Ich schaue auf den Mund meines Gegenübers. Die Lippen bewegen sich auf und nieder, spitzen sich, ziehen sich in die Breite. Mal sieht man die Zähne, mal die Zungenspitze. Mein Blick wandert zu den Augen. Sie sind auf die meinen gerichtet, dann auf meine Nase, dann in eine undefinierte Ferne. Die Pupille weitet und verengt sich, die Stirn runzelt und entspannt sich. Um die Augen bilden sich kleine Fältchen, die Augenbrauen tanzen mit. Mein Blick fällt auf die Hände. Sie dirigieren die Melodie des Gesagten und Gefühlten. Die Handflächen schauen nach oben, werden von den Fingern verborgen, werden hin und her gedreht. Der Zeigefinger zeigt gerade nach vorne, wird an die Augen geführt, streicht eine Haarsträhne hinters Ohr.
Ich höre zu, erwidere den Blickkontakt, spiegle hin und wieder die Mimik, nicke, lächle, sage „Hmhm“ und „Aha“. Und ich frage nach. „Wirklich?“ – „Wie war das?“ – „Warum?“ Ich nehme mein ganzes Gegenüber wahr, in meinem Kopf ergeben das Gesagte, das Gesehene und mein Gefühl ein Bild. Es ist kein objektives Bild, weil ich als Zuhörer nicht neutral sein kann, weil ich meine eigene Wahrnehmung habe, weil manche Worte für mich bedeutsamer sind, weil das Verhältnis zu meinem Gegenüber ein ganz Bestimmtes ist, weil ich ich bin – und nicht er oder sie.
Automatenkaugummis verlieren ihren Geschmack
Echtes Zuhören setzt Interesse am Gegenüber voraus. Wer wirklich zuhören kann, schafft es, sich selbst zurückzunehmen. Die eigene Meinung und die eigene Erfahrung sind beim Zuhören zunächst zweitrangig. Ich glaube, das ist der Hauptgrund, warum es so wenige gute Zuhörer gibt. Und ich glaube, jeder kennt das Phänomen: Du erzählst etwas, möchtest Dich mitteilen – und kaum schnappt Dein Gegenüber ein gewisses Reizwort auf, erzählt er – häufig unmittelbar – sein Erlebnis, seine Sicht der Dinge dazu. Vielleicht unterbricht er Dich sogar und Du weißt, dass Du Deine Geschichte heute nicht mehr fertig erzählen wirst – und morgen auch nicht, weil Du sie dann schon vergessen oder schlichtweg keine Lust mehr dazu hast.
Bei mir hinterlässt das ein wirbelndes Gefühl unter dem Rippenbogen, wenn das öfter geschieht. Ich fühle mich nicht wahrgenommen. Mein Bedürfnis, etwas zu erzählen, kann so nicht gestillt werden. Und wenn ich nicht gleich sage, wie es mir dabei geht, steigt mit der Zeit Ärger in mir auf – und ich mag mich mit der Person auf kurz oder lang nicht länger umgeben. Zuhören können ist eine freundschaftliche Handlung.
Es gibt Menschen, die machen das ständig. Sie reagieren auf jedes Reizwort wie ein Kaugummiautomat, der unkontrolliert bunte Kaugummikugeln ausspuckt, sobald man die Münze mit einer Drehung ins Unsichtbare verschwinden lässt. Automatenkaugummis verlieren nach wenigen Kaubewegungen ihren Geschmack und werden schrecklich zäh. So geht es mir dann auch mit dem „Gepusse“ meines Gegenübers. Ich verliere meine ansonsten so große Lust am Zuhören.
Wenn Menschen ihr echtes Sein zeigen, sind sie schön
Gepusse? Das Wort stammt aus der US-Serie „King of Queens„, als Arthur bei einem Scrabble-Wettbewerb ständig neue Wörter erfindet, die es gar nicht gibt, er sie aber dennoch anhand einer kleinen, angeblich persönlich erlebten Geschichte erklären kann. Eins davon ist „Puss“. Am Ende wird seine Tochter Carrie ganz verrückt und schreit ihn an: „Halt die Klappe!“ So geht es mir auch. Ich schreie nur nicht laut, allerhöchstens in meinem Kopf. Ich werde dann meist ziemlich leise, hänge meinen eigenen Gedanken nach und würde am liebsten aufstehen und gehen. Die gesellschaftlichen Zwänge hindern mich meistens daran, es wirklich zu tun. Mein Mann sagt, ich sei zu freundlich. Vielleicht stimmt das. Meine Mimik verrät wahrscheinlich, dass sich meine wahre Begeisterung in Grenzen hält. Ich fange an, ins Leere zu blicken, die Mundwinkel werden starr und meine Rückmeldungen verebben. Ich könnte ein Baum sein. Oder eine Straßenlaterne. Leute, die gerne „pussen“, stört das jedoch wenig. Weil sie selbst schlecht zuhören können, können sie auch schlecht aus Gesichtern lesen.
