Das Feierabendbier: Krönung und Ausdruck höchster Schaffensekstase am Ende eines ge- oder misslungenen Arbeitstages. Da sitzt man da mit Kollegen, lacht und lästert. Über andere Kollegen, Vorgesetzte, das Fußballspiel gestern. Oder das Wetter. Es wird diskutiert, philosophiert und – mit schwindender Distanz zur Sperrstunde – schwadroniert. Und ist die Zahl der Strichlein am Bierdeckel erstmal hoch genug, dann meldet sich auch jener Kollege zu Wort, der sonst eigentlich nie etwas sagt (Mal ehrlich: jeder hat so einen Kollegen. Jeder!). Spätestens dann ist der Weg zur Königsdisziplin der Biertisch-Olympiade geebnet: Dem „Philolallen„. Eine Mischung aus höchster philosophischer Redekunst und abgrundtief bescheuertem Biergelalle.
Auf halbem Wege zum Promillegedöns aus (wenig) Philosophie und (viel) gegärtem Hopfen stolpert einer immer wieder über diverse Krisen des Alltags. Beziehungskrise, Familienkrise, Dorfkrise, Milchpreiskrise, Wirtschaftskrise. Krisen aller Art. Und natürlich auch: die Flüchtlingskrise. Und dann wird’s schlagartig eher nüchtern. Ernüchternd. Die meisten Beteiligten wischen halbverlegen mit dem Finger über den Rand ihres Glases – und in den letzten Monaten denk‘ ich mir dann immer öfter: Was ist eigentlich passiert?
Über das Pro und Contra eines toten Menschen
Ich habe kürzlich an dieser Stelle eine Organisation porträtiert, die sich für die Rettung von Menschen im Mittelmeer einsetzt. In der Facebook-Kommentarspalte wurde darüber viel diskutiert. Am Ende der 59 Kommentare langen Debatte konnte man sich nicht darüber einigen, inwiefern das Handeln der porträtierten „Seebrücke“ nun in Ordnung sei. Und die „Seebrücke“ ist kein Waffenproduzent, kein Chemiekonzern oder eine Bank mit fragwürdigen Derivatgeschäften. Die Initiative zieht Menschen aus dem Mittelmeer, die ansonsten absaufen würden. Alte und Junge, Arme und Reiche, Dicke und Dünne, Intelligente und Dumme, Helden und Arschlöcher. Menschen halt.
Das Schockierende daran ist, dass diese Frage überhaupt zur Disposition steht. Und in welcher Geschwindigkeit es Ansichten, die diese Frage verneinen, die Mitte der Gesellschaft erreicht haben. Diese Frage wird nicht nur beim Hog’n diskutiert. Mittlerweile erörtern Talk-Shows das Pro und Contra solcher Aktionen. Sogar die ZEIT, die sich gewöhnlich durch qualitativ-hochwertige Berichte auszeichnet und eher selten konservativ daherkommt, veröffentlichte unlängst einen Beitrag zum Für und Wider der Seenotrettung (mittlerweile hat sich die Redaktion in einer Stellungnahme für diesen Bericht öffentlich entschuldigt).
Ja, die Menschen, die dort aus dem Wasser gezogen werden sind Flüchtlinge. Viele haben in Europa Recht auf Asyl, viele nicht. Aber jeder hat das Recht darum anzusuchen! Und jeder hat das Recht auf Unterstützung, wenn er gerade vor die Hunde geht. Ob jemand nun an Krebs erkrankt ist, einen Autounfall hatte oder mit einem Schlauchboot auf dem Mittelmeer treibt. Dabei gibt es kein Pro und kein Contra. Dieses impliziert eine „ausgewogene Mitte“, die es in dieser Frage nicht gibt. Die Frage, ob ein Mensch sterben soll oder nicht, ist keine Moralfrage.
Meinungsfreiheit heißt nicht, dass jeder einfach alles sagen kann
Handelt es sich um Flüchtlinge, sind offenbar die absurdesten Fragen Gegenstand einer diskussionswürdigen Moraldebatte. Man stelle sich nur eine Talk-Show vor, in welcher eine Frage erörtert wird, die gesellschaftlich ein absolutes Tabu darstellt. Wie soll das aussehen? Da sitzen dann vier Experten, zwei auf der Pro- und zwei auf der Contra-Seite, und debattieren über das Für und Wider der Kinderschändung? Gibt es dann auch Dokumentarfilme, die das Vorgehen und die Motivation der Täter zu ergründen versuchen?
