr verhältnismäßig sind. Natürlich darf und soll diese Verhältnismäßigkeit jederzeit thematisiert und diskutiert werden – so, wie es der Ethikrat empfiehlt.
Dabei halte ich die sozialen Medien für eine ungeeignete Plattform – denn bei Weitem nicht jeder, der dort kommentiert, ist sich der Reichweite und Auswirkungen seiner Äußerungen bewusst. Doch auch die Medienmacher müssen ein Feingespür dafür entwickeln, Maßnahmen zwar kritisch zu betrachten, sie aber nur mit sehr triftigen Gründen in Frage zu stellen. Weil bei den Maßnahmen nun mal gilt: Wenn nicht alle mitmachen, greifen sie nicht.
Führt uns eine höhere Macht vor Augen: Wir sind zu weit gegangen?
Der zweite Grund, warum ich derzeit nicht auf die Idee käme, mich über eingeschränkte Grundrechte zu beschweren, sind die zahlreichen positiven Auswirkungen, die die Einschränkungen meier Meinung nach für die gesamte Gesellschaft mit sich bringen. Ein Gedanke spukt dabei immer wieder in meinem Kopf herum: Gibt es eine höhere Macht, die uns vor Augen führen will, dass wir mit unserer allumfassenden Freiheit einfach zu weit gegangen sind?
Und dafür gibt es nicht wenige Beispiele. Das erste, das ins Auge sticht: Plötzlich sind wir dazu gezwungen, unsere Umwelt wochenlang zu schützen. Wir fahren weniger Auto, weil wir dies nur noch aus einem triftigen Grund machen dürfen. Wir fliegen nicht mehr um die ganze Welt. Wir überlegen uns, welcher Einkauf wirklich nötig ist – und sind all den Konsumverlockungen nicht mehr permanent und überall ausgesetzt. Die Krise wirkt auf mich wie eine von einer höheren Macht verordnete Besinnung auf die Frage: Was ist wirklich wichtig? Vor Corona habe ich mir all das so oft vorgenommen – und es nie durchgezogen.
Dann sind da die Mechanismen unserer freien und grenzenlosen Weltwirtschaft: Vor Corona waren Betriebe hoch angesehen, die etwa – als ein Beispiel von vielen – Luxus-Bettwaren an Hotels in Dubai verkauften. In der Krise erhalten diese Betriebe nun vor allem Lob dafür, wenn sie ihre Produktion von heute auf morgen umstellen und Bettwaren für Krankenhäuser herstellen können.
Wir sehen (und erkennen bestenfalls) durch den Ausnahmezustand all die Abhängigkeiten, in die wir uns begeben haben, weil Medikamente beispielsweise in Indien oder China günstiger produziert werden können. Plötzlich sind dringend benötigte Dinge wie Mundschutzmasken Mangelware…
Freiheitsrechte wieder schätzen lernen
Die Krise führt uns nun deutlich vor Augen, wie frei wir vor der Krise leben konnten. Die meisten von uns haben keine Dankbarkeit mehr dafür empfunden, derart viele Grundrechte zu genießen. Freiheit war für sie etwas ganz Selbstverständliches – und wurde deshalb nicht mehr wertgeschätzt. Die Zeiten, in denen es anders war, kennen viele von uns nur noch aus den Erzählungen ihrer Großeltern. Und selbst beim Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs war auch ich noch ein Kind. Dass wir jetzt wieder an einer geschlossenen Grenze leben, ruft uns wieder ins Gedächtnis, dass Reisefreiheit nicht immer selbstverständlich war.
Die „höhere Macht“ hat uns meiner Meinung also dazu verdonnert, all diese Grundrechte wieder mehr Wert zu schätzen, wenn wir sie hoffentlich bald wieder in Anspruch nehmen dürfen. Und ich bin mir sicher: All diejenigen, die gemeinsam über die Dauer des Notstandes entscheiden, sehnen sich ebenso sehr nach einem Ende der Ausgangsbeschränkungen. Aber eben nicht um jeden Preis. Nicht um den Preis des Menschenrechts auf Leben.
Sabine Simon