Friedemann Fegert, der ausgewiesene Auswanderungsforscher und Mitgestalter des Auswanderungsmuseums im Emerenz-Meier-Haus „Born in Schiefweg“ stellt uns einmal mehr Einblicke in sein neues Buch über die Bayerwald-Dichterin Emerenz Meier vor.
Emerenz Meier wird am 3. Oktober 1874 in Schiefweg am „Goldenen Steig“ in eine bäuerliche Welt hineingeboren. Als Tochter des Landwirts, Vieh- und Güterhändlers Josef Meier lernt sie früh, in der Landwirtschaft mit anzupacken. Der trunksüchtige Vater meint, sie solle sich statt der „narrischen Vers’lmacherei“ lieber im Wirtshaus und in der Landwirtschaft nützlich machen. Er selbst spekuliert mit Vieh und Immobilien, er „haust ab“, verliert seinen Hof. So keimt in ihm der Gedanke auf „ins Amerika“ zu gehen, dorthin, wo schon Verwandte und Kinder von ihm ihr Glück gesucht haben.
In die Fremde – und doch daheim
Den Anstoß, nach Amerika zu gehen, geben der Cousin der Emerenz, Maximilian Raab aus Richardsreut und dessen Frau Maria, geborene Schmöller (aus Stadl), die bereits vor 1891 ins „Waldler-Viertel“ nach Chicago ausgewandert sind und dort bereits mit sechs Kindern leben. Hier im „Waldler-Viertel“ haben sich in enger räumlicher Nähe zahlreiche Auswandererfamilien aus dem Bayerischen Wald angesiedelt. Dort spricht man die eigene Sprache, dort kennt man sich.
Aus der engsten Familie der Emerenz Meier entschließt sich zunächst ihr Schwager Georg Maier nach Amerika vorauszureisen. Er geht in Antwerpen am 7. März 1903 an Bord der „Vaderland“ und kommt am 17. März in New York an. Ein Jahr später geht die ledige Schwester der Emerenz, Maria, nach Chicago.
Josef Gumminger hat die jüngste Schwester der Emerenz, Anna, die 1879 in Schiefweg geboren wurde, am 12. Oktober 1902 in Waldkirchen geheiratet. Er wandert dann im April/Mai 1905 nach Amerika aus, während seine Frau am 13. Dezember 1905 ihr drittes gemeinsames Kind Maria Agnes noch in der alten Heimat zur Welt bringt. Sie kommt mit den Kindern Joseph Maximilian, Johann Franz und Anna im Jahr 1906 nach Amerika nach.
Diese Jungen aus der Familie ermutigen schließlich den 68 Jahre alten Vater Josef Meier, im Jahr 1905 seinen Kindern nachzureisen.
Emerenz beschließt dann 1906 – auf Betreiben ihres Vaters und ihrer zwei Schwestern – mit ihrer 70 Jahre alten Mutter hinterherzureisen, im Hinterkopf ihre Geschichte vom „Scheibenhofbauer“. Sie tut es nur ihrer Mutter zuliebe:
„Und wohin sie [meine Mutter] wollte, ging ich, mußte ich gehen. Denn es war mir, als könnte ich ohne sie nicht leben“ (EM2; 13. Februar 1922)
Dieses Phänomen, dass Verwandte und Bekannte vorausreisen und weitere aus der Familie oder dem Dorf hinterher folgen, wird in der Migrationsforschung als „Kettenwanderung“ bezeichnet.
Emerenz Meier reist also nun nach Chicago, der Millionenstadt mit inzwischen 2,7 Millionen Einwohnern, „dem Babylon der Geldgier, der zynischen Frechheit und Rücksichtslosigkeit, der Stadt des Rußes und Lärms, der Hölle für Menschen, welche noch Ideale besitzen“, wie sie die Metropole dann später, am 15. März 1920, desillusioniert bezeichnet.
