Schönberg/Solla/Loh. Normalerweise ist die BRK-Rettungswache in Schönberg nur tagsüber besetzt. Aber wenn mehrere tausend Biker in den Hexenkessel von Loh strömen, herrscht für die große Helferschar vier Tage lang der absolute Ausnahmezustand. Hog’n-Mitarbeiterin Vera Neumann durfte den Einsatzkräften des Rettungsdienstes bei ihrer Arbeit über die Schulter schauen und eine zwölfstündige Nachtschicht lang „mittendrin statt nur dabei“ sein – und Erfahrungen machen, die sie so schnell nicht vergessen wird. Ein Tatsachen-Bericht.
„Das Elefantentreffen ist immer eine außergewöhnliche Situation“, sagt Rettungsassistent Stephan Seidl kurz vor Dienstantritt am Samstagabend – und fügt schnell an: „Aber auch etwas einseitig.“ Der 38-jährige Spiegelauer und sein Kollege Adrian Solga bilden in dieser Nacht – gemeinsam mit mir – das Team des Rettungswagens „Schönberg 71/1“. Es ist zu erwarten, dass wir mehrmals nach Loh fahren müssen. Schon in den vorangegangenen Nächten sind die Kollegen des Öfteren in den Hexenkessel ausgerückt. „Meistens sind es Schnittverletzungen, Verstauchungen oder Verbrennungen, mit denen man es zu tun bekommt“, erklären mir Adrian und Stephan, um mich auf die kommenden Stunden „einzustimmen“. Was ich dann aber tatsächlich erlebe, damit haben auch meine beiden Kollegen nicht gerechnet …
Adrenalin pur: Die erste Einsatzfahrt ist wirklich etwas Besonderes
Um 18 Uhr ist Schichtbeginn. Bevor wir tatsächlich einsatzbereit sind, müssen noch einige Dinge erledigt werden. Nach der offiziellen Schichtübergabe meldet uns Rettungssanitäter Adrian erst einmal bei der Leitstelle an. Ab sofort können wir also alarmiert werden. Nachdem ich in meinen Overall und eine Jacke geschlüpft bin, geht es runter zum Rettungswagen, kurz: RTW – das Fahrzeug wird zu Beginn jeder Schicht routinemäßig überprüft. Alle Gerätschaften und Materialien müssen stets vollständig, gereinigt und einsatzbereit sein. Sollten etwa Medikamente oder das Intubationsbesteck fehlen oder nicht ausreichend vorhanden sein, wird sofort nachgerüstet.
Adrian erklärt mir, wo was zu finden ist und wofür es benötigt wird – und ich staune nicht schlecht, was auf kleinstem Raum alles untergebracht werden kann. Der Fahrzeug-Check wird schließlich noch mit einer Unterschrift quittiert. Jetzt geht es wieder hoch in die Küche, wo wir uns mit dem stellvertretenden Wachleiter, Markus Hoppe, bei einer Tasse Kaffee zusammensetzen. Doch lange währt die Gemütlichkeit nicht, denn plötzlich geht der erste Alarm ein. Es ist bei Weitem nicht das erste Mal, dass ich einen Funkmelde-Empfänger auslösen höre – aber dass diese Alarmierung nun auch mir gilt, ist eine völlig neue Erfahrung. Fast hektisch mache ich meinen Overall zu und greife nach meiner Jacke – dann nichts wie runter zum Fahrzeug.
Als ich hinten auf dem Stuhl neben der Trage meinen Platz eingenommen habe und mich anschnalle, ruft Stephan von vorne: „Der Grund für diesen Einsatz könnte alles sein!“ Wir wissen bloß: Es geht nach Loh zu den „Elefanten“, wie die Biker fast liebevoll genannt werden. Als wir die Halle verlassen und Fahrer Adrian Blaulicht und Martinshorn einschaltet, merke ich, wie eine ordentliche Portion Adrenalin meinen Körper durchströmt. Meine erste Einsatzfahrt! Wie aufregend!
