Tittling/Freyung/Berlin. „Ich hab‘ eine relativ lange Geschichte beim Fernsehen, die bald zu Ende ist, weil ich ja nächstes Jahr in Pension muss“, erzählt Wolfgang Herles am Telefon -und wirkt dabei nicht unsympathisch. Angefangen hat der Journalist und Schriftsteller seine Karriere beim Radio des Bayerischen Rundfunks. Danach leitete er das ZDF-Hauptstadtstudio in Bonn. Dazwischen war er einige Jahre lang beim BR-Fernsehen tätig (unter anderem für Report München), moderierte die Rundschau und machte Beiträge für die Tagesschau und die Tagesthemen. Im Interview mit dem Onlinemagazin „da Hog’n“ berichtet der gebürtige Tittlinger über seine Kindheit im Bayerischen Wald, warum er die Medien und die Gesellschaft immer mehr in eine konformistischer Richtung abdriften sieht – und warum er sich mit dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl überworfen hat.
Herr Herles, Sie sind in Tittling geboren. Wie lange waren Sie denn dort beheimatet?
Ich bin im Alten Schulhaus von Tittling auf die Welt gekommen. Mein Vater war Lehrer. Ein paar Jahre später wurde er nach Hohenau versetzt. Dort wurde ich auch eingeschult. Wir haben im Schulhaus gewohnt – was zur Folge hatte, dass ich selten pünktlich zum Unterricht kam. Ich hab immer gewartet, bis es klingelt… Wenig später, mit sieben, sind wir an den Bodensee gezogen und ich hab dann die gesamte Schulzeit in Lindau verbracht.
Also wurde Ihr Vater damals als Lehrer nach Tittling versetzt?
Ja – erst war er in Tittling, dann in Hohenau. Das war gleich nach dem Krieg. Ich bin Jahrgang 1950. Mein Vater war Flüchtling, er kam aus dem Sudetenland. Er hat zuallererst als bischöflicher Jugendsekretär beim Bischof von Passau gearbeitet, war aber Lehrer.
„Erinnere mich ans Schwammerlsuchen und die Unmengen Schnee“
Welche Erinnerungen haben Sie noch an Ihre Zeit im Bayerischen Wald?
Ich hab relativ starke Erinnerungen – an zwei Dinge: Erstens ans Schwammerlsuchen in dichten Wäldern, wo wir auch Berge von Heidelbeeren – Schwarzbeeren sagt man ja im Bayerischen Wald – gesammelt haben. Ich war damals durchaus in der Lage, die Pilze voneinander zu unterscheiden, was ich mir heute nicht mehr zutrauen würde… Die zweite Erinnerung waren diese Unmengen an Schnee. Es war ja unvorstellbar, man brachte manchmal die Haustür nicht mehr auf, weil eine Schneewehe davor lag. Wir haben Skifahren ungefähr gleichzeitig mit dem Laufen gelernt. Natürlich ohne Lift und Piste – einfach nur den Hügel runter. Hohenau liegt ja auf einer Kuppe, da konnte man sich direkt vorm Schulhaus auf die Kuppe stellen und im Tiefschnee runtersausen. Diese schneereichen, eiskalten Winter werde ich natürlich nie vergessen.
Wenn Sie aus heutiger Sicht zurückblicken, wie haben sich die Medien im Laufe der Zeit journalistisch entwickelt?
Man muss feststellen: Es hat sich alles geändert. Von der Technik angefangen – wir haben damals noch auf Film gedreht, auf 16 Millimeter Zelluloid. Dazwischen kamen x andere Speichermedien – und jetzt ist alles digital. Man spielt nur noch auf Chips. Aus dieser Technik erwuchs ein völlig anderer Markt. Damals waren ARD und ZDF Monopolisten und es gab kein Privatfernsehen – heute gibt es unzählige Programme. Und nicht nur das: Das Fernsehen ist dabei, überhaupt als Medium infrage gestellt zu werden, weil die jungen Leute nicht mehr den Fernsehapparat anmachen, sondern sich alles, was sie brauchen, im Internet holen.