Heirat im deutschen Viertel
Ende März 1906 kommt also Emerenz zu ihrer Familie nach Chicago. Sie lernt dort den Landsmann Franz Schmöller kennen, der 1869 in Neureichenau geboren ist. Er hat bereits am 16. September 1895 die amerikanische Staatsbürgerschaft erworben und wohnt in Chicago nur einen halben Kilometer von ihr entfernt.
Franz Schmöller ist schon 1889 mit seinen Eltern Joseph und Therese, geb. Blöchel, ins Waldler-Viertel nach Chicago ausgewandert. Franz Schmöllers Mutter stammt aus Mauth, sein Vater aus Altreichenau – etwa 24 Kilometer Fußmarsch voneinander entfernt. Franz hat drei Brüder, von denen sich zwei in den Heiratsregistern der Kirche St. Michael wiederfinden. Die alten Kirchenbücher der „St. Michael Church in Old Town“ waren bis vor kurzer Zeit nicht zugänglich. Mit Hilfe amerikanischer Forscher ist es gelungen, die Mikrofilme zur Familiengeschichte der Meiers ausfindig zu machen.
Später bekennt Emerenz als Motiv für die Heirat, sie habe nach zwei Jahren unter „schnatternden und singenden Puppen [von Fabrikarbeiterinnen]“, wobei sie „noch kein Englisch verstand“, „den Erstbesten [ge-] heiratet, von dem ich annahm, daß er mir ein gutes Heim bieten könne“ (EM2 16. April 1923). Der Bräutigam der Emerenz Meier, Franz Schmöller, spricht inzwischen recht ordentlich Englisch. Er hat von 1896 bis 1908 in einer Fahrradfabrik und dann ab 1908 als Stahlpolierer gearbeitet. Emerenz Meier und er heiraten am 10. Oktober standesamtlich und am 26. Oktober 1907 kirchlich in der deutschen Kirche St. Michael, in der bereits ihre Schwester Mary drei Jahre vor ihr geheiratet hat.
Leben im Familien-Clan
Als noch Unverheiratete geht Emerenz in die Fabrik und nicht in „dienende Stellung“, um bei ihren Eltern wohnen bleiben zu können. Ihr späterer Mann verdient sein Geld ebenfalls als Fabrikarbeiter. Er hat von 1896 bis 1908 in einer Fahrradfabrik und dann von 1908 bis zu seinem Tod als Stahlpolierer gearbeitet. Doch unmittelbar nach ihrer Heirat im Oktober 1907 wird Emerenz schwanger und die Geburt ihres Sohnes Joseph am 17. Juli 1908 verändert die Situation. Die Eheleute suchen eine geräumigere Wohnung.
Nachdem die Eltern der Emerenz 73 bzw. 75 Jahre alt sind, und Emerenz ja einmal gestanden hat, nicht ohne ihre Mutter leben zu können, hoffen sie, gemeinsam in ein Haus ziehen zu können. Emerenz Meier und ihr Mann Franz Schmöller, der vor der Hochzeit ganz im Süden Chicagos gelebt hat, haben das Glück, in dem Dreifamilienhaus in der 1507 N Clybourn Ave. unterzukommen, in dem bereits die Schwester Anna Gumminger mit ihrem Mann Joseph und ihren vier Kindern wohnt.
Franz Schmöllers Alkoholismus ist immer wieder Anlass zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen ihm und seiner Frau Emerenz: der „echt saubayerische Bauernlümmel“. Umso mehr hängt sie an ihrem Sohn Joseph, den sie liebevoll „Josie“ nennt. Ihre Ehe ist nicht von langer Dauer. Franz Schmöller erkrankt 1911 an Lungentuberkulose und stirbt am 27. April 1912 im Krankenhaus.
