Grafenau. „Man muss Entlastung haben, bevor der Akku leer ist“, sagt Daniela Springer. Sie leitet die Offene Behindertenarbeit der Lebenshilfe Grafenau. „Leider wissen viele nicht, dass wir im gesamten Landkreis tätig sind“, bedauert sie. Denn Daniela und ihre Kolleginnen wollen allen Familien in Freyung-Grafenau zur Seite stehen, die ein behindertes Kind oder einen behinderten Erwachsenen betreuen.
„Leben so normal wie möglich“ steht auf dem Flyer der Offenen Behindertenarbeit. Das wollen Daniela Springer und ihr Team allen Menschen mit Behinderung und deren Familien ermöglichen. Gemeinsam lachen, einfach mal abschalten, Abwechslung erleben: All das schafft der Verein und seine Mitglieder, indem sie Betreuung und Freizeitangebote für Behinderte anbieten.
Auch betreute Übernachtungen möglich
Zunächst ist das Team der Offenen Behindertenarbeit Ansprechpartner für Familien, die sich um einen gehandicapten Menschen kümmern: „Wir beraten zu allen Themen rund um Behinderung“, erklärt Veronika Fürst. Sie gehört neben Daniela Springer und drei weiteren Kolleginnen zur Kerngruppe. Bei ihnen laufen alle Fäden zusammen, sie führen die Erstgespräche mit denjenigen Eltern, die sich zum ersten Mal an die Lebenshilfe wenden. Information ist aber nur ein Aspekt von mehreren: Das Team der Offenen Behindertenarbeit organisiert obendrein Betreuungen für Menschen mit Behinderung, bietet zahlreiche Freizeitaktivitäten an – und veranstaltet auch Reisen.
Etwa 180 Familien werden derzeit vom Lebenshilfe-Team umsorgt, darunter befinden sich Menschen jeden Alters mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen und chronischen Erkrankungen. 120 Mitarbeiter, die allermeisten davon ehrenamtlich, sind im Einsatz. Sie greifen den Familien unter die Arme: Wer möchte, kann sein behindertes Kind hier stundenweise oder tageweise pflegen lassen – oder auch mal rund um die Uhr denn: Auch Übernachtungen sind möglich. Die Kosten dafür trägt die Pflegekasse. Mehr als zwanzig Stunden kann jeder Klient pro Monat in Anspruch nehmen.
Die Betreuer können zu den Familien nach Hause kommen, zudem steht seit sechs Jahren auch das moderne Lebenshilfe-Haus zur Verfügung. Hier gibt es nicht nur einen großen Gruppenraum samt Küche, sondern auch Bade- und Übernachtungszimmer mit insgesamt fünf Betten. Im Untergeschoss kann man sich im Bällebad austoben oder im Wasserbett bei Musik und farbigem Licht entspannen.
So ein Haus zu bauen kostet natürlich Geld. Und hier ist die Offene Behindertenarbeit stark auf Förderungen angewiesen. Es gibt für die Arbeit der Lebenshilfe Zuschüsse vom Freistaat und vom Bezirk Niederbayern. Den Rest finanziert der Verein mit Spenden und Mitgliedsbeiträgen.
Kochen, Basteln, Schwimmen – oder lieber Disco?
Das dazugehörige Programmheft ist prall gefüllt: basteln, kochen, tanzen, kegeln, ins Schwimmbad oder zusammen in die Disko gehen stehen normalerweise im Kalender der Offenen Behindertenarbeit. „Die einzelnen Gruppen werden nach Alter und Interessen eingeteilt“, sagt Veronika Fürst. „Unsere Betreuer kennen die meisten Leute sehr gut und stimmen das Jahresprogramm auf ihre Interessen ab.“ Für Ausflüge steht ein Fahrdienst zur Verfügung.
„Wir finden für jeden das optimale Angebot“, erklärt Veronika Fürst weiter. Viele müssten erst einmal in die verschiedenen Gruppen hineinschnuppern, alles kennenlernen und dann das Passende auswählen. „Bei uns dürfen sie selbst herausfinden, was sie interessiert.“ Und auch die Eltern behinderter Kinder könnten sich hier nach und nach an die Betreuung gewöhnen: Denn für sie sei es oft nicht einfach, loszulassen: „Bei uns ist es in kleinen Schritten möglich, dass sich alle Beteiligten an die neue Situation gewöhnen“, sagt Daniela Springer. Das verhalte sich ganz ähnlich wie bei der Eingewöhnung im Kindergarten.
