Metten/Berlin. Stefan Mittermeier aus Metten hat sich nach dem Abitur für ein Studium der Ethnologie an der LMU München entschieden, weil ihn, so sagt er, „das menschliche Verhalten in all seiner Komplexität interessiert.“ Nun promoviert der 30-Jährige an der FU Berlin – und hat dafür ein virtuelles Polizeiverhör erstellt. Was es damit auf sich hat, inwiefern das deutsche Recht kulturell geprägt ist und warum der Forschungsbereich „Ethnologie“ für unsere Gesellschaft so wichtig ist, darüber spricht Stefan Mittermeier im Hog’n-Interview.
„Ethnologie beschäftigt sich mit Mensch als kulturelles Wesen“
Stefan, wie bist Du denn auf das Studium „Ethnologie“ gekommen?
Weil mich menschliches Verhalten in all seiner Komplexität fasziniert. Ethnologie erschien mir dabei als eine gute Wahl, da ich menschliches Verhalten als sehr stark kulturell geprägt erachte. Allerdings empfand ich die strikte Aufspaltung der Sozialwissenschaften in einzelne Fächer schon während des Studiums als wenig sinnvoll. Insofern habe ich eigentlich immer interdisziplinär gearbeitet und sowohl ethnologische als auch psychologische, soziologische und ökonomische Überlegungen zu kombinieren versucht.
Und was lernt man da so?
Die Ethnologie beschäftigt sich generell mit dem Menschen als kulturelles Wesen. Die Fragestellungen sind dabei genauso vielfältig wie die Sozialwissenschaften selbst. Wirtschaftsethnologen untersuchen beispielsweise wie moderne westliche Technologien in anderen kulturellen Kontexten eingebunden werden.
So werden im Sudan LKWs an die lokale, ländliche Umgebung angepasst. Sie werden völlig zerlegt und neu aufgebaut. Dabei werden in einfachen Dorfschmieden ingenieurswissenschaftliche Probleme gelöst, die selbst modern ausgebildete Techniker vor größte Schwierigkeiten stellen.
Die Medizinethnologie wiederum stellt sich die Frage inwiefern Krankheit kulturell definiert ist. Bestimmte Zustände, die in unserer Kultur als pathologisch gelten, werden in anderen Kulturen nicht stigmatisiert. Unter Umständen qualifizieren sich diese Menschen sogar im besonderen Maße für eine bestimmte Stellung in der Gesellschaft.
Die Einstellung von Autisten bei der Firma SAP sollte uns daran erinnern, dass es sinnvollere Behandlungsformen gibt als mit Medikamenten – und zudem billigere. Die Ethnologie zeigt uns eindrucksvoll, wie es andernorts gemacht wird und dass das, was wir als richtig und falsch begreifen, nicht unumstößliche Gültigkeit besitzt, sondern Ergebnis eines kulturellen Prozesses ist.
„Davon überzeugt, dass unsere Entscheidungen rational sind“
Deine Spezialisierung liegt in den Bereichen Emotionen und „bounded rationality“ sowie Rechtsethnologie und Täuschungsforschung. Was ist denn „bounded rationality“? Und warum ist es so wichtig, in den Bereichen Rechtsethnologie und Täuschung zu forschen?
Gerade in unserer Kultur sind wir davon überzeugt, dass unsere Entscheidungen rational sind. Dass wir die Konsequenzen von Handlungsalternativen sorgfältig abwiegen und uns dann für diejenige entscheiden, die uns am besten erscheint, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Die meisten Entscheidungssituationen sind allerdings derart komplex, dass eine sorgfältige Abwägung schlicht unmöglich ist.
Der banale Akt einen Ball zu fangen, ist zum Scheitern verurteilt, wenn man davon ausgeht, dass der Mensch alle notwendigen Informationen wie Entfernung, Höhe, Abwurf- oder Wind- und Drehgeschwindigkeit abschätzt, um den Aufprallort zu berechnen. Da wir uns in solchen Situationen trotzdem erfolgreich verhalten können, stellt sich die Frage, welche Alternativen es zur rationalen Vorgehensweise gibt.
Die „bounded rationality“, die Theorie der begrenzten Rationalität, geht davon aus, dass der Mensch über einfache Daumenregeln oder sogenannte Bauchgefühle verfügt, um diese komplexen Aufgaben zu bewältigen. Wie effektiv der Mensch mit diesen einfachen Regeln handeln kann, zeigen die Studien von Gerd Gigerenzer über das Verhalten von Laien am Aktienmarkt, die sich genauso gut schlugen wie die ausgetüftelten statistischen Algorithmen der Experten. In meiner eigenen Forschung habe ich untersucht, wieso eBay in China scheiterte, nachdem der lokale Konkurrent Taobao den Markt betreten hatte.
Es hat sich dabei gezeigt, dass für die chinesischen User die Anwendung ganz bestimmter Strategien maßgeblich verantwortlich ist für den sogenannten ‚Joy of Use’ – der Spaß, der entsteht, wenn man auf diesen Plattformen Handel treibt. Diese Strategien sind oft pfiffig verstandene Täuschungen, deren Wahl auf ganz einfache Regeln zurückzuführen sind.
Allerdings konnten die chinesischen User diese Strategien bei eBay nicht anwenden und gaben, meines Erachtens, deswegen Taobao den Vorzug. Erst eine gründliche rechtsethnologische Untersuchung des chinesischen Moral- und Rechtssystems erlaubt es, dieses Phänomen völlig zu verstehen. Ich denke, dass gerade die Rechtsethnologie deswegen wichtige Impulse liefern kann, damit wir kulturelles Verhalten, das uns fremd und unverständlich erscheint, richtig einzuordnen.