Keine Pause: Nahtloser Übergang zum nächsten Einsatz im Kessel
In Loh erwartet uns bereits die Unterstützungsgruppe der Sanitätseinsatzleitung (UG SanEL), die permanent mit ihrer mobilen Wache im Eingangsbereich des Veranstaltungsgeländes präsent ist. Bei der Patientin handelt es sich um eine junge Frau, die aus ungeklärter Ursache plötzlich ohnmächtig geworden war und nun zur weiteren Behandlung ins Krankenhaus gebracht werden soll.
Während des Transports nehme ich auf dem Beifahrersitz Platz, da Rettungsassistent Stephan hinten die Patientin betreut. Mit Blaulicht, aber mit deutlich gemäßigterem Tempo fährt uns Adrian nun Richtung Krankenhaus. Der 21-Jährige wartet eigentlich auf einen Studienplatz, um Medizin zu studieren. „Wenn dieser Beruf besser bezahlt wäre, könnte ich mir durchaus vorstellen, weiterhin im Rettungsdienst zu fahren“, erzählt er. „Aber um die Zeit zu überbrücken, ist es genau das Richtige. Und es macht Spaß.“ Das kann ich mittlerweile durchaus nachvollziehen – nicht nur wegen meiner ersten Einsatzfahrt. Die Ambulanz des Krankenhauses in dem Bewusstsein zu verlassen, einem Menschen geholfen zu haben, ist wirklich ein gutes Gefühl.
Noch vor Ort wird die Trage gereinigt und desinfiziert, um umgehend wieder einsatzbereit zu sein. Gerade heute ist das besonders wichtig, da Besucher des Elefantentreffens bekanntlich viel aufgeweichtes Erdreich mit sich rumtragen. Nach einer kurzen Verschnaufpause fahren wir wieder zurück zur Wache nach Schönberg. Dort angekommen, bestückt sogleich einer das Fahrzeug neu – der andere setzt sich an den Computer, um den Einsatzhergang detailliert in eine Datenbank einzugeben. „Ohne bürokratischen Aufwand läuft bei uns überhaupt nichts mehr“, sagt Stephan, als er sich vor den Bildschirm setzt. Kaum hat er die Datenbank geöffnet, werden wir ein zweites Mal alarmiert. Wieder geht es nach Loh.
Patient in Handschellen: „Das habe ich auch noch nie erlebt!“
Bei einer Schlägerei sind mehrere Personen verletzt worden, heißt es. Jacke an, Treppe runter, rein in den Rettungswagen – und ab! Meine Aufregung hat sich im Vergleich zum ersten Einsatz etwas gelegt. Als wir dieses Mal am Eingang des Hexenkessels ankommen, ist das Bild allerdings ein anderes: Nicht nur die Polizei, sondern auch die Feuerwehr ist bereits anwesend, da es weiter unten im Kessel angeblich brennt. Überhaupt herrscht eine leicht hektische Atmosphäre. Als wir aussteigen, warnt mich Stephan: „Du bleibst bitte im Hintergrund, die Kundschaft ist aggressiv!“ Mit „Kundschaft“ meint er einen verletzten 20-Jährigen, der sich – auch nachdem zwei Polizisten ihn vorläufig festgenommen und auf der Trage fixiert haben – immer noch vehement zu wehren versucht. Ein Kollege vom Rettungsdienst wurde bereits kurz zuvor bei dem Versuch zu helfen im Gesicht verletzt.
Wie es mit dem jungen Mann weitergehen soll, ist noch ungeklärt – die diensthabende Notärztin, Dr. Birgit Matsche, und Rettungsassistent Stephan nehmen in Anwesenheit zweier Polizisten zunächst die Erstversorgung vor. Da bei dem dreckverschmierten und offensichtlich betrunkenen Besucher des Biker-Treffens nach einem Sturz jedoch der Verdacht auf ein Schädel-Hirn-Trauma besteht, hält es die Notärztin für ratsam ihn in das Klinikum Deggendorf zu fahren. Sie und die beiden Polizisten begleiten ihn dabei. Ich nehme wieder auf dem Beifahrersitz Platz, während Adrian uns in Deggendorf anmeldet und losbraust. „Das hab ich auch noch nie erlebt, dass wir einen Patienten mit Handschellen in den Schockraum bringen müssen“, sagt er unterwegs mit einem Kopfschütteln.
