Graz/Finsterau. Auch die Nase hat ein Gedächtnis – und holt sich beim Wahrnehmen unterschiedlicher Düfte und Gerüche so manches Erlebnis an vergangene Zeiten in Erinnerung. So ist es auch dem Autor und Journalisten Ulrich Bänsch immer wieder ergangen, wenn er in den 70ern mit seinen Eltern aus dem heimischen Baden-Württemberg in den Bayerischen Wald gereist ist, wo er viele unbeschwerte Urlaubsstunden im Forsthaus „Hochwald“ verbrachte. Im dritten Teil unserer Serie „Finsterau – meine Jugendliebe“ geht es um jene sinnlich-olfaktorischen Erinnerungen.
Das Forsthaus war kein gewöhnliches Forsthaus. Nicht mitten im Wald gelegen und kein dunkel gewordenes Gebäude aus Holz – so, wie es wohl jeder von uns in seinen Vorstellungen trägt. Von außen hätte niemand vermuten können, dass es sich bei diesem etwas größer geratenen Einfamilienhaus um das Heim eines Nationalparkförsters handeln könnte. Bis auf die große, über dem Eingang hängende hölzerne Hinweistafel mit den in Holz geschnitzten Buchstaben „Forsthaus Hochwald“ wies nur wenig darauf hin.
Der Geruch erweckte in mir eine Farbe
Unter dem Vordach im Eingangsbereich befand sich eine Holzbank (mit Fell), die besonders bei meinen Eltern zu fortgeschrittener Stunde stets sehr beliebt war, um den Sonnenuntergang genießen zu können. Es ist ein idyllisches Einfamilienhaus, in dem der Forstmann sein Büro hatte und die Geschicke des ihm anvertrauten Reviers verantwortungsvoll lenkte. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass er mit Leidenschaft Dannemann-Zigarillos rauchte und auch sonst kein Kostverächter war.
Ein richtiger Förster und Waidmann von altem Schrot und Korn, wie man ihn sich klischeebehaftet vorstellt: hart, aber gerecht – einer, bei dem gewisse Werte noch oberste Priorität genossen. Seine Frau, die Försterin, war einer der liebenswertesten Menschen, die ich kennen lernen durfte: fürsorglich, immer nett und in jeder Hinsicht aufopferungsbereit. Ich glaube, sie war der ruhende und ausgleichende Pol in der Familie.
Die beiden hatten zwei Töchter und einen Sohn. Er sollte wohl nach den Vorstellungen seines Vaters der Familientradition folgen und ebenfalls Förster werden. Von ihm habe ich einen Ausspruch aufgenommen, den ich auch heute noch gerne verwende, nämlich: Als er mir eine schwarze, uralte und im besten Erhaltungszustand befindliche BMW-Modell unbekannt, denn damals hatte ich noch keine fundierten Kenntnisse über historische Motorräder – voller Stolz seines Vaters zeigte, die wohlbehütet und abgedeckt in der Garage stand. „A schwars Motorradl“, stellte er mir die Maschine vor. Was wohl aus ihr geworden ist?
Und jeden Morgen bereitete die Försterin uns ein ausgezeichnetes Frühstück, das wir in der guten Stube des Hauses, im Wohnzimmer, zu uns nahmen. Es fühlte sich alles recht familiär für uns an, als wären wir zu Hause. Als olfaktorisch geprägter Mensch nahm ich bereits damals Gerüche wissentlich und bewusst auf.
Nie wieder hatte ich einen solchen Geruch in der Nase, wie damals im Försterhaus. Ich kann es nicht beschreiben, wonach es gerochen hat, aber es duftete köstlich – einfach exzellent. Jedes Jahr, wenn wir wieder auf Sommerfrische kamen, ich das Haus betrat und den Geruch in mich aufsog, wusste ich: Ich bin daheim. Der Duft labte meine Seele und erfreute mein Herz. Der Geruch erweckte in mir eine Farbe, ja ein warmes und helles Farbenspiel, erquickend, freundlich und hell wie die Sonne. Wenn ich in den darauffolgenden Jahrzehnten nur die entferntesten Geruchsnuancen rudimentär wahrgenommen habe, kamen mir sofort die Erinnerungen an das Finsterauer Forsthaus ins Gedächtnis.