Experiment „Polizeiverhör“: Wer wählt welche Verhör-Strategie?
In Deiner Promotion beschäftigst Du Dich mit virtuellen Umgebungen als Erhebungsmethode für sozialwissenschaftliche Daten. Wie wichtig sind virtuelle Umgebungen mittlerweile für die Forschung? Kann man damit tatsächlich ein reales Rollenspiel simulieren?
Die Verwendung von virtuellen Umgebungen als Erhebungsmethode steckt praktisch noch in den Kinderschuhen. Die meisten Studien, die diese Methode verwenden, kommen meines Wissens nach aus der Kriminologie und der Katastrophen- oder Krisenforschung. ‚Serious games’ werden schon relativ lange verwendet, um Verhalten zu trainieren. Warum also nicht dieselbe Methode verwenden, um Verhalten zu beobachten und zu analysieren? Natürlich ist das nicht immer für die Datenerhebung geeignet, aber wir wissen zum Beispiel von Computerspielen, dass sie durchaus reale Emotionen auslösen können und zumindest kognitiv die Trennung zwischen Realität und Fiktion kurzfristig verwischt. Das sollten sich die Sozialwissenschaften zunutze machen.
Angenommen, man möchte die Reduzierung der Risikobereitschaft eines Verkehrserziehungsprogramms für Kinder und Jugendliche auswerten. Normalerweise werden dazu vorher und nachher Fragebögen ausgeteilt und deren Ergebnisse anschließend miteinander verglichen. Alternativ könnte man eine Situation im Straßenverkehr simulieren, in der sich die Risikobereitschaft zeigt.
Ich denke, dass die letztere Methode die besseren Daten liefert. Beachten sollte man bei virtuellen Umgebungen allerdings dasselbe wie bei allen anderen Methoden auch: Keine Messmethode kopflos auswählen und penibel darauf achten, welche Aussagen die gewonnen Daten tatsächlich erlauben.
Für Deine Promotion hast Du eine solche virtuelle Umgebung konstruiert. Bei diesem Experiment wird ein Verhör simuliert: Der Versuchsteilnehmer schlüpft in die Rolle eines Polizisten und muss sich für eine Verhör-Strategie entscheiden. Mit welchen Ergebnissen rechnest Du und was sagen diese Ergebnisse aus?
Die Daten zeigen bereits, dass das Verhalten vieler Teilnehmer nicht einem Optimierungsgedanken folgt. Im Sinne der ‚bounded rationality’ sind hier ganz einfache Regeln am Werk. Das Experiment verwendet ein fiktives Szenario. Es geht also nicht darum, konkrete Vorhersagen in der Realität treffen zu können. Die Ergebnisse sollen vielmehr darüber Aufschluss geben, welche kognitiven Prozesse ablaufen, wenn sich die Untersuchungspersonen in einer hochkomplexen Situation entscheiden müssen.
Leider kann ich an dieser Stelle nicht deutlicher werden, da das die Ergebnisse verfälschen könnte. Fest steht jedenfalls: Wir müssen menschliches Verhalten intensiv untersuchen, um unsere Gesellschaft besser organisieren zu können. Woran liegt es beispielweise, dass die Organspendebereitschaft in denjenigen Ländern um einiges höher ist, wo der Entnahme von Organen explizit widersprochen werden muss, als in Ländern wie Deutschland, wo man die Entnahme bejahen muss?
„Auch das deutsche Recht ist maßgeblich kulturell geprägt“
Warum hast Du Dich für ein Polizeiverhör entschieden?
Mein Promotionsprojekt beginnt mit einer rechtsethnologischen Untersuchung der deutschen Rechtsauffassung hinsichtlich bestimmter Grundkonzepte im deutschen Recht. Denn auch das deutsche Recht ist maßgeblich kulturell geprägt. Der Bereich des Rechts, auf den sich das Experiment bezieht, eignet sich sehr gut, um diese Grundkonzepte zu untersuchen. Außerdem gibt es in diesem Bereich einen Fundus an Strategien, die höchstrichterlich verhandelt wurden.
Bei Deinem Experiment wird man auch nach der Nationalität gefragt. Warum ist das wichtig?
Prinzipiell empfiehlt es sich immer, demographische Daten wie Alter oder Geschlecht zu erheben, da diese Faktoren das Verhalten beeinflussen können. Es zeigen sich beispielsweise in meinen Daten deutliche Unterschiede in der Verhaltensweise zwischen Männern und Frauen.
Da Dein Experiment im Internet durchgeführt werden kann: Wer kann daran teilnehmen?
Jeder, der etwas gewinnen will!
Können die Teilnehmer die Ergebnisse des Experiments einsehen?
Ja, ich werde einen Teil der Ergebnisse auf meiner Homepage veröffentlichen.
Und wie geht es nach der Promotion beruflich weiter?
Ich würde gerne im Bereich Usability/User Experience arbeiten. Das Thema „Mensch-Maschine-Interaktion“ ist ein sehr spannendes Arbeitsfeld für Sozialwissenschaftler – und gerade in einer internationalen Wirtschaftswelt gibt es diesbezüglich noch sehr viel interkulturellen Optimierungsbedarf!
Stefan, vielen Dank für das Interview!
Interview: Dike Attenbrunner