Es lässt sich über viele Dinge streiten – und es ist sozusagen der Kern unserer Demokratie, dass jede Meinung irgendwie gehört werden soll. Aber zum Wesen einer wehrhaften Demokratie gehört es auch, gewisse Grenzen zu setzen. Auch wenn das einige im rechten Spektrum als Affront empfinden mögen, heißt Meinungsfreiheit eben nicht, dass jeder einfach alles sagen kann, was er will. Bei dem Versuch, die Meinungsfreiheit als demokratisches Recht einzuklagen, um demokratische Rechte anderer zu beschneiden, beißt sich die Katze bekanntlich selbst in den Schwanz. (Und schon alleine deshalb waren „Hitler und die Nazis“ kein „Vogelschiss“).
Als Gesellschaft etablieren wir gewisse Standards, die zwar nicht in Gesetzestext gefasst sind, aber die Regeln für einen geordneten Umgang miteinander vorschreiben – so wie man einem älteren Menschen zum Beispiel im Bus seinen Sitzplatz anbietet. Und so gibt es auch Dinge, die in einer Gesellschaft als „unsagbar“ gelten. Deshalb gilt jemand, der in diesen Breitengraden den Holocaust in Zweifel zieht, vielleicht als verwirrter Kellernazi, wird’s aber in keine Talkshow schaffen und hat sich auch sonstwo auf diskursiven Gegenwind einzustellen. Erschreckend ist nur, wie – und in welcher Geschwindigkeit – sich diese Demarkationslinie des Sagbaren bzw. des Diskutierbaren in den letzten Monaten verschoben hat.
Der „Ugly German“ ist Geschichte. Oder?
Es ist keine drei Jahre her, da titelte der britische Guardian angesichts der Menschen, die Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof willkommen geheißen hatten: Der „Ugly German“, der „Hässliche Deutsche“, sei ein für alle mal vergessen. Hunderte Menschen versammelten sich damals und applaudierten, als die Züge aus Ungarn die bayerische Hauptstadt erreichten. Es wurden Plakate hochgehalten, Teddybären überreicht, Essen, Getränke und Umarmungen vergeben.
Was – verdammt – ist seitdem passiert? Innerhalb einiger Monate wurde aus dem Flüchtling, dem man gerne Obdach gewährte und ihn herzlich bei uns aufnahm, ein Symbolbild für alles Schlechte. Die Personifizierung des Bösen. Einer, der unsere Arbeitsplätze klaut und – gleichzeitig – unsere Sozialkassen plündert. Der unser Rentensystem schon bedrohte, da wusste er noch nicht einmal, wo Deutschland überhaupt liegt. Einer der klaut, vergewaltigt und islamisiert. Unsere Kultur zerstört und unsere Werte kaputt macht. Einer, den man ruhigen Gewissens im Mittelmeer ersaufen lassen kann.
Unsere vielgepriesenen westlichen Werte, die wir selbst so hochschätzen und mit denen wir in anderen Ländern so gerne hausieren gehen, haben sich in einer atemberaubenden Geschwindigkeit in Luft aufgelöst. Von den christlichen Werte möchte ich gar nicht erst sprechen. Sobald der eigene Arsch nicht mehr in Federn gebettet ist, schmeißen wir jeglichen Rest Anstand über Bord – Hauptsache mir respektive meiner Partei geht’s gut. Und dabei geht’s nicht um die sogenannten „Globalisierungsverlierer“, „die Beängstigten“ oder die „bröckelnde Mittelschicht“. Dabei geht’s um Menschen, die alles andere als zu den Verlierern gehören.
Die wahre Krise sind jene, die versuchen aus dem Thema Migration politisches Kapital zu schlagen
Von Flüchtlingskrise ist da die Rede. Vom Verlust der Souveränität des deutschen Staates. Vom Unrechtsregime und vom Eindringen der ungebändigten Horden. Deutschland drohe der Bürgerkrieg, bald werde es mehr Moscheen als Kirchen geben. Unsere christlichen Feiertage werden in einer Geschwindigkeit wegislamisiert, so schnell kannst du mit dem Schokohasen im Mund gar nicht Weihnachtsbäckerei sagen. Und selbstverständlich bekenne sich die Maria bald nur noch zur Scharia, wie der gemeine österreichische „Poetarier“ schon länger vor sich hindichtet. Bald werden deutsche Frauen nur noch Schleier statt Küchenschürze tragen.