Heirat mit dem „schwedischen Riesen“
Nach dem Tod ihres ersten Mannes heiratet Emerenz nach dem Kriegseintritt Amerikas gegen Deutschland, also um 1917 – zunächst nur als Versorgung für ihr Kind gedacht und als Schutz für sich selbst als Deutsche – den um 1873 geborenen John Lindgren, der 1899 aus Schweden eingewandert war und 1906 „naturalisiert“, also eingebürgert worden ist. In einem Brief an ihre Freundin Auguste beschreibt sie fast rührend, wie sie den Schweden kennengelernt hat:
„Wenn ich und mein Mann [John Lindgren] manchmal so abends beisammen sitzen, dann kommen wir immer wieder darauf zu sprechen, daß es die Frithiofs-Saga war von [dem schwedischen Nationaldichter] Tegnér, die uns beide eigentlich zusammengeführt. Mein erster Mann, mit dem ich in glückloser Ehe lebte, hatte diesen schwedischen Riesen einmal von einem Saloon (einem Wirtshaus) mitgebracht. Beide waren schwer betrunken, doch während mein Mann sich als echt saubayerischer Bauernlümmel aufführte, blieb der andere ruhig, reserviert und äußerst höflich. Ich fragte ihn nach seinem Heimatland. Er antwortete in korrektem Deutsch. Auch nach seinen heimatlichen Dichtern befragte ich ihn, da fing er an, von der Frithiofs- Saga zu erzählen, aber in Schwedisch.
Er ging darauf fort, aber ich hatte den Menschen nicht vergessen und als mein Mann starb, (zu meiner Erlösung aus Leid und Elend) da suchte ich gleich mit ihm in Fühlung zu kommen. Er ist ein Entgleister von draußen, wohnte in einer Wirtschaft, in der er all sein Geld draufgehen ließ. Resolut nahm ich ihn weg von jener Bande (die auch Bayern waren), bot ihm Wohnung und Kost gegen Ablieferung seines wöchentlichen Verdienstes und heiratete ihn später. Und ich habe es noch keinen Augenblick bereut. Er es aber auch nicht. Er sagt heute noch, er könne mir nie genug danken, daß ich ihn aus dem Sumpf gerettet und daß ihm durch mich das Leben erst wieder wert geworden wäre. Wir 3 leben sehr glücklich zusammen. Wir haben zwar nicht mehr als wir brauchen, aber Not leiden wir schon gar nicht.“ (EM2 16. Dezember 1920)
Es wird hier deutlich, dass sich die Familie nur durch harte, zähe Arbeit über Wasser halten kann. Selbst ihr Sohn Joe muss als Schuljunge einen Ferienjob in dem Textilgroßhandelsunternehmen annehmen, in dem sein Stiefvater arbeitet.
„Mein Josef arbeitet Samstag und Sonntag bei einem griechischen Schuhputzer und verdient dadurch etliche Dollar. Er ist bald 15 Jahre und muß bis zum 16. Jahre in die Schule gehen, wie es hier Gesetz ist. Doch muß er während der nächsten Ferien an meines Mannes Arbeitsplatz schaffen für 15 Dollar wöchentlich. Vom Verdienst bekommt er erst ein Fahrrad wie alle jungen Burschen eins haben, und das bei 40 Dollar kostet, der Rest gehört mir. Wenn irgend möglich, versuche ich ihn dann ganz aus der Schule zu nehmen, damit er schaffen kann, um mir und meinem ganz erschöpften Mann aus der Not zu helfen. Lernen tut er ja in der ganz verrotteten Volksschule doch nichts mehr. Und er hat schon volle Mannesgröße und männlichen Ernst.“
Zwar kann sie ihrem Sohn Joe den Traum vom eigenen Fahrrad erfüllen. Doch das übrige Geld geht in die familiäre Haushaltskasse! Emerenz geht fleißig in der Fabrik zur Arbeit. John ist in einem Großhandelshaus als Sachbearbeiter tätig. Sie rackern sich ab. Kurzzeit gelingt es Emerenz sogar ein Mietshaus mit 7 Partien zu kaufen.
Die „profitsüchtige“ Schwester Mary
Trotzdem reicht es hinten und vorne nicht. So erschließt sich Emerenz eine eigene Geldquelle. Als sie sich mit dem heimlichen Bierbrauen, das in der Zeit der Prohibition in Amerika verboten ist, über Wasser halten will und damit auch einigen Erfolg hat, will Mary aus Neid diese lukrative Einnahmequelle selbst an sich ziehen:
„Maries Interesse ist heutigentags bloß mehr einem Dinge zugewandt, sie will reich und reicher werden und dabei größer und mächtiger. Sie hat ein zweites Drei-Wohnungshaus gekauft, hält sich ein Auto und blickt nur mehr mit heimlicher Verachtung auf uns herab.
