Ortenburg. Das Weiherhaustheater in Ortenburg ist eine überregionale Institution des Kindertheaters. Nach mehr als 30 Jahren muss sein Gründer Frieder Kahlert krankheitsbedingt aufhören. Sein jüngster Sohn versucht, das schwere Erbe anzutreten.
Du stehst allein auf einer Bühne. Über 150 Augenpaare sind auf dich gerichtet, die jede einzelne Bewegung genau beobachten. Hunderte Ohren, die alles, was du sagst, genau mithören. Gespannte Gesichter, die Augen weit aufgerissen vor Erstaunen. Der gute Ruf ist dir vorausgeeilt. Du könntest das Stück im Schlaf aufführen, so oft hast du es schon gezeigt. Der Text fließt von alleine, jede einstudierte Bewegung kennst du in- und auswendig. Und dann ist plötzlich alles weg. Blackout.
Die Worte fehlen, das komplette Stück ist wie aus dem Gedächtnis radiert. Der Albtraum eines jeden Bühnendarstellers. „Das war so, dass ich einfach nicht mehr weitergekommen bin. Man hat ja immer mal Texthänger gehabt. Aber dass du dann wirklich nicht mehr weiterkommst, das nicht. Nach zehn Minuten brichst du die Vorstellung ab und sagst zu den Leuten: ‚Ich komm‘ nicht mehr weiter… ich glaub, ich bin krank.’“
Auch diesmal muss er abbrechen
Frieder Kahlert spielt seit über 30 Jahren Kindertheater. Überwiegend an Grundschulen in ganz Bayern. Die meisten seiner Stücke inszeniert und spielt er komplett alleine. Das Besondere an seinen Stücken: Er trägt dabei von ihm selbst angefertigte Masken aus Leder. Fantasievoll bemalt, mit Bast, Pferdehaar oder Federn geschmückt, jede mit ihrem ganz eigenen Charakter. In Sekundenschnelle kann er so auf der Bühne in eine neue Rolle schlüpfen, kann alleine ein ganzes Ensemble ersetzen. Daher auch der Name seines Theaters: „Maskara“.
Aber am 10. Mai 2023 muss er seine Aufführung das erste Mal in seiner Karriere abbrechen. Seine Ehefrau Rita erinnert sich: „Da baut er vorher anderthalb Stunden auf, dann zehn Minuten später eine Stunde lang ab – und muss wieder heimfahren.“ Einige Tage darauf steht Frieders Paradestück „Der Trommler“ auf dem Spielplan. Den spielt er seit Jahren, den Text hat er in jeder Faser.
Auch diesmal muss Frieder nach gut zehn Minuten abbrechen. Weil er sich an keine einzige, weitere Zeile mehr erinnert. „Danach haben sie dann bis Ende Juni nur noch die Zauberflöte gespielt. Zu dritt. Hier im Weiherhaustheater,“ erklärt die 59- Jährige.
„Da frisst sich das Hirn quasi selber auf“
Das Weiherhaustheater ist neben dem Theater „Maskara“ das zweite Herzensprojekt des 65- Jährigen. Sein Lebenswerk. Das große Holzgebäude am Rande von Ortenburg baut der eigentlich gelernte Raumausstatter über die Jahre hinweg immer weiter aus. Mit lichtdurchflutetem Theatersaal und großer Terrasse am Wasser. Hier treten regelmäßig regionale Künstlerinnen und Künstler aller Art auf, es finden auch Hochzeiten und Veranstaltungen statt.
Mozarts Zauberflöte ist ein noch vergleichsweise junges Stück im Repertoire. Und eine Ausnahme. Wegen seiner Komplexität und der über 20 Protagonisten spielen es gleich drei Personen: Frieder Kahlert, Heribert Haider und Stefan Knoll. Die drei sind enge Freunde und perfekt aufeinander eingespielt. Als Frieder jedoch auch hier wiederholt Aussetzer hat, schicken ihn seine Schauspielkollegen zum Arzt.
Dieser überweist den Schauspieler sofort ins Klinikum Passau. Einige Wochen zuvor war Frieder mit dem Fahrrad gestürzt und hatte sich am Kopf verletzt. Verdacht auf eine Subduralblutung, eine lebensgefährliche Einblutung zwischen zwei Gehirnhäuten. Im Klinikum findet man in seinem Kopf zwar keine Blutung, dafür aber epileptische Muster. Er bleibt für eine Woche zur Beobachtung, bekommt Medikamente, die ihm jedoch nicht gut zu bekommen scheinen. Er setzt sie kurze Zeit später wieder ab. Das Unwohlsein bleibt.
Während eines Folgeaufenthaltes im Klinikum Regensburg im September stellen die Ärzte die endgültige Diagnose: Autoimmun-induzierte limbische Enzephalitis. Die Bezeichnung umfasst eine Gruppe autoimmun-entzündlicher Erkrankungen des zentralen Nervensystems.
Frieder erklärt es so: „Da frisst sich das Hirn quasi selber auf. So haben die mir das erklärt.“ Er bleibt aber zuversichtlich: „Da sind dann Areale mal weg, aber das Hirn ist so gescheit, das sucht sich dann einen anderen Weg. Also, wenn du danach gräbst, bekommst du’s wieder.“ Als Rita hierzu eine befreundete Psychologin befragt, urteilt diese allerdings: „Vergiss es. Dieses Stresslevel wird er nie mehr halten können.“ Es bedeutet das Aus für Frieder Kahlerts langjährige Karriere als Theaterkünstler.
