Waldkirchen. Ich stöbere in alten Fotoalben. Irgendwo zwischen Urlaubsaufnahmen und Geburtstagserinnerungen finde ich es: Das Klassenbild aus der ersten Klasse. Es ist jetzt tatsächlich schon dreißig Jahre her. 29 Erstklässler waren wir damals in der 1c der Grundschule Waldkirchen. Unter dem Foto liegt ein weiteres Erinnerungsstück: Ein Freunde-Album. Einige meiner Mitschülerinnen fanden Nicki und David Hasselhoff damals gut. Der Lieblingssong einiger Mädchen hieß „Meilawisotengo“ , bekannt aus der Tanz-TV-Serie „Anna“ . Englisch konnten wir noch nicht. Was sie alle wohl heute so hören? Ob sie immer noch am liebsten Spaghetti und Schnitzel mit Pommes essen?
Ein Klassentreffen wäre mal lustig. Ich möchte erfahren, wie es ihnen allen geht. Nur zwei von ihnen treffe ich regelmäßig. Drei anderen laufe ich ab und zu über den Weg. Der Junge, der auf dem Foto am frechsten grinst, lebt nicht mehr. Auch jene Erinnerung an die Beerdigung eines jungen Mannes weckt das Klassenfoto. Vom großen Rest weiß ich gar nichts. Ob sie noch in der Nähe wohnen? Das will ich heraus kriegen. Ein spannendes Experiment: Wie leicht findet man Leute, die man seit Jahrzehnten nicht gesehen hat?
Wenn nicht Social Media, dann das gute alte Telefonbuch
Die Namen all meiner Klassenkameraden fallen mir auf Anhieb wieder ein – bis auf einen. Bei seinem Vornamen bin ich mir fast sicher – aber der Nachname ist weg. Vielleicht gibt es eine alte Klassenliste? Ein Anruf in der Grundschule – und ich weiß: Da hätte ich schon sehr früh ein Klassentreffen planen müssen, denn: Lediglich zehn Jahre lang werden Informationen archiviert, danach landen Namen, Adressen und alles weitere im Schredder.
Ich fange also erstmal mit denen an, zu denen der Kontakt nie ganz abgerissen ist. Zwei Adressen habe ich sowieso. Check. Mit zwei weiteren ehemaligen Mitschülern bin ich bei Facebook befreundet. Check. Jedoch nur zwei weitere finde ich ebenfalls bei Facebook. Ich schreibe ihnen eine Nachricht, sie melden sich recht schnell. Check. Ein offizieller Aufruf über die FB-Seite des Onlinemagazins da Hogn ergibt dagegen – trotz guter Reichweite – nichts.
Wenn die sozialen Medien nicht den durchschlagenden Erfolg bringen, dann geht’s eben zurück zum guten alten Telefonbuch. Bei den meisten fällt mir auf Anhieb wieder ein, in welcher Straße oder in welchem Dorf sie gewohnt haben. Nachname plus Dorf ergibt meist zwei bis drei Treffer. Und dann frag ich mich einfach durch. Wenn ich nicht auf Anhieb die Eltern meiner ehemaligen Mitschüler am Telefon erwische, dann meist einen Verwandten, der mir die richtige Nummer nennt. Fünf meiner Klassenkameraden wohnen noch bzw. wieder in ihrem Elternhaus. Zwei haben den Betrieb von Mutter und Vater übernommen. Schnell habe ich die Adressen von dreizehn Leuten beisamen.
„Nein, ich bin nicht seine Mutter, ich bin die Ehefrau!“
Einer ist Kaminkehrermeister und deshalb über die Suchmaschine Google zu finden. Einen anderen entdecke ich beim Berufsnetzwerk XING und kontaktiere ihn über seinen Tennisverein. Bleiben noch vier übrig. Die harten Nüsse. Unter ihnen der „Junge ohne Nachnamen“. Ich frage die, die ich bereits gefunden habe – und schließlich erinnert sich einer. Und weiß sogar, wo derjenige wohnt. Auch die restlichen Nüsse lassen sich mit ein bisschen Geduld relativ einfach knacken: Diejenigen, die ich bereits gefunden habe, haben noch Kontakt zu ihnen.