Neulich hätte sie uns beinahe aus unserer Wohnung hinausgeschmissen, weil ich mich gegen ihre Herrschaft empörte und ihr allerlei sagte, was eine ‚Lady‘ wie sie nicht leicht verträgt. Bloß das Versprechen, stets für mich zu sorgen, das sie dem Vater vor seinem Tode gegeben, hinderte sie daran. So sagte sie nämlich allen Leuten, die des Weges kamen. In Wahrheit hat sie uns aber immer nur ausgenutzt. Daß wir die 4 Zimmerwohnung ‚Mansarde‘ für nur 16 Dollar monatl. haben, bringt sie anderwärts reichlich herein. Wäre mein Mann nicht so schafsgeduldig und mein Sohn nicht außer Arbeit gewesen, wie ers immer noch ist, wir wären sofort gegangen. Habs auch nicht im Sinn, immer ihren Hund zu machen. […]
In der Zeit meiner schweren Krankheit hat mich Marie nicht einziges Mal besucht, und als sie es, (das schlimmste war schon vorüber) denn endlich doch gnadenhalber oder anstandshalber tat, hatte sie ihren überfetteten Hund bei sich und brachte ihn mit vielen Schmeicheln und Bitten dazu, daß er zu mir ins Bett hopste. Und sie gab mir ein paar Verhaltungsmaßregeln und hopste, immer ihrem Liebling schmeichelnd, wieder hinaus.
Sie hat neulich meinen Mann aufgehetzt und tut es täglich mit meinem Sohn, bei dem sie allerdings nichts machen kann. Ihr Gedanke war, so wie wirs alle 3 seither überlegt haben, meinen Mann und Josef in ihre Hand als Aussaugeobjekte zu bekommen und mich irgendwo und wie unschädlich zu machen. Hat doch ihr Mann auch meinen Vater, der ihm nicht mehr genehm war, so leicht unschädlich gemacht. Ich werde den Kampf gegen sie nicht verlieren, so lange ich einen gesunden starken Buben habe, der seine Mutter so herzlich liebt wie meiner. Und sobald die Zeitläufte sich etwas bessern, werden wir das Haus der geld- und profitsüchtigen Megäre verlassen. Inzwischen müssen wir noch den Mund halten und uns vor ihr demütigen. Ein andermal was besseres liebe Gustie, so hoffe ich.“
So zieht Emerenz kurzzeitig zu ihrer Schwester Anna Gumminger ins 550 Meilen entfernte Kansas City. Ihr Sohn Joe ist dort überglücklich, mit seinem Onkel zur Jagd zu gehen und mit seinen Cousins in Wasser und Wald herumzustreunen.
Das Braurezept der Emerenz
„Ich will Euch mein Braurezept für Bier hier aufschreiben, fürchte aber, es wird Dir unmöglich sein es zu machen, weil Ihr das Malzextrakt und vielen Zucker nicht bekommen könnt in Deutschland. Koche ½ Pf. Hopfen, aber kein frisch gepflückter, mit 12-14 Liter Wasser 1 Stunde lang. Es kann emailliertes oder irgend ein Geschirr sein, nur nicht von Blech. Seihe es durch ein Tuch in ein Halbeimerfaß oder einen großen Steintopf. Dann koche 5–6 Pf. Malzextrakt und 2 Pf. Zucker in 12-14 Liter Wasser 20 Minuten lang und seihe es über den Hopfen ins Faß. Du kannst auch zu allem bloß die Hälfte Wassser kochen und das andre kalt draufgießen. Wenn die Flüßigkeit abgekühlt ist, tue soviel Preßoder Bierhefe daran, als man zu einer »Back« Brot braucht auch etwas aufgelöste Gelatine zum Klären. Laß es 2–3 Tage gären und schäume ab, so oft es notwendig. So bald es aufgehört hat zu gären muß es gleich vermittels Schlauch auf Flaschen mit Patentverschluß gefüllt werden.