„Ich hab’ noch so viel zu lernen!“
Im Weiherhaustheater ist indessen ausgerechnet in diesem Sommer so viel Betrieb wie nie zuvor. Über Wochen hinweg finden fast täglich Veranstaltungen statt. Und für die Organisation an solchen Tagen ist normalerweise Frieder zuständig, da Rita in ihrer Zahnarztpraxis eingespannt ist. Der Einzige, der kurzfristig zur Hilfe eilen kann, ist Sohn Floris. Er ist zu diesem Zeitpunkt Aufbauhelfer bei einem befreundeten Zelttheater in Nürnberg.
Bereits einige Wochen zuvor hatten sie ihn angerufen: Dem Papa geht es nicht gut. Dass es mit der Zauberflöte nicht mehr geht. Ob er nicht jetzt schon einsteigen könnte. „Das war eigentlich auf Jahre hin geplant. Es dauert ja ein Jahr, bis so ein Stück fertig ist“, erläutert Rita.
Der damals 22- Jährige ist hin- und hergerissen: „Ich dachte: Du hast hier jetzt eine Aufgabe und musst das jetzt machen! Aber ich hab mir schon Sorgen gemacht. Ich hab’ noch so viel zu lernen! Wie gehe ich an die Bühnenbild- Konstruktion heran? Wie baue ich Masken? Wo nehme ich das handwerkliche Geschick her? Wie helfe ich mir weiter, wenn ich Unterstützung brauche?“ Zudem „steht und fällt die Zauberflöte mit dem Gesang“, so die Regisseurin des Stücks, Ulrike Möckel. Und Floris hat bisher noch nie opernhaft gesungen.
„Am wichtigsten sind die Zuhörer“
Frieders und Ritas jüngster Sohn ist ein drahtiger, junger Mann mit Zopf und runder Metallbrille, hinter der große, dunkle Augen aufmerksam alles beobachten. Seine große Leidenschaft ist eigentlich die Trompete. Er ist Mitglied im Symphonischen Blasorchester Bad Griesbach, spielt seit 2019 die Solotrompete, probt und spielt Konzerte das ganze Jahr über. Gleichzeitig feilt er gelegentlich an seinem ersten Solo-Theaterstück: „Ich hab meine Bühnenerfahrung zwar schon als Musiker sammeln können. Aber es ist unglaublich schwer, sich selbst immer wieder zum Proben zu motivieren.“
Ende Juli beginnen seine ersten Bühnenproben für die Zauberflöte. Gemeinsam mit Heribert und Stefan studiert er das einstündige Stück wochenlang ein. Für die Inszenierung muss jeder Handgriff sitzen. Denn die Schauspieler sind auch gleichzeitig Bühnenauf- und -abbauer, Ordner, Licht- und Tontechniker. Mittels eines raffinierten Systems aus Seilen, Drähten, Streben, Stöcken und riesigen Tüchern erschaffen die drei Männer in etwas mehr als einer Stunde die Welt um Papageno, Prinz Tamino und die Königin der Nacht. Egal, ob im heimischen Weiherhaustheater oder in zuvor unbekannten Grundschulturnhallen.
Die Oper selbst ist in ihrer Handlung anspruchsvoll, vor allem für Kinder. Dennoch schaffen es die Darsteller, die kleinen Zuschauerinnen und Zuschauer über eine ganze Stunde lang fest in ihren Bann zu ziehen. Mit verblüffend genauem Timing und spürbarer Hingabe. Die Kids singen und stampfen mit, lachen und jauchzen oder folgen aufmerksam der Handlung. Am Ende der Vorstellung erklingt tosender Applaus. Die drei Schauspieler bedanken sich mit den Worten: „Am wichtigsten sind die Zuhörer, die die Kunst des Zuhörens ausüben. Und das habt ihr ganz toll gemacht!“
Frieder erklärt den Erfolg seines Maskentheaters so: „Wenn du ihnen eine gute Geschichte erzählst und das gut machst, dann sind sie gerne dabei! Ich glaube, dass die Zuneigung und die Liebe zum Spiel ein wesentliches Element sind. Auch zu den Menschen! Man muss sie begeistern!“
„Das hat mich sehr tief geprägt“
Im März 2024 hat Floris gut 20 Vorstellungen hinter sich. Es hat sich bereits eine gewisse Routine eingestellt. Lampenfieber? „Eigentlich nicht… wie kann ich da nervös sein? Ich darf die Zauberflöte spielen! Mit diesen Herren! Vor Kindern!“
Er weiß dennoch um die gewaltige Aufgabe, die ihn erwartet, wenn er bald vollends in die Fußstapfen seines Vaters tritt: „Dies ist der Weg. Ich kann das alles hier nicht im Stich lassen und ich bedaure das nicht. Das sind solche Schätze, die da liegen und ich fände es sehr schade, wenn die dort verstauben. Das sind Inszenierungen, die sich über Jahrzehnte bewährt haben! Ich bin mit dem Theater Maskara aufgewachsen. Das hat mich sehr tief geprägt!“
Fragt man ihn, wie es mit dem Weiherhaustheater weitergehen soll, erklärt er: „Mein Plan für die Zukunft ist, dass man einen Raum schafft, wo Kultur stattfinden kann und wo sich Künstler treffen können. Das wäre so meine Vision.“
Sein Vater lässt ihm bei alledem freie Hand: „Er ist frei. Er soll für sich das finden, was für ihn das Richtige ist. Es ist ein Segen, dass er da mit zwei wunderbaren Kollegen spielen kann. So gesehen ist alles gut. Ich würde ihm aber grundsätzlich wünschen, dass er noch ein bisschen in die Welt hinauskommt. Aber das ist seine eigene Entscheidung – und ich bin natürlich heilfroh.“
Benedikt Spielbauer