Freyung-Grafenau. „Ich habe mich im Spiegel angeschaut und den Tod gesehen.“ Die Krankheitsgeschichte von Andrea*, die da Hog’n vor fünf Jahren veröffentlichte, hat viele Menschen bewegt. Am Tiefpunkt ihres Leidensweges angelangt, wog die 1,66 Meter große Frau nur noch 36 Kilo. Bis zu 30 mal musste sie aufs Klo – und das täglich. Momente voller Verzweiflung, voller Entwürdigung, dazu etliche Krankenhausaufenthalte und Operationen, bei denen Ehemann Christoph* seiner Frau zur Seite stand. Ein Leben, das nicht mehr lebenswert schien. Colitis Ulcerosa (Cu), eine chronische Entzündung des Dickdarms, bestimmte den Alltag der damals 26-Jährigen, die sich so sehr nach dem „Normalen“ sehnte – und nach eigenen Kindern. Wir haben die junge Frau noch einmal besucht – und es hat sich so einiges verändert… (*Namen von der Redaktion geändert)
„Vieles hat sich getan“, fasst Andrea die momentane Gesamtsituation zusammen. Sie wirkt zufrieden. Lächelt. Im Hintergund ist fröhliches Kindergeschrei zu hören. Ihr Hund schmiegt sich an sie, verlangt nach Streicheleinheiten. Ehemann Christoph stellt Getränke und Knabbereien bereit. Die heute 31-Jährige greift bedenkenlos zu, freut sich über den Besuch.
Zu sehr hatte ihr Körper, ihr Geist, ihr Umfeld gelitten
2014 haben die beiden kirchlich geheiratet. Ein wundervoller Tag. Doch dem ging weniger Wundervolles voraus: Andrea hatte vor dem eigentlichen Hochzeitstermin Darmverschluss. Eine Not-Operation musste eingeleitet, der „schönste Tag im Leben“ vorerst noch einmal verschoben werden. Ein weiterer Rückschlag, der auf Andreas Krankheit zurück zu führen ist. So wie die zahlreichen Krankenhausauftenhalte und die gescheiterten Versuche, Colitis Ulcerosa medikamentös oder naturheilkundlich in den Griff zu bekommen. Die Not-OP gelang, die Ringe wurden getauscht – auch ohne Schmerzmittel. Gott sei Dank.
Über den Winter 2015 reifte in ihr der Gedanke für die „große OP“: Andreas gesamter Dickdarm sollte dabei entfernt werden – inklusive dem Teil, der für die chronische Entzündung und all die Probleme verantwortlich ist. Ein mutiger, ein riskanter Schritt. Viele Gespräche folgten – mit ihrem Mann, ihrer Familie und Freunden, mit Ärzten und Experten. „Wir waren an einem Punkt angekommen, an dem es nicht mehr weiterging“, erinnert sich die junge Frau. Zu sehr hatte ihr Körper, ihr Geist, ihr Umfeld gelitten. Von Lebensqualität keine Spur mehr. Auch der Kinderwunsch wurde immer größer.
„Du schöpfst Hoffnung – doch am Ende schaust Du in die Röhre“
Vor ihrem Entschluss zur OP hatte Andrea an einer Studie am Uni-Klinikum Erlangen teilgenommen, bei der ein neues Medikament aus Schweden an CU-Betroffenen getestet wurde. Einige der Studienteilnehmer hatten ein Placebo erhalten, einige das Medikament. Andrea bekam, wie sich später herausstellte, das Medikament verabreicht, das bei ihr eine positive Wirkung hinterließ. Die Durchfälle wurden weniger, die Darmspiegelungen ergaben ein verbessertes Bild. „Tagsüber hatte ich meine Ruhe“, blickt Andrea auf jene Zeit der Hoffnung zurück.
Auch der zuständige Professor war begeistert. „Er hätte auch veranlasst, dass die Studienteilnehmer das Medikament kriegen“, erzählt die 31-Jährige. „Doch es scheiterte letztendlich am Geld.“ Andrea zufolge konnte kein Pharmakonzern gefunden werden, der das Medikament zu einem angemessenen Preis herstellt und vertreibt. „Es ging rein ums Geld. Als Patient bist Du da ein armes Würstchen. Du bekommst ein Zuckerl hingeworfen, schöpfst Hoffnung – doch am Ende schaust Du in die Röhre.“
Ein weiterer Hoffnungsschimmer, der versiegte. Die Frage, wie es nach der Enttäuschung weitergehen soll, war allgegenwärtig. „Wir hatten kein soziales Leben mehr. Wir konnten nirgendwo hingehen, wo ich mir nicht sicher sein konnte, dass eine Toilette in der Nähe ist.“ Die Familienplanung lag wieder mal auf Eis. Zweifel kamen hinzu: Geht das mit dem Kinderkriegen in ihrem Zustand überhaupt? Ein Arzt meinte Andrea gegenüber: Solange die Entzündung derart aktiv ist, sei ein Kind zu betrachten wie ein Parasit – „das Schlimmste, was mir passieren könnte“.