„Das Betreuungsangebot brauchen meist beide Seiten: die Behinderten und ihre Familien“, schildert Veronika Fürst. Für die Angehörigen ergeben sich so Entlastungen in einem oft anstrengenden Alltag, für die Gehandicapten willkommene Abwechslungen.
„In den Gruppen können die behinderten Menschen Sozialkompetenz üben, bei unseren Ausflügen ermöglichen wir ihnen die Integration in den ganz normalen Alltag“, führt Veronika Fürst weiter aus. „ Und immer ohne Zwang dahinter“, betont Daniela Springer. „Jeder darf sagen, wenn er nicht will.“ Manchmal sitzt ein schwerbehinderter Teilnehmer eines Gruppenkurses einfach am Rand und beobachtet, wie die anderen tanzen. „Man merkt ihnen dann an, wie viel Freude es ihnen macht, wenn sie den anderen zuschauen dürfen – wenn sie dabei sein können, wenn sich etwas rührt.“
Für den Sommer kleinere Urlaubsreisen geplant als sonst
Nur in diesem Jahr, während der Pandemie, gibt es keinen Kalender, keine Gruppen. „Derzeit können wir leider nur die Einzel- sowie die Tagesbetreuung mit zwei Behinderten und einem Betreuer anbieten“, bedauert Daniela Springer. Deshalb habe man heuer kein Programmheft erstellt. Sobald sich die Situation wieder entspannt, soll dies nachgeholt werden.
„Für den Sommer haben wir in etwas kleineren Gruppen als sonst auch wieder Urlaubsreisen geplant“, berichtet Veronika Fürst. Normalerweise sei immer eine Fernreise im Angebot enthalten – 2021 beschränkt man sich auf Reisen innerhalb Bayerns. „Im vergangenen Jahr hatten wir eigentlich unsere erste Flugreise geplant: nach Mallorca zu fliegen war ein großer Wunsch von vielen.“ Daraus wurde jedoch nichts. Die Exkursion ist auf die Zeit nach Corona verschoben.
Enge Bindung zwischen Betreuern und behinderten Menschen
Betreuer für die Gruppen sucht das Team der Offenen Behindertenarbeit übrigens immer. „Jeder kann hier mitmachen, den es interessiert“, informiert Daniela Springer. Am Anfang stehe dabei immer eine Probetätigkeit, denn für die Behindertenarbeit sei persönliche Eignung gefragt: „Wir teilen unsere Mitarbeiter dann je nachdem ein, wer sich welche Betreuung zutraut, wer wen schon kennt“, erklärt die Leiterin.
In manchen Fällen sei es sicherlich von Vorteil, wenn man eine Berufsausbildung in der Pflege mitbringe. „Manchmal ist eine Betreuung medizinisch anspruchsvoll – zum Beispiel, wenn der Betreute eine Epilsepsie hat oder andere schwerere Behinderungen.“
Und Fürst weiter: „Unsere Betreuer arbeiten oft jahrelang mit den gleichen Familien zusammen. Das ist der optimale Fall, der größte Gewinn, wenn eine dauerhafte Beziehung aufgebaut werden kann.“
Antworten auf alle Fragen
Und auch all die bürokratischen Fragen rund um ein Leben mit Behinderung können die Mitarbeiter der Offenen Behindertenarbeit beantworten: Ob es nun um die Beantragung finanzieller Hilfen geht, um Fragen rund um die Pflegeversicherung oder um Pflegegrade. „Die Einstufung in Pflegegrade ist ja noch relativ neu“, erklärt Daniela Springer. „Es ist alles relativ kompliziert geworden.“
Zudem gibt es Elterngruppen, in denen Eltern behinderter Kinder sich untereinander austauschen können, während ihre Buben und Mädchen von erfahrenen Mitarbeitern der Lebenshilfe umsorgt werden. Dass ihr Angebot im gesamten Landkreis weiter bekannt wird und Familien, die ein behindertes Kind oder einen behinderten Erwachsenen betreuen, sich nicht davor scheuen, bei der Offenen Behindertenarbeit anzurufen – das wünscht sich das Lebenshilfe-Team. „Unser Büro ist unter der Woche immer besetzt“, betont Daniela Springer.
Sabine Simon