Cham. Nach ihrem kurzen Intermezzo in der Spielothek, deren Betreiber ihr gekündigt hatte, nachdem sie sein „Angebot“ zur Dreischichtarbeit ihrer Tochter wegen ablehnen musste (siehe Teil 1), jobbte sie wieder als Bedienung in verschiedenen Gaststätten und Restaurants. „Zum Mindestlohn plus Trinkgeld“, erinnert sich Alexandra (richtiger Name der Redaktion bekannt) und ergänzt: „Ich kenne so gut wie keinen Arbeitgeber, der Dir freiwillig mehr bezahlt.“ Im zweiten Teil der Hog’n-Serie „Hartz-IV-Mama klagt an“ berichtet die gelernte Hauswirtschafterin von ihrem – im Nachhinein als gesundheitsgefährdend zu bezeichnenden – Arbeitsverhältnis in einem Hotel-Restaurant im Bayerischen Wald und darüber, wie sie schließlich zur alleinerziehenden Hartz-IV-Bezieherin wurde. Aufgrund ihrer Erfahrungen ist die heute 39-Jährige mehr denn ja davon überzeugt, dass ein Großteil der Arbeitgeber folgende Einstellung hat: „Alleinerziehende sind nicht wirtschaftlich.“ Chronologie eines Arbeiterschicksals, zweiter Teil.
Immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass sie als alleinerziehende Mutter bei ihren Arbeitgebern auf der Abschussliste steht, landete Alexandra schließlich bei einem Hotel-Restaurant im Zentrum einer kleinen Bayerwald-Stadt. Krank sein – das kam für sie nicht in Frage. Wegen ihrer Tochter Sylvia zu Hause bleiben – das ging nicht. Zu groß war die Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes. „Vollzeit“ um jeden Preis lautete das Schlüsselwort, das die existenzielle Grundlage für sie und ihrer Tochter bedeutete. Denn Sylvia war auch „Vollzeit“ von früh bis spät im Kindergarten, damit Mama Alexandra arbeiten konnte.
„Hauptsache, Du hast Arbeit, kommst über die Runden“
Ihre neue Arbeitsstätte war für sie der „Supergau“, wie sie heute rückblickend sagt. „Danach war ich fertig.“ Der Hotelbesitzer, ein Großunternehmer, dem mehrere Firmen, Immobilien und gastronomische Betriebe gehören, hatte sie eigentlich als gewöhnliche Servicekraft eingestellt. Doch schon nach kurzer Zeit war sie schlagartig für nahezu jeden Bereich im Hotel verantwortlich: für Hotel, Service, Küche – quasi alles. Ihr Chef wusste um ihre Qualitäten, wusste, dass sie über viel Erfahrung im Hotel- und Gaststättengewerbe verfügte. Sie mutierte somit wegen akutem Personalmangel auf Geheiß ihres Arbeitgebers über Nacht zur Leiterin eines Hotels mit mehr als 50 Betten und eigenem Restaurant-Bereich – und das für läppische 8,50 Euro die Stunde. „Er hatte mich vor die Wahl gestellt und gemeint: Du machst das, oder Du stehst ohne Arbeit da und gehst.“ Alexandras Arbeitsvertrag ist trotz mehrmaliger Nachfragen nie geändert worden. „Da war er nie greifbar, hat sich immer rar gemacht, konnte nie unterschreiben. Ich habe ein Jahr lang um einen anderen Arbeitsvertrag gekämpft“, erinnert sie sich und schüttelt den Kopf.
Bei Großveranstaltungen mit mehr als 100 Leuten war sie im Service tätig – gemeinsam mit lediglich zwei weiteren Bedienungen. „Da bist Du gerannt bis zum Umfallen“, erzählt Alexandra. Nur noch geschuftet habe sie in diesen Zeiten. Mehr oder weniger sieben Tage die Woche von früh bis spät. „Mit Sylvias Vater hatte ich vereinbart, dass er sie zu sich nimmt, damit ich arbeiten kann.“ Zu Gesicht bekam sie ihre Tochter immer seltener. Alexandra brannte langsam aber sicher aus. „Bei Großveranstaltungen hab ich um 8 Uhr morgens begonnen und bin dann am nächsten Tag um 4 Uhr morgens heimgegangen.“ Wie sie das alles gepackt hat? „Ich bin jemand, der irgendwann abschaltet, sich keinen Kopf mehr macht.“ Ihr permanenter Gedanke: „Hauptsache, Du hast Arbeit, kommst über die Runden.“ Die Triebfeder: Existenzangst.