Das ist dieselbe Geschichte, die die Printmedien in die Krise bringt. Inhaltlich sind diese Folgen der technischen und ökonomischen Entwicklung aber noch verheerender – das ist das, was ich am Ende meiner Berufszeit heftig beklagen muss. Selbst beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen geht es nur noch um die Quote. Auch bei den Zeitungen, bei den Qualitätsmedien geht es nur noch ums Geschäft, nur noch um die Auflage. Der Journalist schreibt nicht mehr, was er für wichtig hält, sondern das was er glaubt, dass seine Leser, Zuschauer und Hörer lesen, sehen und hören wollen. Das ist eine Form der Anpassung, ein Konformismus, den ich verurteile.
„Wir leben in einer Demokratie, in der gar nicht mehr gestritten wird“
Wie kann man das in Richtung Zukunft weiterspinnen? Was macht das alles mit der Gesellschaft? Was mit der Demokratie?
Wozu brauchen wir die Medien? Wir brauchen sie, um Öffentlichkeit herzustellen. Ohne Öffentlichkeit kann Demokratie nicht funktionieren. Wenn diese Aufgabe vor allem auch von den öffentlich-rechtlichen Medien nicht mehr wahrgenommen wird, weil man gefällig sein will, weil es nur um den Unterhaltungswert geht, um immer weniger kritische Auseinandersetzung mit komplizierten Themen, wenn immer mehr popularisiert und personalisiert wird, immer mehr über das Banale oder Skandalöse berichtet wird, anstatt über wichitgere, aber schwerer verkäufliche Fakten – dann fehlt diese Öffentlichkeit, mit der sich der Bürger ein gutes Urteil bilden kann. Darunter leidet die Streitkultur.
Wir haben heute eine nicht ganz erfolglose Bundeskanzelerin, deren politisches Prinzip darin besteht, möglichst gar keinen Streit zustande kommen zu lassen. Normalerweise lebt Demokratie vom Kompromiss – aber der steht am Ende eines Streites. Wir leben in einer Demokratie, in der gar nicht mehr gestritten wird, sondern wo man von vornherein eine Meinungsumfrage in Auftrag gibt und dann die Politik macht, die die Meinungsumfrage bestätigt. Von Franz Josef Strauß, dessen Anhänger ich nicht unbedingt war, stammt der vollkommen richtige Satz ‚Du sollst dem Volk aufs Maul schauen, aber nicht nach dem Mund reden.‘ Heute passiert das genau umgekehrt. Das beklage ich. Es ist keine Frage der Parteipolitik, das gilt für die gesamte politische Klasse und leider auch für die Medien.
Besteht Hoffnung, dass sich das noch irgendwann einmal ändert?
Das kann ich schlecht voraussagen. Normalerweise ändert sich sowas in der Krise. Eine Gesellschaft, die es nicht gelernt hat, unter schwierigen Bedingungen miteinander auszukommen, tut sich schwer, wenn es nicht mehr so gut läuft. Im Moment läuft es gut – aber wer sagt, dass das immer so sein muss? Wir haben riesige ungelöste Probleme – von Europa bis hin zu sozialen Themen und die Veränderung der demografischen Verhältnisse. Man kann einige aufzählen, was von der Politik gar nicht angepackt wird.
Die Qualitätsmedien werden immer konformistischer, sagen Sie – liegt das hauptsächlich an wirtschaftlichen Faktoren?
Absolut. Man versteht den Journalismus nicht mehr als eine Aufgabe, sich mit schwierigen Themen auseinanderzusetzen, sondern man orientiert sich daran, was die Leute gern lesen oder hören. Mediennutzung wird immer mehr zu einem Unterhaltungsangebot. Das kann man auch am Spiegel oder am ZDF und der ARD sehen.
