Neureichenau. Zunächst brach für ihn eine Welt zusammen. Er sah nur Blut, die abgetrennten Finger – und viele Fragezeichen, was seine Zukunft betrifft. „Anfangs wollte ich mir nicht eingestehen, dass es nun einfach so ist, wie es ist“, blickt Max Weidner zurück. „Erst an einem gewissen Punkt habe ich die Endgültigkeit verstanden. Dann ging es mir besser.“ Jener 5. Juni 2018, an dem er sich die vier Langfinger sowie einen Teil des Daumens an der rechten Hand abgeschnitten hat, ist allerdings nicht nur als Negativ-Moment beim Neureichenauer haften geblieben. Denn vor vier Jahren hat er nicht nur sich selber besser kennengelernt – auch seine Karriere als Para-Sportler begann.
Sport betrachtet er seit jeher als etwas, zu dem er sich nicht zwingen muss, sondern – für viele unvorstellbar – als freudige Angelegenheit. Hinzu kommt, dass bei Weidner der gesellschaftliche Aspekt gänzlich außen vor ist: Mannschafts- und vor allem Ballsportarten sind nicht sein Ding. Er gehört zu jener seltenen Spezies, die sich gerne im Ausdauerbereich bewegt. Der langwierige Kampf gegen den inneren Schweinehund schreckt ihn nicht ab, sondern spornt ihn vielmehr an. „Dass mir die Schinderei Spaß macht, habe ich von meinen Eltern mitbekommen“, weiß er zu berichten. „Fußball beispielsweise gefällt mir gar nicht. Generell bin ich eher der Einzelkämpfer.“
„Ich habe ein Defizit, ja, aber…“
Seinen wohl größten Kampf bisher bestritt er aber nicht gegen zu bewältigende Streckenkilometer oder Höhenmeter auf zwei Skiern oder dem Rad. Den herausforderndsten Wettbewerb lieferte er sich mit sich selber. Mehr mit seiner Psyche als mit seinem Körper. Der 5. Juni 2018: Max Weidner ist Produktionsleiter im Sägewerk seines Onkels Baptist Resch. Er ist erfahren. Ein Fachmann. Und dennoch kommt es zu eingangs erwähntem Unglück. An sich – und das gibt der 33-Jährige offen zu – gibt es schwerwiegendere Handicaps als eine Hand nur noch bedingt nutzen zu können. „Ich habe ein Defizit, ja. Aber ich fühle mich nicht behindert“, sagt er heute.
Vor fünf Jahren sah er das noch anders – und nur sich selbst. Der Sport war damals seine wichtigste Therapie. Er wollte unbedingt seinen Bewegungsdrang weiter ausleben. Kurzerhand baute er sich deshalb sein Fahrrad seinen Bedürfnissen entsprechend um. Für Max Weidner ging es in der Folge nicht mehr nur auf zwei Rädern oder zwei Skiern aufwärts, sondern generell. Den letzten Kick in die richtige, wieder positive Richtung gab ihm Para-Legende Gerd Schönfelder, den er über Umwege kennengelernt hat. „Unser erstes Gespräch war herausragend. Uns es ging um alles – außer Sport.“
Es gibt schlimmere Schicksale
Durch den mehrfachen Weltmeister und Paralympics-Sieger, der seit einem Unfall schulteramportiert ist, erkannte Max Weidner, dass es schlimmere Schicksale gibt als das seine. Und dass Aufgeben tatsächlich keine Option ist. Darüber hinaus machte ihn Schönfelder darauf aufmerksam, dass er im Wintersport und somit Langlauf besser aufgehoben sei. „Auf sein Anraten hin habe ich kurzerhand Bundestrainer Ralf Rombach angerufen. Wir haben eine Art Probetraining vereinbart“ – das sehr erfolgreich verlief. Und bereits 2019 wurde der Neureichenauer Deutscher Vizemeister, diverse Weltcup-Starts folgten – die beste Platzierung bisher: ein fünfter Rang.
Max Weidner in Aktion…
„Es ist nicht normal, dass ein Quersteiger so schnell so erfolgreich ist“, macht Rombach deutlich. „Günstig erwies sich natürlich, dass Max vorher schon Langläufer gewesen ist. So war der Umstieg problemloser möglich.“ Der 33-Jährige ist nur mit einem Stock unterwegs. Heißt: Er musste seine Skating-Technik umstellen. „Wie viel Prozent weniger Leistungsfähigkeit das bedeutet, kann man nicht ausmachen“, erklärt der Bundestrainer. Ein Vergleich sei erst gar nicht nötig. Warum auch? „Bei uns geht es nicht nur um den Sport. Wir müssen ein weitaus größeres Feld bearbeiten – der Mensch an sich steht mehr im Mittelpunkt. Und genau das ist es, was meinen Job so interessant macht.“
Der Weg im paralympischen Sport von der Basis an die Spitze gestaltet sich als einfach und durchlässiger. Das liegt zum einen daran, dass nicht so viele Menschen mit Handicap in die Weltspitze streben wie bei den Athleten ohne Beeinträchtigung. Das liegt aber auch daran, dass das Gros der Para-Sportler (immer noch) fernab der großen Öffentlichkeit aktiv ist – und von durchgängig professionellen (Profi-)Strukturen weit entfernt liegt. Weidner ist deshalb auch weiterhin beruflich in Vollzeit eingespannt.
„Seit dem Unfall sind ausschließlich erfreuliche Dinge passiert“
Max Weidner trainiert meist alleine – häufig in den Loipen rund um den Haidel. Gibt es keinen Schnee, fallen seine Einheiten eben aus. Oder er gönnt sich den Luxus, eine Skihalle in Oberhof oder Slowenien aufzusuchen. Den Großteil seiner Kosten trägt er selbst. „Ein großes Glück ist, dass ich zumindest einen Skisponsor habe“, berichtet er.
Ja, die Gleichberechtigung von Menschen mit und ohne Handicap hat sich in den vergangenen Jahren angenähert. Der Para-Sport erfährt inzwischen eine deutlich größere Aufmerksamkeit, weshalb es folglich auch mehr Förderer gibt, die wiederum dafür sorgen, dass die Athleten unter besseren Bedingungen trainieren und an Wettbewerben teilnehmen können. „Es ist besser geworden“, berichtet Weidner. Bundestrainer Ralf Rombach sieht es ähnlich: „Das Interesse wird größer, in den vergangenen Jahren wurde viel bewegt. Wir müssen aber auch weiter an uns selber arbeiten, uns attraktiver machen.“
Derartige sportpolitische Überlegungen lässt Max Weidner generell eher links liegen, als dass er sie als Hürde nimmt. Er ist einfach nur froh, dass er in seinem neuen Leben angekommen ist. „Heirat, Haus, Kinder – und die Sache mit dem Langlauf: Seit dem Unfall ist viel passiert. Ausschließlich erfreuliche Dinge.“ Welche Ergebnisse er bei den Wettbewerben einfährt, ist für ihn eher zweitrangig. „Ich hätte ja ohnehin nie gedacht, dass ich im Weltcup mit dabei sein darf. Insofern ist mein Handicap ein Vorteil.“ Dabei sein ist alles – für ihn steht das olympische Motto tatsächlich noch im Mittelpunkt. Ganz besonders seit dem 5. Juni 2018…
Helmut Weigerstorfer