Binde aber den Schlauch an ein Stöckchen so, daß er nicht ganz an den Boden des Faßes gelangen kann und rüttle letzteres nie der vielen Hefe wegen, die sich niedergesetzt hat. Nach 6 Tagen, während denen die Flaschen an einem dunklen, nicht kalten Ort stehen sollen, ist das Bier fertig, es kann dann gekühlt getrunken werden. Schäumt wie bestes Münchner und schmeckt vorzügl[ich]. Doch muß man beim Einschenken darauf achten, daß der Satz auf dem Boden der Flasche nicht aufgerührt wird. Ich koche jede Woche Bier auf Vorrat, damit es altern kann. Wenns 2 Wochen alt ist, schmeckts am besten. Starker Wein wird schnell hergestellt auf folgende Weise: 4 Pf. zerquetschte Rosinen, und 4 Pf. Zucker, ferner 2 Liter zerquetschtes Weizen- oder andres Korn werden mit 12–15 Liter kochendes Wasser übergossen. Nach Abkühlen wird 1/8 Pf. Hefe drangetan und das ganze einer 7-10tägigen Gärung überlassen, wobei es oft umgerührt werden muß. Dann abgeseiht u. d. Saft gut durchgepreßt, auf Flaschen gefüllt, klären gelassen f. ein paar Tage, aber nicht fest zukorken. Dieser Wein schmeckt wie Mosel, nur stärker ist er u. macht leicht besoffen. Je älter, desto besser wird er natürl[ich]. Die Prohibition zwingt die Leute hier, die verschiedensten Getränke selbst anzufertigen. Sogar Schnaps brennen sie daheim, wozu sie die Destillierapparate kaufen können. Nein, liebe Gusti, Tee kann ich immer noch nicht trinken, ich hasse ihn.“
Ihre Einstellung zum Alkoholverbot spiegelt sich in der Aussage: „Die Prohibition – auf die wird in Amerika gepfiffen. Gesoffen wird mehr als je vorher. Das Verbrecherunwesen hat schrecklich zugenommen, die Irrenhäuser sind überfüllt, die Friedhöfe füllen sich schneller und schneller. Die Schulen sind auf den Hund gekommen. Alles ist faul im Staate – Nordamerika.“
Familienglück mit John
In dieser Zeit feiert Emerenz auch ihren 50. Geburtstag, zu dem ihr auch ihre Schwester Anna Gumminger 12 Dollar zum Geschenk macht. Sie berichtet davon ihrer Freundin Auguste Unertl:
„Blumen und Bücher erhielt ich zu meinem Geburtstage. Mein Mann machte sich arbeitsfrei um nach Lust feiern zu können. Mein Bub brachte mir wieder einmal seinen ersten Zahltag heim. Er hat nämlich Anstellung in einer Maschinenwerkstatt gefunden mit 20 Dollar Anfangslohn per Woche. Ein großes Salair für einen Buben, der letzten 17. Juli erst 16 Jahre alt geworden. Wie wohl mir diese neue Hilfe tut, die mich, wenn alles gut geht, bald aus der ewigen Geldmisere herausreißen wird, kannst Du Dir denken.“
Der Umgang in Emerenz‘ eigener Familie hat sich durch die Wiederverheiratung mit John Lindgren grundlegend geändert. Wo lautstarke Auseinandersetzung die Regel war, tritt jetzt – trotz hartem Kampf ums wirtschaftliche Überleben und dem daraus resultierenden Verzicht aufs Schreiben – Ruhe und Geborgenheit ein. Sie schreibt über ihren „große[n] bayrische[n] Schwede[n]“, der trotz besonderer körperlicher Attraktivität für andere Frauen in absoluter Treue zu Emerenz lebt: „Ich war ja so zufrieden mit seiner [Johns] Liebe und seiner Gesellschaft. Denn keine Sorgen ließ er an mich herankommen und wenn ich krank war, pflegte er mich wie mit Engelshänden.“
Joseph – Joe Schmoeller: Die amerikanische Generation
Die wachsende Diskriminierung der Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg wirkt sich auch auf Joe aus. Mit zunehmendem Alter weigert er sich, die deutsche Sprache zu sprechen, obwohl er in eine Schule geht, in der deutschsprachige Kinder sind, die dort auch deutschsprachigen Unterricht erhalten. Diese liegt in der 1439 W Wellington Ave, nur 200 Meter von der Wohnung von Emerenz und Mary entfernt.