Wahrscheinlich bin ich wirklich oftmals zu freundlich, wenn meine hoch entwickelte Zuhörergabe genutzt – benutzt? – wird. Meistens kann ich nicht anders und es geht mir auch nicht wirklich schlecht dabei. Ich sehe einfach den Menschen dahinter. Sehe seinen Drang, sich mitzuteilen. Das hat Gründe, die ich oft nur erahnen kann. Ein Grund ist aber bei allen gleich: Sie wollen gehört werden. Jetzt! Vielleicht plappern sie nur deshalb so viel, weil sie in ihrer Kindheit nicht richtig angehört wurden. Das mag sein. Kindern wird oft nicht richtig zugehört. Und dazu wird das Gesagte oft von vornherein nicht ernst genommen. Wie sollen sie da gute Gesprächspartner werden? Ich weiß nicht, was die Motivation mancher Vielredner ist. Aber es wird eine geben.
Da ich eine gute Zuhörerin bin, habe ich diese Gabe zu meinem Beruf gemacht. Ich portraitiere Menschen. Dazu treffe ich mich mit ihnen – und sie erzählen mir über ihr Leben. Ich liebe es, zuzuhören und zu beobachten, wie die Menschen das genießen. Dass es endlich mal passiert – dass sie von sich reden können, ohne dass einer dazwischenredet, urteilt oder eben gar nicht erst richtig zuhört. Ich sehe sie beim Reden aufblühen, erstrahlen. So seltsam das klingen mag – dann wird jeder Mensch schön. Wenn Menschen ihr echtes Sein zeigen, sind sie schön, denn dann sind sie ganz bei sich. Das echte Sein kann sich nur zeigen, wenn sie Beachtung bekommen. Beachtung wiederum geht nur mit Zeit einher.
Auch so eine Sache: uns selbst zuhören
Wir alle wissen, wie kostbar Zeit ist. Arbeit, To-Do-Listen, die tausend Hintergrundgeräusche im Kopf, die digitale Welt – sie nimmt uns so viel Zeit weg vom eigentlichen Sein. Dann haben wir kein Ohr mehr. Für andere nicht – und für uns selbst auch nicht. Das ist nämlich auch so eine Sache: uns selbst zuhören. Wenn wir das nicht tun, also ständig unsere Gefühle und Bedürfnisse übergehen, spricht nämlich meist eines Tages jemand anderer zu uns. Unser Körper. Nicht mit Worten, dafür mit Wehwehchen oder sogar Krankheiten.
Ich höre gerne zu. Warum das so ist, hat wahrscheinlich viele Gründe. Wenn ich in der Zeit zurückgehe, erinnere ich mich daran, dass ich als Kind gerne Geschichten gehört habe. Geschichten, die mir vor allem Oma und Mama erzählt haben. Aus ihrer Kindheit. Aber auch erfundene Geschichten und Märchen. Später war ich in den Freundeskreisen dafür bekannt, gut zuhören zu können. Mir wurde viel anvertraut. Und heute verhält es sich auch noch so.
Übrigens ist eine Voraussetzung für das Zuhören, dass etwas erzählt wird. Das klingt logisch, ist aber keinesfalls selbstverständlich. Denn die mündliche Kommunikation von Angesicht zu Angesicht hat Konkurrenz bekommen. Oft wird nicht mal mehr telefoniert – und schon da fällt die dreidimensionale Ebene mit Gestik und Mimik weg. Sprach- und Textnachrichten sowie verschickte Fotos sind ziemlich gefragt. Schön für diejenigen, die sich aufgrund großer Distanzen nicht oft sehen können. Fatal für die, die sich zu echten Treffen keine Zeit nehmen.
Das Menschliche, das unser Herz so schön warm macht
Jeder kennt es: Das geschriebene Wort ist für Missverständnisse besonders anfällig. Und auch Textnachrichten und Telefonate sind nicht immer eindeutig, auch wenn die Stimmmelodie schon etwas mehr verrät. Aber die gehobene Augenbraue, das Zucken des Mundwinkels, die großen Pupillen und die senkrechte Falte über der Nase – all das bleibt unsichtbar. Das Menschliche eben, das unser Herz so schön warm macht. Und schon verstehen wir etwas falsch und geifern im Affekt zurück. So funktioniert nebenbei erwähnt auch Social Media. Schön ist das nicht…
Darum konzentriere ich mich jetzt auf mein Gegenüber. Es kneift die Augen ein wenig zusammen, die Stimme kommt ins Wanken. Die Arme hängen herab und die Hände haben sich zu lockeren Fäusten geformt. Und dann braucht es keine Worte mehr, sondern nur noch eine lange Umarmung. So lange, bis ein kleines Lachen hervorgluckst, wir uns an den Händen nehmen, uns ansehen und wissen: Das ist etwas Echtes. Denn Zuhören ist halt manchmal auch mehr als mit den Ohren hören. Oft braucht’s gar keine Worte, wenn man zwischen den Zeilen „zuhören“ kann…
Eva Müller
Du erinnerst mich an meine Mutter : auch sie hat Geschichte erzählt, die mich heute noch staunen lassen. Ich denke, dass das der Schlüssel ist. Wenn man bereit ist, zu staunen, dann kann man zuhören.