„Das Netz schüttet uns mit immer mehr vom immer Gleichen zu“
Irgendwie beunruhigend. Aber hier bestätigt sich wieder: Geld regiert nun mal die Welt, so abgedroschen das auch klingen mag…
Es gibt Leute, die sich vom Internet was erhoffen. Da wird gesagt: Wenn ihr nichts Gescheites mehr macht, informieren wir uns anders und gehen ins Netz. Leider ist es so, dass auch dort immer eine Tendenz besteht – allein durch die Suchmaschinen, durch die mechanische Auswahl dessen, was man zu sehen bekommt. Eine gute Zeitung liefert aber das Unerwartete, das Überraschende. Etwas, mit dem man sich auseinandersetzt, nicht weil man es gesucht hat, sondern weil man aus Zufall drauf gestoßen ist. Angefangen von den sozialen Netzwerken wird man im Netz mit immer mehr vom immer Gleichen zugeschüttet. Überraschungen gibt’s da keine mehr, weil das schon so ausgesucht wird, dass es einem gefällt. Die Medien funktionieren immer mehr nach dem Prinzip, dem Publikum das zu liefern, was es gerne sehen möchte. Im Netz ist das noch deutlicher als im Print und beim Fernsehen. Das ist eine verheerende Entwicklung.
Böses, böses Google…
So einfach kann man es sich nicht machen. Ob das Google ist oder eine andere Firma – so funktioniert die Netzwelt. Man teilt mit seinen Freunden, was einem gefällt – nicht, was einem nicht gefällt. Aber wichtiger wäre es oft, sich mit dem zu befassen, was einem nicht gefällt.
Das ist aber unbequem…
Ja, genau. Und darum ist es schwierig, wenn man Medienkonsum als Unterhaltung definiert. Dann ist das Unbequeme von vornherein in einer schlechten Position.
Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen werden immer wieder Nachrichten kredenzt, die zum Beispiel den Ukraine-Konflikt in einem gewissen Licht darstellen. Da werden möglichweise nicht alle Wahrheiten verkündet. Bestimmte Kanäle wie Anonymus prangern es an, dass immer nur die westlichen Ansichten vertreten werden. Wirklich objektiv ist diese Art von Journalismus ja nicht, oder?
Sie haben mit Ihrem Verdacht vollkommen recht. Die Nachtrichten konstruieren die Welt einfacher, als sie ist. Wir brauchen immer wie im Kasperltheater einen Guten und einen Bösen. Putin ist jetzt nun mal der Oberböse. Da wird dämonisiert auf Teufel komm raus. Mit einer objektiven Berichterstattung hat das nichts zu tun. Und schon gar nicht mit einer Lösung des Problems. Das gilt nicht nur für Tagesschau oder das ZDF – das ist generell in den deutschen Medien so. Das ist das, was ich mit Konformismus meine: Man einigt sich auf eine Perspektive – und dieses Weltbild wird dann verbreitet. Es wäre aber sinnvoller, von verschiedenen Seiten hinzuschauen und sich auch mal dafür zu interessieren, welche Leute auf ukrainischer Seite wirklich eine Rolle spielen. Das wird – vielleicht mit Absicht – klein gehalten, aber alles Böse aus Russland breitgetreten.
Das ist, offen gesagt, Verarsche von jedem, der in Deutschland für Radio und Fernsehen GEZ bezahlt…
Stimmt, aber das können Sie in den Zeitungen genauso finden.
„Ich hab mich damals mit Bundeskanzler Helmut Kohl überworfen“
Von 1987 bis 1992 waren Sie ZDF-Hauptstadtstudioleiter in Bonn. Wie haben Sie die bedeutende Zeit der Wende in Ihrer Position als Medienmacher erlebt?
Das ist ein weites Feld… Ich kann nur so viel sagen: Ich hab damals meinen Job quittieren müssen, weil ich mich mit Kohl damals überworfen habe. Ich hab damals einige Bücher geschrieben – mein erstes ist 1990 erschienen, also noch vor der eigentlichen Wiedervereinigung. Es hieß ‚Nationalrausch‚. Mein Problem war, aus nächster Nähe zu beobachten, wie Helmut Kohl und die Bundesregierung dieses historische Ereignis parteipolitisch instrumentalisiert haben. Aus diesem Grund hat er auch meiner Meinung nach zu früh die Währungsunion, die Sozialunion gemacht. Der 1:1-Umtausch war ein ökonomischer Schwachsinn und ist uns allen teuer zu stehen gekommen. Das habe ich damals kritisiert – aber das durfte man damals nicht, weil das ganze Land in einer Art Nationalrausch war.
