Es ist eine beliebte Frage: Sag mal, was ist eigentlich Dein Lieblings-Live-Album? Sie ist aber tatsächlich ein wenig aus der Mode gekommen, was auch der Unsitte zu verdanken ist, dass jeder Hinz seinen Handy-Kunz auf YouTube hochladen muss. Abgesehen davon, dass die Qualität meistens unterirdisch ist, stört das den Genuss vor Ort beim Konzert ganz enorm, wenn man permanent irgendein blödes Handy vor der Nase hängen hat. Es gibt also einen gewissen Live-Konzert-Overkill – nicht zuletzt sind viele der legendären Live-Konzerte aber ebenfalls bei YouTube oder anderen Plattformen zu finden.
Die Konsequenz aus dieser These ist natürlich: Wer braucht heute noch ein Live-Album? Ganz aktuell stelle ich mir die Frage selbst, denn ich höre seit einiger Zeit recht oft „Alles mit allem – Live & Akustisch“ meiner ehemaligen Mitschüler aus seligen Allgäu-Gymnasium-Zeiten zu Kempten: Rainer von Vielen. Das Quartett gibt es – zumindest in seiner rudimentärsten Form – auch schon über 20 Jahre, was mir einmal mehr nur das sagt: Ich werde alt! Schließlich waren Rainer Hartmann (Hartmann; Gesang, Texte, Akkordeon und Mundharmonika) und Mitsch Oko (Michael Schönmetzer; Gitarre und Gesang) immerhin einen Jahrgang unter mir!
Sei’s drum, in dieser Zeit hat das Quartett, das von Dan le Tard (Daniel Schubert; Bass, Kontrabass und Gesang) und immer-noch-ein-wenig-neu-Schlagzeuger Sebastian (Schwab; Schlagzeug, Flügel und Gesang) komplettiert wird, einige ganz hervorragende Songs und Alben veröffentlicht. Zum Beispiel – mein persönlicher Favorit – „Erden“ von 2014.
Revolutionslyrik, Revolutionsmusik, Revolutionsmucker
Jetzt also: Live-Album. Aufgenommen wurden die 13 Songs im Stadttheater Kempten und in der Rosenau in Stuttgart – und es gibt eigentlich nur einen kleinen Kritikpunkt, den ich auch direkt am Anfang loswerden möchte: Für ein Live-Album herrscht relativ wenig Live-Atmosphäre. Zwischen den Songs gibt es kurzen, ziemlich leise gemischten Applaus, fast als schämte man sich seiner. Ein knappes „Danke“ ist das höchste der Ansage-Gefühle. Das ist allerdings wiederum so dermaßen reduziert, dass es durchaus Absicht sein könnte – und eine gewisse Anti-Haltung transportiert, die gut zum gerne präsentierten rebellischen Habitus der Band passt. Michi, ihr seid halt doch ein paar Anarchisten!
Genug gemeckert, denn das sind letztlich auch Peanuts. Denn die Arrangements der 13 Songs sind konsequent minimalistisch-gut, das akustische Federgewand steht den Liedern hervorragend und – nicht zuletzt – ist die Unterstützung des Cellisten Jann Michael Engel ein echtes Sahnehäubchen auf den intimen Neuinterpretationen. Diese Intimität wird natürlich da besonders deutlich, wo im Original räudiges Punk-Geschrammel steht, etwa bei „Kopf und Zahl“ oder „Pendel“. Dem schon im Original wunderschön zerbrechlichen „Dem Gefühl“ wurde hingegen lediglich das elektronische Moment entzogen, so dass die Hymne wider den Intellekt noch ein bisschen schöner ist.
Die Songs sind mit einer Ausnahme bereits alle erschienen – und diese Ausnahme ist gleich in mehrerlei Hinsicht besonders: „Gegen Verführung“ heißt das Stück, das die erste Seite von „Alles mit allem“ abrundet. Ihm zugrunde liegt ein Gedicht des großen Bertolt Brecht. Die Band hat vom Suhrkamp-Verlag die Genehmigung bekommen, das Werk zu vertonen. Und das ist den vier Musikern mit latentem Csárdás-Flair und direkt in die Beine wandernden Rhythmen perfekt gelungen. „Laßt euch nicht vertrösten! Ihr habt nicht zu viel Zeit! Laßt Moder den Erlösten! Das Leben ist am größten: Es steht nicht mehr bereit.“ Die Revolutionslyrik passt zur Revolutionsmusik der Revolutionsmucker.
Ein verdammt interessantes, gut gemachtes und wichtiges Album
Aber auch die restlichen Songs machen Spaß. „Der Gedanke an dich“ etwa ist eine hymnische Liebeserklärung mit einem jener Jahrhundertsätze, die man beinahe überhört: „Zeit spielt Rollen, mhm, Zeit spielt Rollen. Aber am besten spielt sie keine.“ Treffer, versenkt – möchte man da anerkennend nickend sagen. Ein bisschen flotter wird es bei „Der größte Tag“, das im Original beinahe etwas technoartig daherkommende „Die ganze Nacht“ ist gar ein akustischer Tanzflächen-Feger – was auch für „Nieder mauern“ gilt. Dann jedoch wird es zum Abschluss noch einmal recht meditativ: „Wogen“ und „Argonauten“ runden diese knappe Stunde perfekt ab.
Um nochmals auf die eingangs (auf)gestellte These/Frage zurückzukommen: Ich weiß nicht, ob „Alles mit allem“ meinen Lieblings-Live-Alben „Made In Japan“ von Deep Purple oder „Live/1975-1985“ von Bruce Springsteen mal vom Thron schubsen wird. Es ist aber ein verdammt interessantes, gut gemachtes und, ja, wichtiges Album einer tollen Band – und bei der nächsten Live-Scheibe gibt es vielleicht auch mal ein paar Ansagen!
Wolfgang Weitzdörfer
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- VÖ: Juni 2019
- Label: 36music/Broken Silence
- Songs:13
- Spielzeit: 57:56 Minuten
- Preis: ca. 15 Euro