Wenn seit mehr als drei Jahren von der Flüchtlingskrise die Rede ist, frage ich mich manchmal, woran man das denn festmacht. Wenn von einer Flüchtlingskrise die Rede ist, verwechselt man mutwillig pseudo-visionäre Absurditäten mit Empirie.
Ohne die tausenden Freiwilligen vom Münchner und zahlreichen anderen Bahnhöfen, ohne die Unzähligen, die ihre freien Tage und Feierabende aufopfern um Deutsch zu unterrichten, Kleiderspenden sammeln, Kochkurse organisieren und zuhören, wenn’s mal scheiße läuft; ohne diese Menschen hätten wir in der Tat eine Flüchtlingskrise. Menschen, die Aufgaben übernehmen, für die eigentlich der Staat zuständig wäre. Die noch heute zahlreiche Stunden ihrer Freizeit geben, um einem offensichtlich überforderten Staat unter die Arme zu greifen. Unentgeltlich und uneigennützig. Die erstmal auf einen Menschen zugehen, ihm die Hand schütteln, Servus sagen und fragen, wie’s denn gerade so steht. Die wahre Krise, die wahre Bedrohung, sind nicht die Flüchtlinge, sondern jene Menschen, die versuchen aus dem Thema Migration politisches Kapital zu schlagen.
Um des eigenen Wohlstands willen ist jede Praxis recht
Wie gern lassen wir uns von asiatischen Kinderhänden unsere Hemden zusammennähen. Wie gern schlürfen wir äthiopischen Kaffee zum Spottpreis. Was wäre eine Welt nur ohne Smartphone, dessen Bestandteile in den Minen Kongos geschürft und in chinesischen Fabriken zusammengeschraubt werden. Ach – und wie nett, dass uns diese wohlfeilen Araber mit ihrem Öl beglücken und uns sogar noch unsere Waffen und Panzer abkaufen.
Um des eigenen Wohlstands willen ist jede Praxis recht. Chaoten, Spinner, Nazis, Empörte und Frustrierte – die gab’s schon immer. Aber jetzt, wo der globale Kapitalismus die Rechnung serviert, hat auch der Rest plötzlich keinen Bock mehr zu zahlen. Und in atemberaubender Geschwindigkeit legen wir all jene Werte beiseite, die wir doch in anderen Teilen der Welt so sehnsüchtig vermissen. Humanität und Demokratie in aller Welt fordern und vor der eigenen Haustüre die Leute absaufen lassen, ist ein moralistischer Spagat der besonderen Art.
Solange der eigene Wohlstand gesichert ist, zwei Drittel der Welt für den globalen Norden schuften, schwitzen und sterben, bekleidet man sich gerne mit dem edlen Mäntelchen der westlichen Werte, der Menschenrechte, der Aufgeklärtheit und Vernunft. Keine drei Jahre hat’s gedauert und man hat diese Ummantelung Schicht für Schicht abgeschält, bis am Ende nur noch eins übrig blieb: Die Sorge um den eigenen materiellen Wohlstand. Erschreckend, wie dünn diese Ummantelung war…
Mit Schurkenstaaten und Despoten
Der letzte Rest an Wertekonsens, auf welchen man sich nunmehr einigen kann: Unserer Wirtschaft geht’s gut – und das soll auch so bleiben. Wenn dabei wahlweise Menschen, Umwelt und Werte draufgehen – soll’s halt so sein. Alles kann, Wirtschaft muss. Und alles, was stört, soll nach draußen bzw. gar nicht erst rein kommen.