Zusammenhalt: Hilfe und Gastfreundschaft im Nachbarlandkreis
Nachdem der Verletzte dem Deggendorfer Klinikum übergeben worden ist, stehen wir vor der Herausforderung, das Innere des RTW – insbesondere die Trage – wieder sauber zu kriegen. Ein wehrhafter Patient und vier Mitfahrer, allesamt vom Elefantentreffen gezeichnet, hinterlassen nunmal ihre Spuren. „Kommt doch einfach zu uns in die Wache, da könnt ihr alles in der Waschhalle sauber machen“, bieten uns zwei Deggendorfer an, die gerade mit ihrem Rettungswagen das Klinikum verlassen wollen. Wir nehmen dankend an. In den Hallen des BRK Deggendorf kommt die Trage unter den Hochdruckreiniger und der Innenraum wird geschrubbt, so gut es geht. Als alles wieder sauber, desinfiziert und einigermaßen trocken ist, wird unsere Arbeit noch mit einer Tasse Kaffee belohnt. Zusammenhalt, der auch über die Landkreisgrenzen hinausgeht.
Miteinander reden: „Sonst gehst Du kaputt in unserem Beruf“
Zurück in Schönberg, scheint nach getaner Arbeit erstmals so etwas wie Ruhe einzukehren. Zwei Kollegen schauen für eine Stunde vorbei und es wird geredet, gewitzelt und gelacht. „Solche Momente braucht man einfach als Ventil in unserem Beruf. Du gehst sonst irgendwann kaputt, wenn Du keinen zum Reden hast“, meint Stephan. Er selbst hat in den vielen Jahren als Rettungsassistent schon viel erlebt, leider auch Tragisches. „Das Schlimmste ist, wenn Kinder betroffen sind“, sagt er. Für diese schweren Fälle steht den Rettungskräften dann zusätzlich psychologische Betreuung zur Verfügung.
Kurz nach 1 Uhr ist es ruhig geworden. Wir legen uns waagrecht und versuchen zu schlafen – Schuhe aus, Augen zu. So richtig zur Ruhe komme ich jedoch nicht. Denn mit einem Ohr höre ich immer noch auf die knackenden Geräusche des Funkgeräts. Vielleicht werden wir ja doch nochmal gebraucht … und so ist es auch: Gegen 2.15 Uhr werden wir wieder in den Hexenkessel gerufen. Diesmal liegt eine Alkoholvergiftung vor. „Ich wär‘ grad so richtig gut eingeschlafen“, seufzt Adrian. Stephan war ohnehin aufgeblieben, um einmal mehr den „Papierkram“ zu erledigen. Ich selbst bin hundemüde, aber die Spannung hält mich auf den Beinen.
In Loh ist es mittlerweile auch ruhiger geworden, nur noch vereinzelt sieht man ein paar Nachtschwärmer herumgehen. Als wir unseren italienischen Patienten in den Rettungswagen verladen, lächelt er müde: „Too many beer!“ Solche Einsätze sind keine Seltenheit – und auch ein kleines bisschen unterhaltsam. Im Krankenhaus müssen noch ein paar Formalitäten geklärt werden, dann ist für uns auch dieser dritte Einsatz beendet. Auf der Wache dann das mittlerweile vertraute Prozedere: Material auffüllen, Datenbank ergänzen, wieder schlafen gehen. Es ist bereits kurz vor 4 Uhr morgens. Wir liegen keine fünf Minuten, da geht erneut der Piepser – anhand der Tonfolgen ist zu erkennen, dass das jetzt „etwas Größeres“ sein dürfte. Und tatsächlich: Ein Verkehrsunfall mit eingeklemmter Person. Schon bin ich wieder hellwach.
