Freyung. „Ich habe mich im Spiegel angeschaut und den Tod gesehen!“ Andrea (Name von der Redaktion geändert) überkommt ein Schauer als sie vom absoluten Tiefpunkt ihrer Krankheitsgeschichte erzählt. Gerade mal 36 Kilo brachte die 26-Jährige mit ihren 1,66 Meter damals auf die Waage. Nein, Andrea ist nicht magersüchtig, sie leidet an Colitis Ulcerosa (Cu). Das ist eine Erkrankung des Dickdarms, die, wie Morbus Crohn, zu den chronisch entzündlichen Darmerkrankungen gehört. Einer Schätzung zufolge gibt es deutschlandweit 168. 000 Betroffene. Colitis-Patienten kämpfen mit unberechenbaren Durchfällen. Eine anonyme Geschichte über eine Krankenhaus-Odyssee und das Leben mit Colitis Ulcerosa.
„Manchmal geht es in die Hose – das ist einfach entwürdigend“
„Manchmal hilft alles nichts, dann muss man sich auch mal am Straßenrand hinhocken“, sagt Andrea und zuckt mit den Schultern, „oder es geht halt in die Hose. Aber das ist wirklich das Entwürdigendste was es gibt.“ Wobei, fügt sie hinzu, ihre Schamgrenze mittlerweile stark gesunken sei. Ihr Mann Christoph* (28) mustert sie stirnrunzelnd und wirft ein: „Es nagt aber schon an dir!“ – „Stimmt“, erwidert sie, „ganz weg ist das Schamgefühl nicht, aber es ist nicht mehr so schlimm wie früher.“ Und leise fügt sie hinzu: „Es hilft ja sowieso nichts …“
Bei Andrea ist der gesamte Dickdarm durch die andauernde Entzündung von Geschwüren betroffen – „Pankolitis“ oder auch „totale Colitis“ nennt man die schwerste Ausprägung der Cu. Dabei fing es – in ihren Augen – eigentlich ganz harmlos an. Vor gut zwei Jahren entdeckte sie Blut im Stuhl, vermutete aber zunächst harmlose Hämorrhoiden. „Das vergeht schon wieder, habe ich mir gedacht“, erzählt sie und schüttelt im Nachhinein den Kopf über ihre anfängliche Unbedarftheit. Als es nicht besser wurde, ging sie dann doch mal zum Hausarzt. Dort wurde dann die erste Darmspiegelung vorgenommen. „Und da hat man schon gesehen, dass es auf jeden Fall etwas Chronisches ist. Richtig ernst genommen habe ich aber auch diese Diagnose nicht. Ich habe gedacht: ‚Mei, dann muss ich halt ab sofort mit dem Essen aufpassen und Medikamente nehmen …‘“
„25- bis 30-mal am Tag musste ich aufs Klo“
Das erste Mal, dass der Diplom-Sozialpädagogin, die vor ihrer Erkrankung in der Jugend- und Suchthilfe tätig war, wirklich bewusst wurde: „Hoppla, das ist doch etwas Ernstes“, war während einer Nachtschicht: „Da ist es zum ersten Mal in die Hose gegangen.“ Andrea hält kurz inne bevor sie weitererzählt: „Ich habe dann Christoph angerufen und einer Kollegin Bescheid gegeben, damit es niemand mitkriegt.“
Von da an ging es rasant abwärts. 25 bis 30 Mal am Tag musste sie aufs Klo und nahm innerhalb kürzester Zeit sechs bis sieben Kilo ab. Zwei Wochen nachdem etwas Chronisches festgestellt worden war, begann Andrea mit einer Cortison-Therapie und entzündungshemmenden Medikamenten – die übliche Vorgehensweise, um eine Entzündung einzudämmen. In der Gastroenterologie in Passau kamen dann noch Einläufe hinzu – besser wurde es nicht.
Es lag nicht am Essen – Andreas Darm ist ständig entzündet
„Und dann hat noch jeder gemeint, er müsse seinen Senf dazugeben“, zeigt sich Andrea genervt. „Tu dies nicht, nimm das“, „das ist ja alles psychisch“, „wahrscheinlich ist es Laktose“ oder „lass‘ dich doch mal auf Zöliakie testen“ waren Sätze, die sie oft zu hören bekam.
