Niederbayern. Vor einigen Jahren habe ich mit meiner Mutter ein ganz besonderes Foto-Album angelegt. Darin versammeln sich alle Bilder, die unsere Ahnen zeigen. Manche Aufnahmen sind dick und wellig, manche haben geknickte Ecken – und manche sind ein wenig abgeschürft – so wie es eben geschieht, wenn Fotos durch die Hände von vier Generationen gehen. Wir haben die Bilder eingeklebt und – soweit möglich – die entsprechenden Namen darunter geschrieben.
Und weil das noch nicht reichte, habe ich mich daran gemacht, die Geschichte zu den einzelnen Bildern aufzuschreiben. Festhalten konnte ich dabei nur Überliefertes. Doch die Blicke auf den Fotos, die Konstellationen – das alles bleibt mir verborgen. Ebenso die Alltagswelten, in denen meine Urgroßeltern wandelten. Das Gefühl, zu ihrer Zeit zu leben. Wie es ihnen erging, was sie dachten und hofften, das bleibt das große Geheimnis hinter diesen Bildern.
Von Kriegsschicksalen, harter Arbeit und dem „Durchbeißen“
Wahrscheinlich war es dieses große Geheimnis, das Martin Ortmeier gereizt hat, als er einen ganzen Band solcher Bilder zusammentrug. „Seinerzeit auf dem Land – Alte Bilder von Frauenalltag und Männerwelt in Ostbaiern“ hat er das Werk genannt, das mehr als nur ein Zeitzeugnis darstellt. Gleich auf der vordersten Seite, die sich mit Erscheinungsjahr und anderen Formalitäten aufhält, findet der aufmerksame Leser einen besonderen Aufruf: Es mögen sich doch alle melden, die Personen, Orte oder Details wiedererkennen und etwas darüber erzählen können.
Denn längst nicht zu allen Bildern weiß der Autor etwas zu berichten. Sie stammen aus den Archiven der beiden niederbayerischen Freilichtmuseen, deren Leiter Martin Ortmeier ist. Ja doch, gewissermaßen hat dieser nicht nur die Bilder zum Leben erweckt, sondern eben auch die Geschichten, die dahinter stecken. Manche konnten recherchiert werden, erzählen von Kriegsschicksalen, harter Arbeit, einem schier unbeschreiblichen „Durchbeißen“. Frauen haben Männerarbeit geleistet, Männer haben fast unmenschliche Arbeiten verrichtet – und beide haben sich gleichermaßen oft genug ihrem Schicksal ergeben und das Leben in all seiner Härte angenommen, um den Konventionen zu entsprechen – aber auch, um schlichtweg zu überleben. Manchmal werden die Geschichten ganz persönlich, sind kleine Portraits, die einzelne Menschen so genau zu beschreiben wissen, dass der Betrachter und Leser mehr als „nur“ ein Bild von ihnen erhält.
Auf den Fotos begegnet dem Betrachter oft dieser ernste Blick mit unglaublichen Tiefen. „Seinerzeit“ war es etwas Besonderes, sich fotografieren zu lassen. Es war ein meist feierlicher Augenblick, vielleicht sogar ein gar mystischer Moment. Früher, da musste man noch ordentlich stillhalten, bis sich endlich die Kameralinse schloss und ein scharfes Bild gewährleistet war. Und dann saß oder stand man da und schaute pfeilgeradeaus in die Kamera, folgte den Anweisungen des Fotografen – und dachte sich seinen Teil. „Jedes Bild ist ein Stück der Seele“ – so oder so ähnlich hat es einmal einer formuliert.
Menschenzeugnisse, die viel Raum zur Interpretation geben
Geblieben sind Aufnahmen für die Ewigkeit, Aufnahmen mit großer Wertigkeit. Zeitzeugnisse, die über den Stand der Menschen, über die Mode, die Mobilität und die Architektur berichten. Aber auch Menschenzeugnisse, die viel Raum zur Interpretation geben. Wie standen die Familienmitglieder zueinander? Welche Schicksale haben sich um die Augen und auf die Schultern der fotografierten Personen gelegt? Welche Gefühle halten sich an den Mund- und Augenwinkeln fest? Die Reihe der Fragen ist beliebig fortzusetzen: Was haben die Menschen vor und nach dem Fotografieren miteinander gesprochen? Und wer war eigentlich der Mensch hinter der Kamera?
Martin Ortmeiers Buch macht ein Verstehen möglich. Es haben schon Leute vor uns gelebt. Und wir sind die, die auf sie folgten. Aber sie haben uns was mitgegeben. Gene, Geschichten, alte Muster und Verstrickungen, vielleicht auch Lebensweisheiten und das Bild einer Heimat, wie sie mal war. Äußerlichkeiten haben sich verändert. Die Stände haben sich gewandelt – wie auch der Glaube und die Moral. Und natürlich der Umgang mit Bildern: Ganz abgesehen von Datenschutzrichtlinien pusten wir sekündlich unzählige Fotos in den Äther. Aber Menschen sind wir immer noch. Und wenn Instagram, Facebook, Pinterest und wie sie alle heißen längst keine Bedeutung mehr haben, halte ich das Album meiner Familie noch in den Händen – und blättere und staune, denke versöhnliche Gedanken und weiß, woher ich komme.
Eva Hörhammer
„Seinerzeit auf dem Land, Alte Bilder von Frauenalltag und Männerwelt in Ostbaiern“, 144 Seiten, Battenberg Gietl Verlag/ SüdOst Verlag, 1., Auflage 2018, Maße: 21,7 x 2 x 26,4 cm, ISBN (10) 3955877361, ISBN (13) 978-3955877361, 19,90 Euro.
Ach ja, das ist so schön geschrieben.
Ich nütze zwar auch die neue Art des Fotografierens, habe aber oft Sehnsucht nach der Zeit der guten alten Kamera. Da war ein Foto noch etwas Wertvolles und die wenigen, die man hatte wurden geachtet und oftmals auch gerahmt und aufgestellt.
Danke für den gefühlvollen Bericht und den Buchtipp.
Helga