Schrecken zum Schichtende: Schwerer Verkehrsunfall in Grafenau
Als wir am Unfallort in Reismühle eintreffen, sind die Kollegen des BRK sowie Notärztin Dr. Matsche schon da. Ebenfalls alarmiert wurden die Feuerwehren Grafenau, Bärnstein, Großarmschlag und Spiegelau. Die vermeintlich eingeklemmte Person, nämlich der Fahrer des Pkw, wird bereits im Rettungswagen des BRK Grafenau versorgt. Als ich das Auto zu Gesicht bekomme, kann ich kaum glauben, dass der Verletzte nicht mehr als ein paar Prellungen davongetragen hat. Die Feuerwehr sucht unterdessen die weitere Umgebung mit einer Wärmebildkamera ab – man will sichergehen, dass sich keine weiteren Personen im Fahrzeug befunden haben und entweder hinausgeschleudert wurden oder im Schock davongelaufen sind. Doch die Einsatzkräfte finden nichts.
Nach und nach rücken die Feuerwehren ab, wir verarzten derweil einen Ersthelfer, der sich leicht an der Hand verletzt hat. Dieser Einsatz war glücklicherweise harmloser, als es zunächst den Anschein hatte. Die Rettungskräfte des BRK Grafenau fahren den Patienten zur weiteren Behandlung ins Krankenhaus nach Freyung. Unsere Aufgabe ist es nun, die Wache in Grafenau einstweilen zu besetzen, falls sich währenddessen eine weitere Alarmierung ergeben sollte. Es ist circa 5 Uhr früh. Das sollte unser letzter Einsatz in dieser Nacht gewesen sein.
In der Grafenauer Rettungswache wird als erstes der Schalter der Kaffeemaschine betätigt. „Von der Einsatzdichte her war es eher eine ruhige Nacht“, resümieren meine beiden Kollegen einhellig die vergangenen Stunden. Aber solche Schichten, sagen sie, in denen von Alkoholvergiftung über Polizeibegleitung bis hin zum schweren Verkehrsunfall alles dabei ist, sind selten – wenn nicht sogar einmalig. Für mich war es das auf jeden Fall. Ich habe viel gesehen, neue Leute kennengelernt und auch viel gelernt. Wer hat schon Ahnung davon, wie so ein Rettungsdiensteinsatz abläuft? „Viele Leute wissen etwa nicht einmal, wie eine Alarmierung funktioniert“, erzählt Stephan. „Die meisten meinen, sie rufen direkt bei uns in der Wache an, wenn sie den Rettungsdienst brauchen.“
Und Adrian ergänzt: „Genauso ist es mit dem Rettungshubschrauber. Es ist ein weit verbreitetes Vorurteil, dass der Hubschrauber nur dann zum Einsatz kommt, wenn eine größere Schadenslage vorliegt.“ Dabei ist es so: Wenn der Weg zum Unfallort für den Hubschrauber kürzer ist, als für das NEF, dann kommt eben der Hubschrauber zum Einsatz. Ich gebe zu, das habe ich noch nicht gewusst. Genauso wenig, dass die Einsatzkräfte des Roten Kreuzes oftmals für Ärzte gehalten werden. „Ich habe festgestellt, dass man in unserem Beruf entweder gnadenlos überschätzt – oder erschreckend unterschätzt wird“, berichtet Stephan. Eine Tatsache, die dieses ohnehin anstrengende Arbeitsfeld nicht gerade leichter macht …
Mein Respekt gilt jedem Einzelnen, der im Rettungsdienst tätig ist
Mir fällt es inzwischen sehr schwer, die Augen offen zu halten. Doch diese letzte Stunde vergeht dank guter Gespräche relativ schnell. Um 6 Uhr sind wir pünktlich zum Schichtwechsel wieder auf unserer Wache in Schönberg angelangt. Um halb sieben falle ich schließlich erschöpft daheim in mein Bett.
Diese intensiven zwölf Stunden haben mir einen Einblick in die Arbeit des Rettungsdienstes ermöglicht. Und obwohl es mir großen Spaß gemacht hat, muss ich zugeben, dass ich für die Aufgaben eines Rettungssanitäters oder -assistenten doch eher ungeeignet bin. Mein Respekt gilt jedem Einzelnen – vom Bufdi bis zum Notarzt -, der im Rettungsdienst tätig ist. Vor allem aber den zahlreichen ehrenamtlichen Helfern, die in ihrer Freizeit Tag und Nacht im Dienst am Menschen unterwegs sind.
Vera Neumann