„Klar, die Leute wollten mir den gut gemeinten Ratschlägen nur helfen, aber zu diesem Zeitpunktwusste ich es einfach schon besser. Ich hatte angefangen, alle Mahlzeiten zu notieren. Und wenn ich das Gefühl hatte ‚he, das habe ich jetzt vertragen‘, habe ich das gleich wieder ausprobiert … und bin doch wieder zur Toilette gerannt.“ Und Tipps wie „esse doch einfach mal nur Semmeln und Kartoffeln“ seien bei einem Ausgangsgewicht von 40 Kilo nicht gerade ratsam …
Weil die Durchfälle anhielten, wurde sie bald darauf im Vilshofener Krankenhaus stationär behandelt. Dort stellten die Ärzte bei einer weiteren Darmspiegelung nicht nur die Cu fest, sondern bestätigten auch die Vermutung, dass es gar nicht am Essen lag. Es lag vielmehr daran, dass es bei Andrea keine entzündungsfreien Phasen gibt. Während die Cu sonst meistens in Schüben verläuft – sich der Darm also zwischenzeitlich mal wieder erholen kann -, ist Andreas Darm immer entzündet.
„Ich habe nur noch geschlafen oder bin zur Toilette gerannt“
In Vilshofen entschied man, bei Andrea ein Medikament auszuprobieren, das eigentlich ein Rheumamittel ist. Für ihre Krankheit war das zwar noch nicht zugelassen, „aber wir wollten nichts unversucht lassen“, sagt Christoph, „nach drei Wochen hatte sie vom andauernden Durchfall einen Kaliummangel.“ Drei Wochen lang schlief sie bei ihrer Mama, weil ihr schon beim Aufstehen schwindlig wurde. Die Gefahr ungesehen umzufallen, war zu groß. „Ich war auf eine Rundumbetreuung angewiesen. Ich habe nur geschlafen oder bin zur Toilette gegangen.“
Für zwei Monate kam sie dann völlig unterernährt in die Klinik nach Passau und wurde über die Halsvene täglich mit 2000 Kalorien künstlich ernährt. „Zusätzlich habe ich ganz normal gegessen. Ich kann mich noch gut daran erinnern wie der Arzt gesagt hat ‚Bitte essen Sie etwas, egal was – auch Schokolade`“, erinnert sich Andrea und muss dabei lächeln. Auf keine der konventionellen Therapien sprach sie an. In Passau wurde sie, sozusagen als „Versuchskaninchen“, sogar noch einer Leukozytapherese unterzogen. Dabei werden die weißen Blutkörperchen – ähnlich wie bei der Dialyse – aus dem Blut gewaschen, damit sich das Blutsystem wieder erholen kann. Denn Cu ist eine Autoimmunerkrankung, was in Andreas Fall bedeutet, dass das Immunsystem den Darm bekämpft.
„Irgendwann habe ich gedacht: Das bringt doch alles nichts mehr“
Andrea war nur noch daheim, völlig abgeschottet.„Ich habe immer planen müssen, ob ich es von Freyung nach Waldkirchen zu meinen Eltern schaffe. Erst auf die Uhr schauen, mich fragen, wie oft ich heute schon aufm Klo war – und wenn ich grad war, bin ich gleich losgefahren.
An alltägliche Dinge wie Einkaufen war gar nicht zu denken.“ Tagsüber war sie bei ihren Eltern, um mit sich und ihren Gedanken nicht alleine sein zu müssen, während ihr Mann arbeiten ging. „Meistens waren auch die beiden Kinder meiner Schwester dort, die Ablenkung hat einfach gut getan. Kinder denken nicht lange darüber nach, ob man krank ist oder nicht. Die merken schon, dass mit mir etwas nicht stimmt, aber die haben dann einfach gesagt ‚komm Tante, gehen wir raus‘ – und schon war ich wieder beschäftigt.“
Irgendwann hat sie resigniert und gedacht „das bringt doch alles nichts mehr“. Im Passauer Krankenhaus wurde dann auch zum ersten Mal von einem künstlichen Ausgang gesprochen. „Aber das war für mich undenkbar. Schon alleine die Vorstellung mit einem Beutel um den Bauch herumzulaufen, war schrecklich für mich! Wer kennt schon junge Menschen mit einem künstlichen Ausgang? Ich hatte das Bild von einer alten Frau vor mir!“ Ein dreiviertel Jahr später entschied sie sich freiwillig für den künstlichen Ausgang, weil sie einfach wieder vor die Haustüre wollte.
