Passau. Andrea Krallinger aus Passau studiert Grundschullehramt im neunten Semester – und fotografiert leidenschaftlich gerne. Die 24-Jährige hat den Verein „Ganz schön krank e.V.“ ins Leben gerufen, einen gemeinnützigen Fotografie- und Kunstverein zur Förderung der Inklusion von Menschen mit Handicaps. Weil sie, selbst schwerbehindert, Menschen mit einer Behinderung so zeigen will, wie sie sind: einfach schön. Ein Interview über die Akzeptanz von Behinderungen, über Inklusion, Ästhetik und „Normalität“.
Ob ein Mensch etwas schön findet, entscheidet nur er selbst
Andrea, Du hast den gemeinnützigen Verein„Ganz schön krank e.V.“ ins Leben gerufen. Warum?
(lacht) Ganz ehrlich? Damit ich Spendenquittungen ausstellen kann, um mein Fotoprojekt zu finanzieren. Das war der vorrangige Grund. Auf der Suche nach Gründungsmitgliedern ist mir aber ganz schnell klar geworden, dass es noch tausend andere großartige Ideen gibt, die ich mittels dieses Vereins umsetzen kann.
Du hast bei Deinem Fotoprojekt Menschen mit einer Behinderung fotografiert. In unserer Welt ist alles vom äußeren Schein, von Schönheit, Perfektionismus und Ästhetik geprägt. Passen „Menschen mit Behinderung“ da rein?
In der Welt von Karl Lagerfeld haben wir sicherlich keinen Platz (lacht). Aber das macht nichts – auch das gehört zur Inklusion: Nicht jeder muss alles können, dürfen und machen. Wobei, da fallen mir Mario Galla oder auch Myriam Hagemann ein: Beide sind Models und tragen Beinprothesen. … Aber zurück zur Frage: Alle Menschen, die sehen können, nehmen ihre Umwelt sehr intensiv mit den Augen wahr. Der Mensch ist in der Regel ein Wesen der Visualität. Aber ob etwas schön ist, entscheidet er selbst. Ich denke, die Entscheidungen fallen mit Hilfe eines Schubladen- oder Filtersystems, das ihm durch seine Erziehung auferlegt und durch die Medien maßgeblich weiterentwickelt wurde. Gäbe es diese Schubladen und Filter nicht, hätten wir wohl auch nicht so viele Probleme auf dieser Erde. Man könnte den anderen akzeptieren, so wie er ist. So, wie er „ausschaut“. Bei meinem Projekt fotografiere ich die Menschen so, wie ich sie sehe: schön.
Wie soll man mit etwas umgehen können, das man nicht kennt?
Haben viele Mitmenschen vielleicht Berührungsängste was Behinderungen angeht?
Wahrscheinlich schon – sonst gäbe es das Wort „Inklusion“ wohl gar nicht.
Woran liegt das? Ist das Betroffenheit und ein „Nicht-Wissen, wie ich damit umgehen soll“? Oder haben die Leute vielmehr Angst davor, dass ihnen auch etwas Ähnliches zustoßen könnte?
Das Ganze kommt sicherlich daher, dass Menschen mit Handicap nach wie vor in „spezielle“ Einrichtungen geschickt werden. Wenn man gehandicapte Menschen im Alltag nicht trifft: Wie soll man dann lernen, wie man einem Rollstuhlfahrer behilflich ist? Woher soll ich wissen, was ich tun muss, wenn jemand mit Epilepsie einen Anfall hat? Wie verhalte ich mich im Umgang mit einem Spastiker? Diese Hemmungen und das Nichts-Tun in erforderlichen Situationen kann ich nur so erklären: Angst.
