Freyung-Grafenau. Ein Rollstuhlfahrer steht vor einem öffentlichen Gebäude und kommt nicht hinein: Treppen vor der Eingangstür versperren ihm den Weg. Eine alleinerziehende Mutter kann nicht wieder zurück in den Beruf: Die Kindertagesbetreuung hat nicht geöffnet, wenn sie arbeiten muss. Eine Seniorin kann nicht in ihrem Dorf wohnen bleiben: Sie findet dort keine geeignete Wohnung.
All diese Szenarien sollen im Landkreis Freyung-Grafenau nicht mehr vorkommen, wenn es nach Anita Moos geht. Die Behindertenbeauftragte ist Teil der Arbeitsgruppe „Soziale Gerechtigkeit und zukunftsfähige Gesellschaft“. Im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie, die in den nächsten Monaten entstehen soll, erarbeitet sie Konzepte und Ziele für Freyung-Grafenau, um Barrieren aus dem Weg zu schaffen.
„Das Schwierigste ist, Prioritäten zu setzen“
„Vor dem ersten Treffen zum Thema Nachhaltigkeitsstrategie habe ich noch gedacht: Was soll ich hier?“, erzählt Anita Moos. Dann aber sei ihr schnell klar geworden: Hier bietet sich die Möglichkeit, all das voranzubringen, wofür sie seit Jahren kämpft: „In allen Bereichen des Zusammenlebens müssen die Belange behinderter Menschen berücksichtigt werden“, betont sie. „Wir müssen in allen Bereichen an diejenigen denken, die in einer Umgebung klarkommen müssen, die nicht für sie gebaut ist.“
Anita Moos leitete zwanzig Jahre lang ein Pflegeheim in Röhrnbach. Was es bedeutet, nicht mehr so mobil und eigenständig zu sein, weiß sie aus ihrem Berufsalltag nur zu gut. Als Behindertenbeauftragte ist sie außerdem seit vier Jahren Ansprechpartnerin für Menschen mit Handicap, die Hilfe benötigen.
Doch der Bereich soziale Gerechtigkeit geht noch viel weiter: Niemand soll irgendwo benachteiligt werden, Hindernisse überwinden müssen. Es geht also nicht nur um Menschen mit Behinderung, die im wortwörtlichen Sinne mit Hindernissen zu kämpfen haben. Es geht auch um Senioren, ausländische Mitbürger oder Familien: Wenn mangelnde oder unflexible Kinderbetreuung der Mutter im Weg steht, die wieder zurück in den Beruf möchte. Wenn Flüchtlinge keine Chance bekommen, sich zu integrieren. Oder wenn alte Menschen ihren Lebensmittelpunkt verlassen müssen, weil es keine Möglichkeiten für seniorengerechtes Wohnen und Betreuung vor Ort gibt.
„Das Schwierigste ist, Prioritäten zu setzen“, sagt Anita Moos. So viele Bereiche gelte es zu berücksichtigen: Offene Behindertenarbeit genauso wie Kinder- und Jugendarbeit. Senioren genauso wie Mütter mit Babys. „So viele Dinge spielen ineinander“, sagt sie. „Wir wollen Barrierefreiheit in allen Bereichen ermöglichen – aber eine zukunftsfähige Gesellschaft braucht auch gute Erzieher und Lehrkräfte.“
Anita Moos will flexiblere Kinderbetreuung
Welche Möglichkeiten hat der Landkreis in all diesen Feldern überhaupt? In ihrer Tätigkeit als Behindertenbeauftragte kann Anita Moos schon jetzt einiges bewirken: Sie ist Ansprechpartnerin für alle Menschen mit Handicap, die Hilfe benötigen, aber nicht recht wissen, wohin sie sich wenden können, welche Formulare sie ausfüllen oder welche Hilfen sie überhaupt beantragen können. Zudem macht die 69-Jährige die Politiker immer wieder darauf aufmerksam, wo bauliche Maßnahmen nötig sind, um Barrieren zu beseitigen. „Bei öffentlichen Baumaßnahmen etwa, die gefördert werden, gebe ich eine Stellungnahme ab, ob die Belange behinderter Menschen bei der Planung berücksichtigt wurden“, erklärt Moos.