„Man entwickelt sich zu einem Profi für seine eigene Krankheit“
Bis dahin ließ sie jedoch nichts unversucht. In Passau testete Andrea ein Nierenmittel, das man sonst nur bei Transplantationen einsetzt, damit der Körper das Organ nicht abstößt. Wegen den Nebenwirkungen verlor sie ihre Haare. „In Vilshofen bekam ich dann aber zu hören, dass ich das sofort absetzen soll“, zeigt sich Andrea heute entrüstet. „Irgendwann wird man den Ärzten gegenüber sehr frech, wenn man merkt, dass sie eigentlich gar nicht so recht wissen, was sie mit einem machen sollen. Dann sagt man: ‚Ich will genau dieses Medikament und danach diese Therapie.‘ Man entwickelt sich zu einem Profi für seine eigene Krankheit. Und ich bin ein richtiger „Medikamentenfreak“ geworden: Wenn ich einmal sterbe, müssen sie mich als Giftmüll entsorgen, weil ich gar nicht verrotten könnte“, erzählt sie lachend. Ihren Humor hat sie trotz allem nicht verloren.
„Wir sind jung und konnten nicht mehr am Leben teilnehmen!“
„Wir haben einfach nach jedem Strohhalm gegriffen“, erzählt Christoph. „Wir sind jung und konnten nicht mehr am Leben teilnehmen!“ Andrea nickt. Also ging es nach einer weiteren Station im Klinikum Großhadern für ein paar Wochen in eine Münchner Naturheilklinik. „Dort habe ich dann fleißig Globuli gelutscht, obwohl ich nie daran geglaubt habe. Echt absurd, wenn die Medikamente danach ausgesucht werden, ob man Angst vor Spinnen hat und danach, was in meiner Kindheit passiert ist“, erzählt sie und verdreht die Augen. „Die Klinik war ein Traum, mit einem schönen Park, in dem wir oft spazieren gegangen sind, aber die Methoden?“ Andrea und Christoph lachen laut los. „Ich musste zum Beispiel Heilerde zu mir nehmen – das war so als würde ich am Strand in den Sand beißen! Spitzenidee, etwas das Brechreiz auslöst, zu verschreiben, wenn man eigentlich zunehmen soll! Aber am besten war der Vorschlag, ich solle doch mal Überhitzungsbäder machen. Nach so einem Bad wird man nämlich zwei Stunden lang eingepackt! Da habe ich denen erst mal klargemacht, dass sie mich gar nicht so schnell wieder auspacken können, wie ich aufs Klo muss.“
Als das Gelächter verstummt, wird Christoph wieder ernst: „Man kann sich gar nicht vorstellen, mit was man sich alles rumplagen muss, obwohl man doch eh schon so krank ist! Die Barmer wollte Andrea sogar das Krankengeld streichen, weil sie behauptet haben, dass sie nicht vernünftig mitarbeitet. Und das nur, weil sie nicht zur Reha wollte.“ Andrea wirft ein: „Was sollte ich da auch? Da ruft mich eine Frau an wegen der Reha und rät mir, meine Schwimmsachen einzupacken!? Hallo, geht’s noch? Gute Frau, wissen Sie überhaupt was ich habe? Um schwimmen zu können, brauche ich eine Schwimmwindel!“ Mittlerweile ist Andrea ausgesteuert und bekommt Arbeitslosengeld. Die logische Konsequenz: Hartz IV. „Aber darauf habe ich keinen Anspruch, weil mein Mann zu viel verdient.“
Keine Besserung: Entscheidung für künstlichen Ausgang
Und dann war er da, der Tag an dem Andrea beschloss, sich einen künstlichen Ausgang legen zu lassen. „Wir hatten die Hoffnung, dass die Entzündung vielleicht weggeht, wenn sich der Dickdarm erholen kann“, erzählt Christoph. Das war vor über einem halben Jahr, doch Andrea muss trotzdem nach wie vor sechs- bis achtmal am Tag zur Toilette. Der Darm hat sich bislang nicht erholt und produziert weiterhin Entzündungssekrete, die abgesetzt werden müssen. „Wir haben gedacht, mit dem künstlichen Ausgang müsste sie nur noch alle zwei Tage aufs Klo – und dann das!“, schildert Christoph.
