Freyung-Grafenau. Am Sonntagnachmittag hatte der Landkreis Freyung-Grafenau die Spitzenposition in Sachen 7-Tage-Inzidenz übernommen: Dem Robert-Koch-Institut zufolge lag FRG deutschlandweit mit einem Wert von 404,5 an erster Stelle, heute sinkt der Wert laut RKI leicht auf 385,4. Eine Stunde lang erklärte Landrat Sebastian Gruber bei einer Pressekonferenz, warum dennoch weiterhin alle Schüler zur Schule gehen sollen und auch sonst keine strengeren Maßnahmen ergriffen werden. Hog’n-Redakteurin Sabine Simon erachtet diese Entscheidung als kritisch. Ein Kommentar.
„Oberste Prämisse ist, dass die Wirtschaft am Laufen bleibt, genau wie Schulen und Kitas“, stellte Landrat Gruber im Beisein der Medienvertreter im Großen Sitzungssaal des Landratsamts fest. Dieses Ziel hat nicht er selbst, sondern der Freistaat Bayern zusammen mit den anderen Bundesländern und der Bundesregierung ausgegeben.
Die große Frage dabei bleibt: Wie lange ist dieses Ziel vertretbar? Vor nicht einmal drei Wochen überschritt der Landkreis die sog. 50er-Marke, die Corona-Ampel schaltete auf rot. Es gab Einschränkungen wie Maskenpflicht für Grundschüler und Kita-Personal. Dann kam der „Lockdown-Light“: bundesweite Maßnahmen, die plötzlich die regionalen Ampelfarben wieder relativ unwichtig machten. Während im Oktober noch regionale Lockdowns im Berchtesgadener Land und im Landkreis Rottal-Inn verhängt wurden, reagiert man nun in Freyung-Grafenau etwas lockerer. Zu locker?
Gesundheitsamt stößt bereits an Grenzen
Eine erhebliche Folge hat ein derart hoher Inzidenzwert für den Landkreis bereits jetzt: Die Mitarbeiter des Gesundheitsamts sind mit der Kontaktnachverfolgung aller positiv getesteten Personen überfordert. Bislang funktioniert der Schutz so genannter vulnerabler Gruppen im Landkreis gut, das legte die Leiterin des Gesundheitsamtes Freyung-Grafenau, Dr. Sonja Kandlbinder, schlüssig dar. Wie lange noch?
Kandlbinder gab bei der Pressekonferenz offen zu: Bei 30 bis 50 positiv getesteten Landkreisbürgern pro Tag sei die Kontaktermittlung derzeit nicht mehr umfassend möglich. Sie appellierte daher an die Landkreisbürger: Jeder positiv Getestete solle so schnell und umfassend wie möglich selbst seine näheren Kontaktpersonen informieren. Und diese wiederum sollten sich – wenn irgendwie möglich – freiwillig in Quarantäne begeben oder zumindest „alle Kontakte einschränken, die man irgendwie einschränken kann“.
Falls dieses Vorgehen erfolgreich sein soll, ist vor allem eines gefragt: die Eigenverantwortung der Landkreisbürger. Die Krux an der Sache: Wenn es nun keine strengeren Maßnahmen im Landkreis FRG bei einem 400er Inzidenzwert gibt, ist dies Wasser auf die Mühlen derjenigen, die seit Wochen Kritik an festgelegten Grenzwerten und den Corona-Tests an sich üben. Warum haben wir uns bei 35 und 50 überhaupt eingeschränkt, wenn auch ein Wert über 400 nicht zu härteren Einschränkungen führt?
Signalwirkung: Alles halb so wild?
Die Entscheidung des Landrates, keinen „Hammerschlag“ zu präsentieren, wie er selbst formulierte, hat Signalwirkung, die da lautet: keine Panik. „Angst ist der falsche Berater“, ist Gruber überzeugt. „Vernunft, Zuversicht und Disziplin sind die richtigen.“
Auf die Nachfrage eines Journalisten, wie der Landrat sich den rapiden Anstieg der Zahlen erkläre, mutmaßte dieser allerdings: „Vielleicht haben sich zu viele zu lange in Sicherheit gewogen.“ Der Landkreis Freyung-Grafenau befand sich über einen größeren Zeitraum hinweg im grünen beziehungsweise gelben Bereich. Als die Inzidenz von 50 überschritten wurde, konnten die Menschen im Rottal nur müde lächeln: Hier waren bei einem Wert von über 200 bereits strengere Maßnahmen in Kraft getreten. Für viele gewiss ein Anlass zu denken: „Hier bei uns wird es schon nicht so schlimm kommen.“ Die Disziplin in Sachen Kontaktbeschränkung scheint daher nicht allzu groß ausgeprägt gewesen zu sein.