Nach nicht einmal einer Woche habe dann ich alle Namen, Telefonnummern und Adressen zusammengesucht. Und es war alles andere als aufwendig oder anstrengend. Im Gegenteil: So manches Telefonat war recht witzig. Da gab’s Dinge zu hören wie: „Meine Tochter suchen Sie? Die kommt gerade zur Tür rein!“ Oder: „Nein, ich bin nicht seine Mutter, ich bin die Ehefrau!“
Und Zufälle gibt’s, die einen schmunzeln lassen: Eine Klassenkameradin hat früher in meiner Straße gewohnt, wir sind jeden Tag gemeinsam nach Hause gegangen. Und jetzt? Jetzt wohnt sie – wie auch ich – zwanzig Kilometer von zu Hause entfernt. In der gleichen Gemeinde! Nur eine Woche nachdem ich sie kontaktiert hatte, treffen wir uns ganz zufällig persönlich – in der Spielgruppe im Dorf. Ihre Tochter ist nur wenige Wochen jünger als meine Zwillingsjungs. Seit 25 Jahren hatten wir keinen Kontakt – und jetzt sehen wir uns bereits vor dem Klassentreffen mehrmals.
Neunzehn Zusagen und ein „Vielleicht“ – keine schlechte Quote!
Unsere erste Zusammenkunft plane ich drei Monate nach den Adress-Recherchen. Ende Dezember, zwischen Weihnachten und Silvester, wenn viele frei haben, scheint ein geeigneter Zeitpunkt zu sein. Da stimmen mir die anderen zu. Passende Einladungen sind dank Internet schnell designt. Als ich sie verschicke, fällt mir auf: Das Gros der Leute wohnt nach wie vor in Waldkirchen oder in der näheren Umgebung. Eine ehemalige Mitschülerin ist in der Schweiz gelandet – und damit am weitesten weg. Ansonsten alle in Bayern. Die Reaktionen auf die Einladung zum Klassentreffen freuen mich: Einer nach dem anderen sagt zu. Am Ende habe ich neunzehn Zusagen und ein „Vielleicht“. Keine schlechte Quote!
Siebzehn kommen am Ende dann tatsächlich. Keinen davon muss ich nach dem Namen fragen. Einer hat deutlich Haare gelassen, der ein oder andere ein paar Kilos mehr auf den Rippen als vor 30 Jahren – aber im Grunde grinsen sie alle noch so frech wie auf dem Klassenfoto von damals. Und Schnitzel mit Pommes ist immer noch der Renner: Fast die halbe Runde bestellt den Klassiker aus dem Freunde-Album. Die andere Hälfte bevorzugt mittlerweile Steak.
Die Lebensläufe könnten unterschiedlicher nicht sein: Einer ist bereits vor 15 Jahren Vater geworden, ein anderer erst vor wenigen Monaten. Handwerker sitzen neben Schreibtisch-Tätern. Die einen trinken Bier, die anderen Spezi. Irgendwann fallen uns natürlich auch wieder die Geschichten von damals ein. Der Gesprächsstoff würde wohl für die ganze Nacht reichen.
Der Junge ohne Nachnamen kommt leider nicht, aber…
Der Mitschüler, dessen Nachname mir und ein paar anderen einfach nicht mehr einfallen wollte, kommt nicht. Auch meine ehemalige Banknachbarin hat leider Nachtschicht und kann nicht dabei sein. Vielleicht trommel ich sie alle ja in ein paar Jahren nochmal zusammen – und sehe dann auch ein paar von denen wieder, die diesmal nicht dabei sein konnten.
Sabine Simon