Und jetzt wird’s tiefenpsychologisch: Alles, was ungewiss, unbekannt und neu ist für den Menschen, ist ein potenzieller Angst-Faktor. Wenn plötzlich einer im Rollstuhl daherkommt oder jemand einen epileptischen Anfall hat, dann ist das in der Tat etwas Neues und Unbekanntes. Viele bekommen es dann mit der Angst zu tun, weil sie nicht wissen, wie sie reagieren sollen …
Irgendetwas tun ist allemal besser, als gar nichts zu tun
Diese Angst hat für mich etwas mit der Menschheitsgeschichte zu tun: Generationen von Menschen wurde diese Angst anerzogen. Das ist aber niemandem mehr bewusst. Und hier liegt der Hase im Pfeffer: Es ist den Menschen nicht bewusst, was in ihnen abläuft, wenn sie eine Angstreaktion zeigen. Und somit erschaffen sie unbewusst Folgesituationen.
Nehmen wir ein heftiges Beispiel: Ein Epileptiker hat in der Fußgängerzone einen grand-mal Anfall. Alle sehen zu, niemand hilft. Du bist einer der Anwesenden. Auch wenn Du nicht weißt, wie Du Dich verhalten sollst: Du merkst, dass Du hilflos bist und entscheidest Dich bewusst dafür, irgendetwas zu tun. Und wenn Du dem Betroffenen nur die Hand hältst und den Notarzt rufst. Du siehst, dass sein Kopf ungeschützt ist und legst deine Jacke darunter. Du merkst, er atmet schwer und bringst ihn in die stabile Seitenlage. Und schon bist Du jemand, der etwas Gutes erschaffen hat. So einfach geht das. Es gibt nur ein Richtig: wenn Du Dich bewusst dafür entscheidest. Sich für irgendwas zu entscheiden ist allemal besser, als nichts zu tun.
Euer Verein hat sich die Förderung von Inklusion zum Ziel gesetzt, ein Begriff der derzeit in aller Munde ist. Manche behaupten jedoch, es handle sich dabei lediglich um einen Modebegriff – und von einer wirklichen Inklusion sei die Gesellschaft noch weit entfernt. Wie siehst Du das?
Ja, ich sehe das ähnlich. Für mich ist Inklusion gleichzusetzen mit gesundem Menschenverstand. Ist es nicht selbstverständlich, allen mit einem Lächeln zu begegnen? Unsere große Gemeinsamkeit in der Menschheit ist, dass jeder einmalig ist. Auch das ist den Menschen nicht mehr bewusst.
Jeder Mensch ist einmalig – und jeder ist gut, so wie er ist
Wie kann Inklusion denn funktionieren? Was muss sich ändern?
Ich glaube, wir sind deshalb noch so weit von wahrer Inklusion entfernt, weil die meisten nicht verstehen, dass Inklusion von einem selbst heraus geschaffen wird. Nur wenn jeder Einzelne sich öffnet und andere sein lässt, wie sie sind, dann können wir gemeinsam das „Inklusionsbaby“ schaukeln. Und das muss man auch den Kindern in der Schule erzählen: Jeder ist gut, so wie er ist. Egal ob jemand ADHS hat, abstehende Ohren oder Trisomie 21. Und deshalb sollten auch alle gemeinsam in eine Schule gehen. Gemeinsam studieren. Gemeinsam arbeiten. Und gemeinsam alt werden. Das würde alles so viel einfacher machen.
Diese Botschaft wird aber, soweit ich weiß, schon seit Jahrthunderten gepredigt – angekommen in den Köpfen der Menschen ist sie aber immer noch nicht.
Wie willst Du Deinen Beitrag zur Inklusion leisten?
Ich möchte innerhalb von Kunstprojekten die Schönheit und Ästhetik zeigen, die das Thema Handicap beinhaltet. Bei „Ganz schön krank“, meinem Fotoprojekt, lasse ich Menschen mit Handicap als Model fungieren und zeige sie so, wie die meisten Menschen sie nicht sehen: Einmalig, schön und ästhetisch.