Die Arbeit als Behindertenbeauftragte macht sie zur Expertin im Bereich „soziale Gerechtigkeit“ im Landkreis. Barrierefreie Busse, behindertengerechte Toiletten, barrierefreier Zugang zu Arztpraxen – all das hat Anita Moos im Blick.
Sie selbst ist Mutter von sieben Kindern, alle bereits erwachsen. „Jetzt erlebe ich als Oma mit, wie schwierig es ist, als Frau berufstätig zu sein“, sagt sie. Großeltern müssten in der Regel einspringen, wenn die Kita nicht früh genug öffnet oder zu früh wieder schließt, wenn Mütter nicht flexibel entscheiden können, zu welchen Zeiten sie ihre Kinder betreuen lassen möchten. „Am schwierigsten ist die Situation für Alleinerziehende.“
Keine Sonderregelungen für kleine Gruppen
Wird sich daran etwas ändern, wenn der Landkreis eine Nachhaltigkeitsstrategie erstellt hat und das Thema soziale Gerechtigkeit miteinfließt? Anita Moos betont: „Das alles ist ein langer Prozess, das geht nicht von heute auf Morgen.“ Das Wichtigste an der Strategie sei, dass sie die Möglichkeit biete, alle Bemühungen auf einer höheren Ebene miteinander zu verknüpfen. „Es sind gute Ansätze im Landkreis da“, sagt die Behindertenbeauftragte. „Diese müssen gebündelt werden und alle sollen mitkriegen: Hier muss etwas vorangebracht und geändert werden.“
Klar ist ihr aber auch: „Einzelne Punkte, die nur Minderheiten betreffen, dürfen nicht überbetont werden.“ Sie ist dagegen, nur auf Sonderregelungen für kleine Gruppen zu setzen. „Das bringt uns nicht weiter“, ist sie überzeugt. Stattdessen müsse die Gesellschaft alle Menschen miteinbeziehen. „Wir brauchen beispielsweise keine speziellen Veranstaltungen nur für behinderte Menschen“, sagt sie. „Stattdessen müssen auch behinderte Menschen, Ältere oder Flüchtlinge die Möglichkeit bekommen, bei jeglichen Veranstaltungen, die im Landkreis stattfinden, mit dabei zu sein.“
Geeignete Wohnungen für Senioren im gesamten Landkreis
Was also ist ihr Ziel im Hinblick auf die Nachhaltigkeitsstrategie? „In den Gemeinden, in der Politik und in der Gesellschaft alarmieren: Wo brennt es in Sachen Inklusion, sozialer Gerechtigkeit und Teilhabe?“ Ihrer Meinung nach ist dies – wie erwähnt – bei der Kinderbetreuung der Fall, die nicht flexibel genug ist. Außerdem: „Geeignete Wohnungen für Senioren muss es im gesamten Landkreis geben, nicht nur in den Städten.“
Jeder Einzelne, der etwas in punkto Nachhaltigkeit bewirken könne zähle in ihren Augen. „Kleinigkeiten machen Schule – und am Ende verändern sie die Gesellschaft“, ist sich Anita Moos sicher. Und sei es nur, dass man öfter mal mit dem Rad fährt oder sein eigenes Gemüse im Garten anbaut.
Sabine Simon
Liebe Frau Anita Moos,
meine Hochachtung für dieses großartige Engagement!
Sie sind ein wahrer Lichtblick in einer ansonsten von Egozentrikern dominierten Gesellschaft.
Sie sind eine Mutmacherin, die höchsten Respekt verdient!
Tausend Dank!
Bei der Gelegenheit will ich gerne auf dieses Projekt hinweisen:
https://rolli-cam.de/
Vielen lieben Dank Peter. Wir von Rolli-Cam dokumentieren aus Sicht von E-Rolli-Fahrern die Barrierefreiheit in Städten und Gemeinden.