Donnerstag, 16. April: Plötzlich ist es da: Das ungute Gefühl, dass die Gesellschaft bald nicht mehr mit der Krise klarkommen wird. Dass sich spaltet, was noch vor knapp vier Wochen so einig zusammenstand. Stimmen werden lauter, die einfordern Kritik an den Maßnahmen gegen das Virus üben zu dürfen – wobei sie genau diese Kritik im selben Atemzug hinausschreien in die Welt. Meinungsfreiheit wird trotzdem angezweifelt. Medien werden gar als „gleichgeschaltet“ bezeichnet. Und nein: Ich spreche nicht von Verschwörungstheorien, sondern von mittlerweile alltäglichen Postings in den sog. Sozialen Medien. Was mir fehlt, ist Feingefühl in der öffentlichen Kommunikation. Wer sich wie ein Widerstandskämpfer darstellt, weil er die Corona-Strategie der Regierung kritisiert, lässt dieses Feingefühl definitiv vermissen.
Ich lese sie immer häufiger: die Unterstellung, es gebe keine Meinungsfreiheit mehr. Man dürfe die Maßnahmen gegen das Coronavirus angeblich nicht kritisieren. Das sind Töne, die man bis vor Kurzem fast ausschließlich von Anhängern der AfD kannte – ganz nach dem Motto: Man darf in Deutschland zu vieles nicht offen sagen. Dem widerspreche ich vehement: Jeder darf in diesem Land sagen, was er will. Er darf es sogar ganz öffentlich, im Internet. Wenn ihm dann die Mehrheitsmeinung entgegenschallt, heißt das nicht, dass ihm der Mund verboten wird.
Vergleiche mit NS-Zeiten gehen eindeutig zu weit
Was mich in den vergangenen Tagen mehr als einmal erschreckt hat, waren Kommentare, die die derzeitigen Einschränkungen unserer Grundrechte mutmaßlich mit Zuständen während des NS-Regimes vergleichen. Wenn in Kommentaren von einer „Gleichschaltung der Medien“ die Rede ist, wird da eine Keule ausgepackt, die sehr selten angebracht ist: Die Keule der NS-Vergleiche.
Die Kritik an Journalisten hat in der Coronakrise scharfe Züge angenommen. Zu spüren ist sie bereits viel länger. Zuerst kam der Begriff der „Fake News“ ins Spiel. Dann waren Journalisten plötzlich „linksversifft und grün“, weil sie Wissenschaftlern die Sache mit dem Klimawandel glaubten. Und nun verbreitet unsere Kollegenschaft angeblich unkritisch und gleichgeschaltet, was ihr das RKI und Ministerpräsident Söder vorgeben?
Dass Journalisten die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus nicht von Anfang an als Grenzüberschreitung der Politik an den Pranger gestellt haben, liegt in meinen Augen definitiv nicht daran, dass wir alle unkritisch sind und nur das verbreiten, „was die Politik hören will“. Es liegt schlicht und einfach daran, dass Journalisten recherchiert, geprüft und – wie die große Mehrheit der Experten – die Maßnahmen für angemessen befunden haben. Dass sich die Medien in ihrer Meinung einig waren, bedeutet keinesfalls „Gleichschaltung“- dieses Wort impliziert unmündiges Handeln, von oben vorgegeben. Kein Politiker gibt in diesem Land vor, was Journalisten schreiben dürfen und was nicht.
Nicht ständig darüber berichten, was erlaubt oder verboten ist
Aber auch die Kommunikation derjenigen, die ihre Maßnahmen durchsetzen möchten – die möchten, dass sich möglichst viele an die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus halten, lässt in vielen Fällen zu wünschen übrig. Wenn Medien und öffentliche Stellen ständig nur darüber schreiben, was man denn nun darf oder nicht, fühlen sich die Menschen zwangsmäßig eingeschränkt und bevormundet.
Ein Großteil der Beschränkungen in unserem derzeitigen Alltag lässt sich ganz einfach erklären: Wir alle sollen zu so wenigen Personen wie nur irgendwie möglich näheren Kontakt pflegen. Juristische Kleindeutereien sämtlicher Aktivitäten in unserem Alltag braucht es da nicht. Genauso wenig wie zu strenge Polizisten, die nicht mit Augenmaß entscheiden, ob sie jemanden einfach machen lassen, ihn verwarnen oder ihm sofort ein Bußgeld aufbrummen. Mit einem Zeppelin die Massen an einem sonnigen Tag zu beobachten, ist dabei genauso ungeeignet…
Stellt euch nicht gegenseitig an den Pranger!
Solche Aktionen rufen Reaktionen hervor wie die eines Facebook-Nutzers: „Jedoch sind Gegenstimmen natürlich eine gefährliche Sache, wenn sie nicht ins Bild passen“, schreibt dieser in einem öffentlichen Post. In den folgenden Zeilen seines Textes wählt er Worte, die die jetzige Situation ganz klar mit den Verhältnissen zur NS-Zeit vergleichen.
Wer die Gefahr von Corona leugnet, werde in der Gesellschaft als Gefahr für andere gebrandmarkt – diesen Eindruck scheint er zu haben. Er zeichnet Bilder, die die Kritiker der Corona-Maßnahmen mit Widerstandskämpfern gleichsetzt. Er schließt mit den Worten: „Angst war noch nie ein guter Ratgeber und schon immer ein Katalysator für die schlimmsten Geschehnisse in unserer Geschichte.“ Da ist er wieder: Der nicht offen ausgesprochene, aber klar beabsichtigte NS-Vergleich…
Ich habe keine Angst. Nicht davor, mich mit Covid-19 anzustecken. Nicht davor, an der Krankheit zu sterben. Aber vor allem nicht davor, dass Söder plötzlich zum Hitler der Neuzeit mutiert und aus den Maßnahmen zur Eindämmung des Virus von jetzt auf gleich Maßnahmen zur Unterdrückung eines unmündigen Volkes macht. Was ich aber befürchte: Dass die Gesellschaft verlernt zu diskutieren. Dass zu viele sich angegriffen und in ihrer freien Meinungsäußerung beschnitten fühlen, während sie gleichzeitig tiefgehende Vorwürfe an Politiker und Journalisten verbreiten.
In der aktuellen Kommunikation – sei es beim Verfassen eines Artikels wie diesem oder bei jeder Äußerung auf Facebook – ist Feingefühl gefragt. Sich in andere hinein zu versetzen, versuchen zu verstehen, warum sie denken wie sie denken. Stellt andere nicht an den Pranger, unterstellt ihnen nicht immer das Schlechteste. Politiker denken nicht nur an Macht, Bill Gates nicht nur an Geld – und Journalisten verlautbaren nicht generell das, was Politiker hören wollen.
Sabine Simon