Und dann werden Freiwillige, die die Rechte von Geflüchteten einklagen, eben zur „Anti-Abschiebe-Industrie“ (Dobrindt) – und Menschen, die ihren Jahresurlaub aufbrauchen, um Menschen vorm Ertrinken zu retten, zu Gehilfen des „Asyltourismus“ (Söder). Selbst von Regierungsparteien wird mittlerweile nicht einmal mehr in Erwägung gezogen, dass sich unter Geflüchteten Menschen befinden, die vor Folter, Verfolgung, Armut und Krieg fliehen. Während Leistungen für Asylwerber gekürzt werden, wird diskutiert über: Zäune, Mauern, Zentren. Da ist dann auch ein angeblich so undemokratischer Despot wie der türkische Präsident Erdogan für einen Deal recht. Drei Milliarden Euro erhält der türkische Machthaber jährlich von der EU – um Flüchtlinge an der Weiterreise in die EU zu hindern.
Dasselbe gilt für Libyen: Lange galt das nordafrikanische Land als „Schurkenstaat“ schlechthin, gilt noch heute als einer der Hauptfinanzierer des internationalen Terrorismus und bildet sogar selbst Attentäter aus. Bekanntlich regieren dort eher das Chaos und die Korruption als demokratisch gewählte Volksvertreter. Immer wieder macht Libyen Schlagzeilen mit unmenschlichen Bedingungen für Flüchtlinge, mit Folter, Sklaverei und Vergewaltigungen. Ginge es nach der EU, errichten wir in Libyen demnächst Flüchtlingszentren.
Irgendwo in den letzten Jahren sind wir falsch abgebogen
Der Hass auf den Flüchtling ist mittlerweile zum sinnstiftenden Element avanciert. Auf ihm lässt sich alles projizieren, was gerade schlecht läuft. Vom Rentensystem bis zur Arbeitslosigkeit kann man den „Fremdling“ für so gut wie alles zur Verantwortung ziehen. Für den AfD-Abgeordneten Rainer Kraft gilt es gar die Migration deshalb zu unterbinden, da diese zu einer weiteren Erhöhung des CO2-Ausstoßes in Europa führen würde.
Irgendwo in den letzten Jahren sind wir falsch abgebogen. Aus einer humanitären Krise wurde eine angebliche Flüchtlingskrise zusammenkonstruiert, aus der ein paar Kellernazis Kapital schlagen wollten. Damit haben sie eine Bewegung ins Rollen gebracht, die mittlerweile weit über die Grenzen der Ewiggestrigen hinaus ins bürgerliche Spektrum hineinreicht. Eine Bewegung, die auch dadurch an Fahrt aufnahm, dass konservative Parteien auf den Zug aufgesprungen sind und sie für eigene politische Zwecke instrumentalisierten. Und so diskutierte gar die ZEIT über das Ja oder Nein der Seenotrettung.
In einem solchen Diskursklima ist’s auch für den Kellernazi nicht mehr weit bis in die „bürgerlichen Mitte“
Ich denke, wir befinden uns derzeit an einem Scheidepunkt und wir sollten uns einmal gründlich überlegen, was eigentlich Sache ist. Wo wir mittlerweile angelangt sind und in welcher Geschwindigkeit dies geschehen ist. Wie schnell wir plötzlich alles stehen und liegen lassen – und sich (vermeintlich) bürgerliche Parteien eines Vokabulars bedienen, das außerhalb rechtsextremer, offen rassistischer Kreise eigentlich als Tabu gilt. Wo es eine Regierungspartei für nötig hält, eine Innenstadt voll zu plakatieren, um eine Demo zu verunglimpfen, weil sich dort mehrere Zehntausend bei strömenden Regen gegen diese Verrohung der Sprache, den Rechtsruck in der Gesellschaft zur Wehr setzen wollten. Einer Demo, in deren Folge sogar Kirchenverbände von einer gewählten Regierungspartei als Hetzer und als Spalter der Gesellschaft hingestellt werden.
In einem solchen Diskursklima ist’s auch für den Kellernazi nicht mehr weit bis in die „bürgerliche Mitte“. Da werden Menschen, die auf dem Mittelmeer ihr Leben riskieren, um andere Leben zu retten, schnell mal zum Beihelfer des Invasorentums – und die Nazi-Verbrechen zum „Vogelschiss“ in der sonst so glorreichen deutschen Geschichte. Was vormals unsag-, gar undenkbar galt, liest sich mittlerweile auf Titelseiten. Und deshalb, in aller Kürze: Ich wünsche mir eine Welt (zurück), in der Rassisten einfach nur scheiß Rassisten sind! Ohne darüber debattieren zu müssen.
Kommentar: Johannes Greß