Trotz Atemproblemen konnte sie sich wieder aufrappeln
„Eines Tages musste ich Lagerbestandlisten machen – wegen einer anstehenden Großveranstaltung.“ Alexandra ging dazu ins Kühllager. „Plötzlich ist ein 30-Liter-Bierfass auf mich gefallen, aus einer Höhe von 2,50 Meter – direkt in den Rücken.“ Das Fass hatte sich aus irgendwelchen Gründen gelöst und war offensichtlich nicht fachgerecht befestigt worden. „Keine Ahnung, wie das passieren konnte.“ Die damals 37-Jährige lag benommen auf dem Boden. Schmerzverzerrt. Trotz Atemproblemen konnte sie sich wieder aufrappeln, „tapfer, wie ich bin“. Sogar ihren Service hatte sie an diesem Tag noch zu Ende gebracht, obwohl bereits Lähmungserscheinungen in den Beinen einsetzten. „Die Gaststube war voll.“ Erst anschließend ist sie zum Arzt. „Ich hab gesagt, er soll mir eine Spritze geben, damit ich abends wieder dabei sein kann im Hotel. Ich war ja eingeteilt“, erinnert sie sich und muss den Kopf über ihre damalige Einstellung schütteln.
„Total bescheuert“, urteilt sie heute über ihr Verhalten. „Ich habe meine Gesundheit aufs Spiel gesetzt.“ Die körperlichen Schäden würde ihr kein Arbeitgeber der Welt zu einem späteren Zeitpunkt „danken“. Sie ist überzeugt: „Diese Wegwerfgesellschaft, die haben wir heutzutage nicht nur in unserem Konsumwahn, sondern die gibt’s zum Beispiel auch in Beziehungen. Frei nach dem Motto: Wenn die oder der nicht mehr passt, hol ich mir eben die oder den nächsten. Kämpfen tut heute keiner mehr – warum denn auch, stehen ja genug da?! Und genauso ist es auch arbeitstechnisch.“ Wer sich ihrer Meinung nach einmal als „entbehrlich“ erwiesen hat, ist schnell „unten durch“ bei den Chefs…
Von ihrem damaligen Arbeitgeber musste sie sich „knallhart ins Gesicht sagen lassen: Was wollen Sie denn? Sie sind knapp 40! Glauben Sie, wenn Sie hier weggehen, dass Sie dann noch irgendetwas auf die Reihe kriegen?“ Irgendwann hatte sie ihm dann doch einmal die Meinung gegeigt, gesagt, dass sich seine Überheblichkeit gegenüber den „kleinen Angestellten“ einmal rächen werde. „Und die Zeit hat mir Recht gegeben. Das Fachpersonal ist ihm mittlerweile abhanden gekommen, weil er sie alle vergrault hat.“
„Jetzt werden Sie erstmal wieder richtig gesund“
Drei Tage lang lag Alexandra im Krankenhaus aufgrund ihres Betriebsunfalls. Sie musste im Bereich der Lendenwirbelsäule operiert werden. Sie hatte Angst. Sie fragte sich, ob sie je wieder richtig laufen könne. „Und dann kam tatsächlich der Personalleiter ans Krankenbett, bäumte sich vor mir auf und meinte: Ich soll Sie vom Chef fragen, wann Sie wieder in der Arbeit sind.“ Ihr behandelnder Arzt, der dabei stand, konnte nur mit dem Kopf schütteln: „Die Frau hatte gerade eine OP an der Wirbelsäule…“ Der Personalleiter erwiderte ohne jedes Mitgefühl: „Wenn sie innerhalb der nächsten drei Tage nicht da sind, wird sie ihre Kündigung schon kriegen.“
Nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus ging’s zunächst auf Reha. „Nach dem Krankenstand hab ich mich arbeitslos gemeldet.“ Ihr Arbeitgeber hatte inzwischen die Drohung wahr gemacht und ihr gekündigt. „Legal war das nicht, aber das war mir zu dem Zeitpunkt scheißegal – Hauptsache raus.“ Die Betreuerin vom Arbeitsamt sagte zu ihr: „Jetzt werden Sie erstmal wieder richtig gesund. Was Sie die letzten Jahre über geleistet haben, ist nicht normal.“ Das eine Jahr Arbeitslosigkeit hatte Alexandra genutzt, um ihren geschundenen Körper und Geist zu regenerieren.