Da haben Sie von politischer Seite ordentlich Gegenwind bekommen…
Was heißt Gegenwind. Ich hab versucht, gegen einen Sturm anzupusten. Das war von vornherein aussichtslos. Damals hab ich miterlebt, was es bedeutet, wenn nur der Mainstream gilt. Wenn man keine kritische Öffentlichkeit mehr hat. In dieser wilden Zeit der Wiedervereinigung gab es keine Kritik. Die war nicht zugelassen.
Diese politische Kritikresistenz blitzt ja immer wieder mal hervor…
Damals war das auch noch eine Generationenfrage. Die Generation von Kohl, Willy Brandt und Hans-Dietrich Genscher war wie von Sinnen vor Begeisterung. Das ist der Unterschied zur Nachkriegszeit. Da haben Adenauer und die SPD schwer gerungen um die großen Entscheidungen – um Westbindung, um Marktwirtschaft. Die wurden damals in einer sehr offenen Streitkultur behandelt. Damals war das Parlament wirklich noch ein Forum. 1989/1990 war das Parlament nur noch ein Gesangsverein.
„Das blaue Sofa„ moderieren Sie immer noch. Was ist Ihr persönliches Lieblingsbuch – und warum?
Das ist eine Frage, die man nicht beantworten kann. Das ist so, wie wenn Sie einen Feinschmecker fragen, was sein Lieblingsessen ist. Der hat ungefähr 200 Lieblingsessen. Sie können nicht von mir verlangen, dass ich jetzt ein Buch lobe. Ich kann sofort ein Buch loben, weil ich morgen eine Sendung moderiere, in der ich drei Bücher vorstelle – alle drei sind momentan meine Lieblingsbücher. Aber das ist nächste Woche schon anders.
„Ein Feuilleton, das nichts mehr mit der Realität zu tun hat“
Welches Buch lesen Sie denn zurzeit?
Ich lese im Moment ungefähr 30 Bücher – im Oktober ist die Buchmesse in Frankfurt und ich hab jede Menge Schriftsteller auf meinem Sofa sitzen. Darum habe ich jetzt schwer damit zu kämpfen, die Ernte des Herbstes zu verarbeiten. Ich könnte jetzt nur rein zufällig irgendeins nennen – aber auch 20 andere tolle Bücher.
Lesen Sie die 30 Bücher jetzt parallel…?
Da müsste ich ja alle fünf Minuten ein anderes nehmen. Aber ich sollte so ein, zwei Bücher pro Tag lesen. Lesen heißt in dem Fall, mir Gedanken machen, was ich mit dem Autor bespreche. Das ist nicht ganz so genussvoll. Das Schöne sind die Bücher, bei denen man vergisst, dass man sie aus beruflichen Gründen liest, wo man einfach nur noch in der wunderbaren Sprache aufgeht. Wenn einem das fünfmal im Jahr passiert, ist man mit allem anderen wieder versöhnt.
Wolfgang Herles und die Welt der Bücher – eine bemerkenswerte Liaison:
In Ihrem Wikipedia-Eintrag ist zu lesen: „Er ist ein vehementer Kritiker des traditionellen deutschen Sonderwegs der Kategorisierung zwischen ernster und unterhaltender Literatur.“ Stimmen Sie dem zu?
Es geht darum, dass große Hochliteratur und Unterhaltungsliteratur als zwei Paar Stiefel gelten – das ist in der angelsächsischen Literatur nicht so. Da ist auch die Hochliteratur so geschrieben, dass man sie einfach nur gerne lesen kann – während bei uns die künstlerischen Ambitionen die Bücher oft schwer lesbar machen. Dahinter steckt auch ein Feuilleton mit Leuten, die meiner Meinung nach nichts mehr mit der Realität zu tun haben, sondern nur noch in ihrem eigenen Saft schmoren. Darauf lasse ich mich nicht ein. Ich hab ein Massenpublikum – aber auch mein persönlicher Lesergeschmack ist so, dass ich gut lesbare Bücher möchte.
Vielen Dank für das Gespräch und weiterhin alles Gute, Herr Herles.
Interview: Stephan Hörhammer