Große Sammel-Leidenschaft
Was habe ich nicht alles erleben und erfahren dürfen! Da waren die jährlichen Ausflüge nach Riedlhütte zu Nachtmann Kristall. Jedes Jahr kauften sich meine Eltern dort einen Weinrömer, der in der Großstadt nahezu unbezahlbar war. Zweite Wahl im Fabrikverkauf, aber meine Mama hatte ein scharfes Auge – und sie suchte immer die Gläser aus, bei denen der Fehler für ein normales, menschliches Auge absolut nicht sichtbar war. Auch ich durfte mir von meinem Taschengeld immer wieder das ein oder andere Gebrauchsgut aus Bleikristall kaufen.
Ich sammelte über den Bayerischen Wald eigentlich alles, was mir in die Finger kam. Heute, nach vielen Jahrzehnten, kann ich es ja getrost beichten: Wenn wir wieder in Stuttgart waren, richtete ich jedes Jahr in meinem Bücherschrank eine Ecke ein, die ich als regelrechten Devotionalien-Schrein mit Andenken aus dem Bayerwald bestückte. Heute weiß ich, was es damals war: Es überkam mich dann immer eine ganz spezielle Form von Heimweh – es zog mich ganz einfach in den Bayerischen Wald und ganz speziell nach Finsterau.
Nun war es nicht so, dass wir jeden Tag auf Schusters Rappen durch die Wälder gestromert sind. Es gab schon immer wieder Tage, an denen wir in eine der Bayerwald-Städte fuhren: nach Freyung, Grafenau und Waldkirchen. Dort hat meine Mutter in einem Kaufhaus jedes Jahr handbemalte Kleiderbügel gekauft, die ich heute noch in Ehren halte. Auch nach Passau sind wir das ein oder andere Mal gefahren – es ist halt eine Stadt und in solch einer wohnen wir das ganze Jahr.
Tierfreigelände und Siebensteinkopf
Die Gehegezone bei Neuschönau stellte für mich einen ganz besonderen Anziehungspunkt dar: Die heimischen und auch die ehemaligen heimischen Tierarten betrachten – doch zuerst musste man sie in den riesigen und naturbelassenen Gehegen erst einmal finden. Luchs, Wölfe, Bären, Wildschweine, Rehwild, Rotwild und noch viele mehr konnten (und können) die Besucher andächtig von Aussichtspunkten aus betrachten. Es wurde seitens der Nationalparkverwaltung bei dem Bau der Gehege ein besonderes Augenmerk darauf gelegt, dass sich das Wild in einer möglichst naturgegebenen Umgebung wohlfühlen kann – ganz im Gegensatz zu einem Zoo, wo die Wildtiere den Besuchern ja quasi auf dem Servierteller präsentiert werden. In den Nationalpark-Gehegen müssen sie da schon suchen. Die Philosophie ist eine ganz andere: eine naturbelassene, möglichst naturnahe Umgebung.
Die Wanderungen auf den Siebensteinkopf blieben ebenfalls nachhaltig in Erinnerung, da wir diesen meist über die Reschbachklause in Angriff nahmen und der Weg dorthin ziemlich nahe an der Grenze zur damaligen Tschechoslowakei vorbeiführte.
Es war angeraten den dort markierten Pfad tunlichst nicht zu verlassen, da es durchaus sein konnte, dass man sich wissentlich oder unwissentlich auf östliches Terrain begeben konnte. Und das sollte trotz der deutlich sichtbaren Grenzmarkierungen unter allen Umständen vermieden werden. Damals herrschte noch der Kalte Krieg – und dort begann der Eiserne Vorhang…
Ulrich Bänsch
Im vierten Teil der Serie „Finsterau – meine Jugendliebe“ geht es um kulinarische Gaumenfreuden wie Schwarzgeräuchertes, um einen Ausflug zur Steinfleckhütte, Ulrich Bänschs Sehnsuchtsort, um idyllische Wanderungen zur Reschbachklause sowie um den 15. Geburtstag, den unser Autor im Forsthaus feiern durfte.