Nun appellierte Gruber an die Landkreisbürger: In der aktuellen Situation solle man sich vor jedem Treffen fragen: Ist der Kontakt tatsächlich nötig und sinnvoll? Denn im „Lockdown-Light“ darf bislang theoretisch jeder an jedem Tag jemanden aus einem anderen Hausstand treffen: „Wenn man erlaubte Sachen exzessiv betreibt, kann man viele Kontakte ansammeln“, erläuterte der Landrat.
Wo entwickeln wir uns hin?
Wie werden die Landkreisbürger auf diesen Appell nun reagieren? Wenn die Politik auf regionaler Ebene die Situation als nicht ganz so dramatisch einschätzt, dass ein Lockdown nötig wäre, und wenn der Landrat von einer „guten Nachricht“ spricht, weil derzeit lediglich ein einziger Patient intensivmedizinisch betreut und beatmet werden muss – dann schätzt höchstwahrscheinlich auch ein großer Teil der Freyung-Grafenauer die Situation als nicht ganz so dramatisch ein. Begrenzt man dann freiwillig seine Kontakte „soweit wie irgendwie möglich“?
Dass derzeit nur 0,5 Prozent der Schüler infiziert seien und die Situation im Krankenhaus als relativ entspannt zu bezeichnen sei – das sind in der Tat gute Nachrichten. Die Frage bei derart rapide ansteigenden Inzidenzwerten lautet aber auch: Wohin entwickeln wir uns?
In den vergangenen beiden Wochen gab es im Landkreis fünf Tote, die im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion zu beklagen sind. Zum Vergleich: In der bisherigen „Hochphase“ im April waren es neun Sterbefälle innerhalb eines gesamten Monats. Während dieses Monats gingen die Zahlen der positiv getesteten Personen allerdings stetig zurück – derzeit steigen sie „rapide, diffus und flächendeckend“ an, wie Landrat Gruber erläuterte.
Corona-Politik ist zur Glaubensfrage geworden
Im Endeffekt weiß niemand, wie sich die Lage entwickeln – und ob die „große Politik“ in München und Berlin dem Landrat in Freyung-Grafenau ohnehin schon bald das Heft wieder aus der Hand nehmen und einen deutschlandweiten Lockdown beschließen wird. Oder ob ohne weitere Beschränkungen die Zahlen weiter steigen, die Krankenhäuser sich zunehmends füllen und wir erst dann die Notbremse ziehen, wenn es nicht mehr darum geht, Kontakte nachverfolgen zu können, sondern darum, das Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu retten.
Immer lauter werden die Stimmen derjenigen, die bezweifeln, dass es überhaupt so weit kommen würde. Die Corona-Politik, ja die Gesundheit an sich, ist zur Glaubensfrage geworden, wie es scheint. Trotz oder gerade wegen der vielen Zahlen, Daten und Fakten. Offenbar hat momentan jeder so sein eigenes Gefühl bezüglich des stark steigenden Inzidenzwertes. Bleibt zu hoffen, dass diejenigen, denen er ein ganz schlechtes Gefühl bereitet, am Ende nicht Recht haben werden…
Kommentar: Sabine Simon
Sebastian Gruber ist ein sehr vernünftiger Mann. Ich denke, wir alle sind erst dabei richtig zu begreifen, dass wir nur als einzelne vernunftbegabte Wesen mit unserem Verhalten die Dinge in die richtige Richtung ziehen können. Es nützt nichts, durch Hauruckverordnungen zum Teil mit unsinnigen Auflagen (z. B. Die gesamte Passauer Altstadt unter Maskenzwang zu stellen) etwas erzwingen zu wollen. Wir sind alle in einem schmerzhaften Lernprozess und Druck erzeugt Gegendruck. Es ist sicher besser, die Menschen gut zu informieren, mitzunehmen, ehrliche Antworten und Hilfestellung zu geben. Die Beratungsresistenten wird man nicht erreichen, aber sicher viele, denen langsam erst – wie mir auch – bewußt wird, wie fies dieses winzige Teil wirklich ist. Daher halte ich den FRG – Weg für gut.