Menschen lassen sich leicht mit schönen Bildern ködern
Warum eignet sich ausgerechnet Kunst dazu, Leute wachzurütteln?
Kunst eignet sich deshalb so gut, weil der Mensch als visuelles Wesen sich sehr leicht mit schönen Bildern ködern lässt.
Welche Art von Kunst machen Eure Mitglieder?
Wir sind hauptsächlich ein Fotografieverein. Deshalb sind die meisten Projekte auch Fotografieprojekte.
Du hast ja eine Fotoausstellung gemacht. Was ist in dieser Ausstellung zu sehen?
In der Ausstellung waren 19 Porträtaufnahmen zu sehen, von Menschen mit Handicap. Zu jeder Fotoleinwand gibt es zwei Texte: Einmal ein Diagnosetext, der sachlich die Diagnose, Symptomatik und Behandlungsmöglichkeiten beschreibt. Zum anderen ist da noch der persönliche Text, der den Teilnehmern die Möglichkeit bietet, ihre Message zu verbreiten und zu sagen, was sie schon immer mal sagen wollten in Bezug auf ihre Krankheit oder ihre Behinderung.
Auf Deinen Fotos sind die Porträtierten schön, strahlen oft Lebensfreude aus – von den „Behinderungen“ und Krankheiten sieht man nichts oder kaum etwas. Verschleiert das die Krankheit oder „Behinderung“ nicht eher?
Das wäre in der Tat ein Argument – zeugt aber nur davon, dass man nicht genau hingesehen hat. Mein Projekt ist sehr vielschichtig. Es geht nicht nur um offensichtliche Handicaps. Das wäre plump. Ich zeige bewusst Menschen, deren Geschichte man nicht auf Anhieb sieht. Bei den Teilnehmern, die Hilfsmittel brauchen wie zum Beispiel einen Rolli, ist dieses Hilfsmittel auch abgebildet. Man muss nur genau hinsehen.
Auch ich bin schwerbehindert – mein Leben ist trotzdem schön!
Die Porträtierten haben zu den Fotos, wie schon erwähnt, immer etwas dazu geschrieben. Erstaunlicherweise finden sie auch viele positive Seiten an ihrer Behinderung … ist das nicht verwunderlich?
Naja, also, diese Frage finde ich ehrlich gesagt sehr verwunderlich. Auch ich bin schwerbehindert. Mein Leben ist trotzdem lebenswert, schön und voller Liebe. Diese Frage stellt sich nur jemand, der das Leben äußerst pessimistisch sieht und bei den kleinsten Hürden schon aufgibt. Ich finde es schade, wenn jemand so denkt. Ich für mich bin die normalste Person auf der Welt – und dazu gehören zum Beispiel auch meine epileptischen Anfälle. Und trotzdem blase ich kein Trübsal.
Deine Fotos befinden sich aktuell auf einer Wanderausstellung in Deutschland. Wo kann man die Ausstellung demnächst bewundern?
Die Ausstellung wandert, richtig. Die nächsten Stationen sind unter anderem in Ulm, Bonn, Frankfurt, Stuttgart und München.
Abschließend: Wer kann Euren Verein wie unterstützen?
Jeder kann den Verein unterstützen – ganz einfach durch eine Spende. Mit dem Geld werden die Portokosten, Fahrt- und Druckkosten für die Ausstellungen bezahlt.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Interview: Dike Attenbrunner
Egal ob Sach- oder Geldspenden – der Verein ist für jede Unterstützung dankbar. „Die Vereinsarbeit ist ehrenamtlich und kommt von Herzen, aus Leidenschaft und Überzeugung“, heißt es auf der Homepage. Um Material- und Reisekosten, aber auch sonstige Aufwendungen decken zu können, ist „Ganz schön krank e.V.“ auf Ihre Hilfe angewiesen.
Spendenkonto – Sparkasse Passau
Kontonummer: 3031733
BLZ: 740 500 00