Emerenz Meier setzt sich auch differenziert mit den Identitätsvorstellungen der Jugendlichen in den Einwandererfamilien am Beispiel ihres Sohnes Josef auseinander, der ja bereits durch Geburt amerikanischer Staatbürger geworden ist:
„Wenn Du von einem auf amerikanischem Boden geborenen Buben, gleichviel welcher Nation seine Eltern sind, denkst, daß es ihn je nach dem Lande ihrer Herkunft ziehen würde, dann kennst Du die amerikanische Jugend nicht. Amerika ist für sie das glorioseste Land der Welt, die englisch amerikanische Sprache die einzig mögliche. Da hilft kein anderes Erziehenwollen. Sie schämen sich der Muttersprache, sobald sie die 4 Wände der Wohnung verlassen. Ja, sie setzen sich so krampfhaft gegen dieselbe zur Wehr, daß man seine Bemühungen endlich gerne aufgibt. Vor dem Kriege kam es noch häufig vor, daß in aus Deutschland stammenden Familien zuhause nur deutsch gesprochen wurde. Doch nicht mehr seit dem Kriege. Doch merke: die Abkömmlinge aller Nationen sind so, nicht bloß die Deutschen.“
„Stundenlang predige ich meinem Sohn manchmal von der Größe der Deutschen vor. Auch mein Mann tut es, der der größte Deutschenverehrer ist, den ich je im Leben getroffen.“
Greg Meier, der Ur-Urenkel der Schwester Petronella, der heute in Texas lebt, beschreibt die Problematik von Sprache und Identität in seiner Familie sehr eindrücklich:
„Georg [Meier, der Mann von Petronella] lernte nur minimal Englisch und Petronella lernte niemals Englisch zu sprechen. Sie war unglücklich, Bayern verlassen zu haben und sie wünschte ihr ganzes Leben lang, nicht nach Amerika gegangen zu sein. Die Kinder lernten alle in der Schule Englisch, und ihren Kindern, also meinem Großvater, seinen Schwestern und Cousins, wurde nur wenig Deutsch beigebracht. Während die Familie in der deutsch-amerikanischen Nachbarschaft lebte und einige deutsche Geschäfte besuchte, waren alle Kinder von Max [dem Enkel von Petronella und Sohn von Georg Meier jr.] und Petronellas Kinder sowie die Enkel angespornt, sich zu „amerikanisieren“, damit sie in ihrem neuen Land gut und erfolgreich leben könnten. In der Zeit meiner Generation können nur noch wenige Meier-Kinder ein bisschen Deutsch sprechen. Meiner Schwester und mir wurden nur ein paar deutsche Redewendungen zuhause beigebracht und wir wurden ermutigt, in der Highschool und auf dem College Deutsch zu lernen Da gibt es noch ein paar Rezepte, die von Schiefweg mitgebracht wurden, die heute immer noch in der Familie gekocht werden, etwa „hasenpfeffer“, „saurbraten“ und „rahmstrudel“ [wörtlich so in deutscher Sprache]“ [Übersetzung v. Verf.].
Emerenz Meier: Überleben statt Schreiben
Um sich vor dem eigenen Kulturverlust zu bewahren, stöbert Emerenz Meier in Antiquariaten nach deutscher Literatur. Voll Stolz berichtet sie nach Waldkirchen von ihren glücklichen Funden: der alten Goethe-Ausgabe, dem ganzen Jean Paul und Mörike.