Und jetzt? „Seit der OP habe ich zumindest wieder sechs Kilo zugenommen“, sagt Andrea, „und es ist auch nicht so, dass man die Stoma-Versorgung am Bauch sieht oder riecht, wie ich anfangs befürchtet habe. Momentan bin ich zufrieden mit meinem Zustand, weil ich meinen eigenen Haushalt und den Garten machen kann. Und ich kann mit unserem Hund spazierengehen.“ Mit weniger als 40 Kilo hätte sie jederzeit an Multiorganversagen sterben können. „Früher war ständig die Gefahr da, dass sie umfallen könnte“, sagt Christoph. „Jedes Mal, wenn Andrea in der Nacht aufgestanden ist, bin ich wach geworden und habe gelauscht, ob es ihr gut geht.“
„Ich möchte einfach nur einen normalen Alltag – und Kinder“
„Ich habe mich mittlerweile damit abgefunden, dass ich krank bin. Ich erwarte auch nicht mehr, dass ich gesund werde. Es gibt keine Heilung“, sagt Andrea und zuckt mit den Schultern. „Aber ich möchte zumindest einen Alltag haben. Vielleicht ein paar Stunden arbeiten können und vor allem wieder selbständig sein. Einfach nur Normalität.“ Und sie möchte Kinder. Doch das ist mit der Entzündung und den Stoma-Medikamenten derzeit absolut undenkbar. „Der Arzt hat gesagt, ein Baby wäre in meinem Zustand so etwas wie ein Parasit. Ich könnte meinem Körper gar nicht so viel Energie zuführen, wie das Kind benötigt.“ Deswegen ist sie im Kopf mittlerweile auch schon da: die völlige Entnahme des Dickdarms. Denn dann wäre Andrea „gesund“.
„Die Frage nach dem ‚Warum‘ ist sinnlos“
Christoph liebt Andrea, ob gesund oder nicht. Er hat, schon lange bevor er sie geheiratet hat, bewiesen, was viele Eheleute erst in späten Ehejahren erkennen: Dass man füreinander da ist, in guten wie in schlechten Zeiten. Im letzten Frühling haben sie standesamtlich geheiratet – zu einem Zeitpunkt als es Andrea am schlechtesten ging.
„Da war ich mit Immodium akut gedopt“, sagt Andrea und wirft ihrem Mann ein warmherziges Lächeln zu. Die für den Sommer geplante kirchliche Trauung konnte zwar nicht stattfinden, aber auch das wollen sie nachholen – irgendwann, wenn Andrea wieder ein Normalgewicht von 50 Kilo erreicht hat.
Kommt denn bei alledem nie die Frage auf „Warum ich“? „Das ist eine sinnlose Frage, die ich mir nie gestellt habe“, sagt sie. Sie hadere nicht mit dem Schicksal, schließlich sei die Ursache für Cu schlicht und ergreifend unbekannt. Und beim Krebs wisse man ja oftmals auch nicht woher er komme. „Meine Tante leidet seit 20 Jahren an Krebs. Sie hat nie den Mut verloren oder gejammert. Daran nehme ich mir ein Beispiel.“
Dike Attenbrunner
Andrea und Christoph haben die Hog’n-Redaktion gebeten, ihre Kontaktdaten an all diejenigen weiterzuleiten, die sich in derselben oder einer ähnlichen Situation befinden und sich aufgrund der Geschichte bei uns melden. Das machen wir natürlich gerne. Wenn ihr also per Email, Telefon oder persönlich mit Andrea und Christoph in Kontakt treten wollt, schreibt einfach eine Email an info@hogn.de (Kennwort: „Andrea“) – und wir vermitteln.
Folgegeschichte: Was wurde aus Andrea? –> Sieg über Colitis Ulcerosa: Mit viel „Mut zur Lücke“ hinein ins neue Leben