„Du merkst das an der Reaktion Deines Gegenübers“
Nach ihrem Jahr als ALG-I-Bezieherin ging’s dann direkt weiter ins Hartz IV. Im Service konnte Alexandra nicht mehr arbeiten. „Schweres Heben ist nicht mehr möglich. Ich habe jetzt ein Alter erreicht, in dem ich nicht mehr so schwer arbeiten kann. Ich bin ausgemergelt.“ Was tun? Eine Umschulung wurde in die Wege geleitet. Eine dreimonatige Ausbildung zur Betreuungskraft für Demenz- und Alzheimerkranke, die sie erfolgreich abschloss. Freudestrahlend und mit neuer Hoffnung auf eine Anstellung schrieb Alexandra sogleich ihre Bewerbungen. Die Rückmeldungen waren jedoch alles andere als befriedigend: Viele wollten die alleinerziehenden Mutter nur auf 450-Euro-Basis einstellen. Einige Ausschreibungen lauteten auf Vollzeit, beim Bewerbungsgespräch stellte sich jedoch raus, dass es sich nur um eine Teilzeitstelle handele. „Da sitzt Du dann drin und denkst Dir: Wollt ihr mich eigentlich verarschen?“
Weitere „Aha-Erlebnissen“ und etliche Bewerbungsschreiben folgten, dann ging sie wieder zum Arbeitsamt mit der Frage, ob sie noch eine Umschulung machen könne. Diesmal zur Pflegehelferin. „Vielleicht stellt mich dann jemand ein.“ Die Ausbildung dauere wieder einige Monate. Ob sie diese genehmigt bekommt, weiß sie noch nicht. All diese Erlebnisse haben sie eines gelehrt, sagt sie: „Den arbeitslosen alleinerziehende Mamas – genauso wie den Vätern – wird von Arbeitgeberseite vermittelt, dass sie auf dem Arbeitsmarkt nicht gefragt sind. Diese Mütter und Väter sind nicht wirtschaftlich. Ab einem gewissen Punkt beim Bewerbungsgespräch weiß ich – okay, ich bin raus. Du merkst das an der Reaktion Deines Gegenübers.“
Stephan Hörhammer
Im dritten und letzten Teil der Hog’n-Serie „Hartz-IV-Mama klagt an“ erfahrt Ihr, mit wie viel Geld Alexandra und ihre Tochter Sylvia durch den Alltag kommen müssen – und wie es um die Zukunft der beiden bestellt ist.
Die Zahl der Vollzeitstellen in Deutschland ist in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen. Das schreibt die „Saarbrücker Zeitung“ und beruft sich dabei auf Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Danach wurden im zweiten Quartal dieses Jahres knapp 24,2 Millionen Vollzeitbeschäftigte gezählt. 1991, kurz nach der Wiedervereinigung, waren es noch 28,9 Millionen, also 4,7 Millionen mehr.
Hohe Beschäftigung liegt an Teilzeitjobs
Eigentlich erlebt Deutschland seit Jahren einen Beschäftigungsboom. Die Zahl der Beschäftigten wächst ungebrochen. Erst im Sommer meldete das Statistische Bundesamt einen neuen Rekord. Im zweiten Quartal zählte es 43,5 Millionen Beschäftigte.
Dieser Beschäftigungsboom geht offenbar auf Teilzeitjobs zurück. Denn seit 1991 hat sich die Zahl der Teilzeitarbeiter mehr als verdoppelt. Sie stieg von 6,3 auf gut 15 Millionen. Zu dieser Gruppe zählen neben den Arbeitnehmern mit einem versicherungspflichtigen Job auch geringfügig Beschäftigte und Ein-Euro-Jobber.
Parallel dazu ist das Arbeitsvolumen geschrumpft. Die Gesamtsumme aller geleisteten Arbeitsstunden ist im gleichen Zeitraum von knapp 52 Milliarden auf rund 50 Milliarden zurückgegangen.