Sie schreibt an den Jugendfreund und Dichter Hans Carossa: „Ich selber habe mich nach langen Kämpfen in die widrigen Verhältnisse geschickt und dem Schreiben entsagt. Mußte es, wollte ich nicht wie ein unbrauchbarer Fetzen verworfen werden. […] Wie jede besitzlose Einwandererin ward ich vor die Wahl gestellt, entweder in dienende Stellung oder in die Fabrik zu gehen. Ich wählte das Letztere, da ich dadurch bei den Eltern bleiben durfte.“
In einem Brief an ihre Freundin Auguste Unertl klagt Emerenz: „Eine Schriftstellerin, eine freigesinnte Waldlerin war ich gewesen und habe hier schmutzigen Juden die Wäsche gewaschen, lausig jungen, gummikauenden Frauen den Fußboden geschroppt, daß mir die Knie und Hände schmerzten, habe in Fabriken geschafft, wo alle Mädel über mich kicherten und mich Spinat nannten, während die Männer mich bei jeder Gelegenheit betasteten und kniffen und probierten, drah Dich hopp zu machen.“
Doch es gibt nur wenige Erzählungen der Emerenz Meier, die sich mit dem Leben in Chicago auseinandersetzen. Eine beschreibt das jämmerliche Leben und Sterben von „Bella“, so auch der Titel, einer „echte[n] Tochter der Alley, der schmutzigen Chicagoer Hintergasse“, die „nicht nur ungebundene Freiheit, sondern auch reichliche Nahrung gewährte“. Die knapp 13-jährige Bella verkörpert das verwahrloste, wilde Gassenmädchen, das „in wilde[r] Zärtlichkeit“ und „wahnsinniger Küsserei“ ihren John (und dessen Vater) liebt, von „ein paar freche[n] Kerls“ mit dem Auto überfahren und durch die Kinder der Straße in „eine[r] traurige[n] Prozession“ zu Grabe getragen wird.
In der Episode „Ein Ferientag dreier Gassenbuben“ skizziert Emerenz Meier in wenigen kurzen Dialogszenen das Sommerleben der Großstadtjungen am silberglänzenden Michigansee. Diese kurzen Erzählungsskizzen hat Emerenz nie veröffentlicht. Sie befinden sich lediglich in ihrem handschriftlichen Nachlass. Ein „paar Stücke“, die sie an Auguste Unertl schicken, und andere, die sie weiter verfassen will, sind nicht erhalten.
Heimweh: „ein paar Schöpfel von der Erde“
„Wie Du des Ausblicks auf den Dreisessel und den Gschlößlbauern erwähnst, ist eine tiefe Sehnsucht in mein Herz gekommen. Wie gern möchte ich die alte Waldheimat noch einmal wiedersehen! Aber wie könnte ich je zurück! So viele 100 Dollars, wie jetzt eine Europareise kostet, werde ich nie zusammenbringen. Außerdem würde draußen doch ein anderes Leid mein Herz zerreissen. Ich würde lauter tote Träume draußen finden und bittere Erinnerungen und ich könnte keine Heimat mehr in ihr sehen […].“
Mit dem Schwammerl-Paket aus dem Bayerischen Wald oder ihrem Wunsch nach dem Backrezept für Fastenbrezeln, (Weißbrot-) Laibel und „roggenen Weckerl“ von einem Waldkirchener Bäckergesellen versucht sie ihr Heimweh etwas zu dämpfen. Emerenz wünscht sich von den Unertls „ein paar Schöpfel von der Erde unsres Familiengrabes im Waldkirchnerfriedhof“, um sie „aufs Elterngrab streuen“ zu können. Andererseits gesteht sie ihrer Waldkirchner Freundin Auguste Unertl:
„Ihr seid die einzigen, die mein Herz noch an die alte Heimat knüpfen. Sonst ist Amerika und speziell Chicago meine Heimat. Hier habe ich meine trübsten und glücklichsten Jahre verlebt, hier ruhen meine liebsten Toten, leben meine Angehörigen. Ach Alles gibt es hier, bloß keine Menschen, mit denen man sich befreunden und denen gegenüber man sich aussprechen möchte.“
Krankheit und Tod: „Du würdest selber weinen“
In den Briefen der letzten Jahre berichtet Emerenz von vielfältigen Krankheiten, Gebärmutterinfektion, Lungenentzündung, Bronchialleiden, Brustfellentzündung und Asthma. Der Tod ihres zweiten Ehemanns John, der ein liebevoller Gatte und treusorgender (Stief-) Vater für Joe war, hat sie bitter getroffen.
