Einen der Drogentoten aus Freyung hab ich gekannt. Nicht gut. Aber doch. Damals, als ich und er noch kleine Jungs waren, ist er mir häufiger beim Rumtollen in der Nachbarschaft über den Weg gelaufen, man hat sich hin und wieder zufällig getroffen, hat geratscht und auf dem Spielplatz rumgeturnt. In der Grundschule war er zwei Klassen über mir, sodass man sich auch auf dem Pausenhof ab und an sah.
Ein Grinsen hier, ein Lachen da. Smalltalk. Und weiter ging’s.
Man wird älter, die Lebenswege gestalten sich unterschiedlich. Er ging auf die eine Schule, ich auf die andere. Im Freibad haben wir uns gelegentlich noch getroffen, gemeinsam mit anderen Freunden. Haben Musik gehört, eine Zigarette geraucht, an unserem Radler genippt, an unserem Eis geleckt und sind vom Drei-Meter-Brett ins Becken gehüpft.
Nach der Schulzeit verlor man sich fast gänzlich aus den Augen. Nur ab und an, bei Heimatbesuchen, wenn’s am Wochenende aufs Volksfest oder ein kleineres Musik-Festival in der Region ging, traf man sich zufällig am Auto-Scooter oder am Bierstand. Und dann war’s eigentlich wie immer. „Servus, Oida, wia geht’s? Ois klar bei Dir?“ – „Ja mei, geht dahi, woasd as eh.“ Ein Grinsen hier, ein Lachen da. Smalltalk. Und weiter ging’s. Doch es war für einen kurzen Augenblick so, als wär die Zeit stehen geblieben. Als wären wir immer noch die kleinen Jungs von damals, die sich zunächst im Sandkasten um den schönsten Bagger gestritten haben und im Anschluss draußen rumgelaufen sind, bis es dunkel wurde.
Dass er rein äußerlich von Treffen zu Treffen abbaute, war ihm anzumerken. Es war irgendwann offensichtlich, dass Alkohol und Drogen sein Leben bestimmen, mit dem er ohne diese Mittel nicht mehr klar zu kommen schien. Ich wusste noch von früher, dass er es im familiären Umfeld von klein auf nie besonders leicht hatte. Und es irgendwie abzusehen war, dass er auf die berühmt-berüchtigte und floskelhaft so häufig bemühte „schiefe Bahn“ geraten würde.
Hätte ich ihn nicht mal darauf ansprechen müssen?
So richtig ernst genommen hab ich ihn irgendwann auch nicht mehr, wenn wir uns wieder mal über den Weg gelaufen sind. Und er schwankend-wankend auf mich zukam. Unangenehm war das. Ich wollte weg, der Situation entfliehen. Mich nicht konfrontieren mit jemanden, der so ganz anders war als früher. Einem Abgestürzten. Drogen-Junkie. Ich wendete mich ab.
Jetzt ist er tot. Überdosis. Und ich frage mich: Hätte sein Tod verhindert werden können? Hätte ich ihn nicht mal darauf ansprechen müssen? Auf etwas hinweisen sollen? Ihn schütteln und ihm zurufen sollen: „Mann, ändere doch mal was!“ Doch ich hab’s nicht gemacht. Warum? Ich weiß es nicht. Vermutlich aus Angst. Aus Angst davor, mich mitverantwortlich zu machen.
Und was ist mit den anderen? Mit den Behörden? Hat nicht auch das Landratsamt irgendwie schuld an seinem Tod, das sich mit seinem „niederschwelligen Informations- und Aufklärungsangebot“ schön pseudo-präventiv aus der Affäre gezogen hat? Hat nicht auch die „psychosoziale Suchtberatung“ der Caritas schuld, der dieser Fall doch hätte bekannt sein müssen? Oder die Polizei, die nichts und wieder nichts unternommen hat, als sie sehenden Auges bei ihren Volkfsfest-Rundgängen an ihm vorbeigeschritten ist? Nein. Haben sie nicht.
Weil sie da sind – und doch nicht dazu gehören
Wir alle haben versagt. Wir alle, die wir wissen, dass Menschen wie er unter uns leben und durch unser Wegschauen nach und nach an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden – weil sie „anders“ sind. Aus dem „Rahmen“ gefallen. Nicht „normal“. Da sind – und doch nicht dazu gehören. Unübersehbare Probleme haben. Doch genau deswegen nicht beachtet werden. Wir wissen, doch wir tun nichts.
Kommentar: Stephan Hörhammer
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