Ein Brief an ihre Freundin in Waldkirchen verdeutlicht den Schrecken der Emerenz über die Krankheit ihres Mannes, die Ohnmacht gegenüber dem Verhalten der Krankenhäuser, ihr juristischer Kampf um Krankenhausaufnahme, ihre Verzweiflung über das Unausweichliche:
„Als er [ihr Mann John Lindgren] eines Tages heimkam mit schrecklichen Schmerzen im Kopf, die ihn später nie mehr verließen, konsultierten wir 3 Doktoren, doch keiner verstand, was ihm fehlte. Dann wurde er endlich geistesgestört und er rannte fort. Ich alarmierte die ganze Chicagoer Polizei und jagte selbst durch die ganze Stadt ihn zu finden. Es gelang mir. Er kannte mich nicht mehr. Am nächsten Tag bestellte ich eine Privatambulanz und brachte ihn nach einem berühmten Hospital, wo sie mir eine Aufnahme verweigerten, da sie solche Fälle nicht nehmen. Dann hieß es unter Tränen weiterfahren, bis ich ihn nach vielen Scherereien mit dem Gericht in dem der Stadt gehörigen pschychopathischen Hospital unterbringen konnte. Jeden Tag fuhr ich hin, doch er lag immer besinnungslos. Nur ein einziges Mal noch erwachte er etwas und als ich ihn herzte und küßte versuchte er, seine toten Arme um meinen Hals zu legen. Das war das letzte. Die Sektion ergab einen Abzeß (Geschwür) am Gehirn, sonst war sein ganzer Körper tadellos gesund.
Er war einer der feinfühligsten, gutherzigsten und pflichtgetreusten Menschen auf der Welt, dazu gebildet und ein schöner Mann. Er konnte Sprachen sprechen, lesen, und schreiben deutsch, englisch, französisch, schwedisch, auch norwegisch.“
Am Ende des letzten Briefes an die Freundin in Waldkirchen sieht die 53-jährige Emerenz sich und ihren Mann als die „zwei armen Fremdlinge in Amerika“.
Emerenz lebt nun nach dem Tod ihres zweiten Mannes John Lindgren im September 1925 zusammen mit ihrem Sohn Joe in der 1243 W Draper Street in Chicago. Ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich zusehends. Seit vier Jahren leidet sie bereits an einer „chronic myocarditis“, das heißt einer chronischen Herzmuskelentzündung, und seit einem Jahr wird sie von einer chronischen Nierenentzündung geplagt. Über einen Monat ist sie kontinuierlich bei ihrem Arzt Dr. Wallner in Behandlung. Obwohl ihr Sohn Joe am 28. Februar 1928 erneut den Arzt ruft, kann dieser ihr nicht mehr helfen. Sie stirbt am Vormittag um 11.45 Uhr im Alter von „53 Years, 4 Months, 25 Days“.
Emerenz Meier-Lindgren stirbt in der 1243 W Draper Street in Chicago, zwar bei ihrem Sohn, aber trotzdem in der Fremde. „Emma Lindgren-Schmoeller“ wird am 1. März im Krematorium des Graceland-Friedhofs verbrannt. Ihr Sohn streut dann entsprechend ihrem Wunsch ihre Asche auf dem Grab seiner Großeltern aus.
Friedemann Fegert
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Übrigens: Dieses Thema hat Dr. Friedemann Fegert auch in seinem Buch „Emerenz Meier in Chicago – Auswanderung und Leben Ihrer Familie in Amerika“ (Edition Lichtland; ISBN: 978-3-942509-36-7) aufgearbeitet.
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