Vermutlich die beste Leberkässemmel, die sie je gegessen hat
Dann also die „große Operation“. Weg mit dem Dickdarm. Komplett. Den künstlichen Darmausgang an der linken Bauchseite wollte sie unbedingt behalten – und somit keine neue Improvisation (sowie damit verbundene, eventuelle Neu-Risiken) im Bauchinneren zulassen. Sie hatte sich die letzten Jahre über an ihr Stoma gewöhnt, ist gut damit zurecht gekommen. Es wurde zu einem Teil von ihr.
Die Operation selbst sollte dann derselbe Arzt durchführen, der auch schon die Not-OP einige Monate zuvor gemacht hatte. Ein Spezialist für Bauch-Chirurgie, mit dem Andrea bereits gute Erfahrungen sammeln durfte. Auch menschlich. Im März 2015 war es soweit. Der Eingriff war relativ kompliziert, da sich viele Nerven am Darm befinden. Nach zweieinhalb Stunden war alles vorbei. „Die OP hatte bestens geklappt“, erinnert sie sich – auch, weil der Arzt sich an jenem Tag einzig und allein um sie gekümmert hatte. Zwei Tage später brauchte Andrea keine Schmerzmittel mehr zu nehmen. Nach drei Tagen stand sie unten am Krankenhaus-Kiosk und biss herzhaft in eine Leberkässemmel. Vermutlich die beste, die sie je gegessen hatte. Nach einer Woche durfte sie nach Hause.
Ihr neues Leben begann also. Sie war von da an wieder „viel flexibler“, wie sie es nennt. Am Stoma wurde, wie vereinbart, nichts verändert – „das war alles wie vorher, ohne Probleme“. Der entscheidende Vorteil: Sie war nun „toilettenunabhängig“ – nach ihrem Empfinden „die große Freiheit“, die es auszukosten galt. „Wie bei jedem anderen normalen Menschen auch.“ Nun, nachdem der Dickdarm erfolgreich entfernt worden war, lief bei ihr alles über den künstlichen Ausgang. Den sie in genauso regelmäßigen Abständen entleert, wie andere Menschen eben mal „groß“ auf die Toilette müssen.
Abends weggehen, zum Schwimmen, zum Sport, Rad fahren, ins Kino – das alles war nun wieder bedenkenlos möglich. Andrea und ihr Mann haben es genossen. „Wir haben all die Dinge gemacht, die wir vorher nicht machen konnten. Einfach mal unbekümmert durch die Stadt bummeln. Kleinigkeiten eben.“ Auch mal eine Reise. Nach Island. Mit ihren Freundinnen. Ein Urlaub, den sie sich selbst geschenkt hatte. Nach der Operation galt sie als geheilt. Als klinisch gesund. Beschwerden hatte sie seitdem keine mehr. Das Ende einer Odyssee, die fünf Jahre – von 2010 bis 2015 – gedauert hatte. Und auch privat schien das Glück nun weiter seinen Lauf zu nehmen…
„Ich war ruhig, habe es genossen, sah alles zuversichtlich“
Der Traum vom Elternsein sollte sich erfüllen. Zunächst standen jedoch noch einige Ungewissheiten im Raum. Etwa die Frage, wie lange man nach der Operation mit dem Schwangerwerden warten müsse. Oder welche Auswirkungen, die eine eventuelle Schwangerschaft auf das, was da vor Kurzem in Andreas Bauch operativ bewerkstelligt wurde, haben könne. „Wenn, dann so schnell wie möglich“, lautete der Rat des Frauenarztes. Denn die Vernarbung im Bauchraum sei dann noch nicht allzu weit fortgeschritten, dass Gewebe noch elastisch.
Als Andrea und Christoph schließlich die frohe Botschaft über ihre Schwangerschaft verkünden konnten, staunte deren Umfeld nicht schlecht. Damit hatte keiner gerechnet. „Es hatte schnell hingehauen. Alles problemlos. Viele waren überrascht und dachten nicht, dass das – nach der sechsten Bauch-OP – so ohne Weiteres gehe.“ Doch alle weiblichen Organe, die fürs Kinder kriegen wertvoll sind, blieben offensichtlich verschont. Gott sei Dank.
Sie selbst hatte, wie sie sagt, „seltsamerweise“ keine Angst vor dem Schwangersein – im Gegensatz zu allen anderen. „Ich dachte: Wenn das so schnell klappt, dann macht das der Körper schon irgendwie.“ Sie hatte von Anfang an großes Vertrauen in ihn. Hatte sich von Beginn an auf ihn verlassen können. Trotz ihrer Vergangenheit. Sie überkam eine positive Grundeinstellung, an der sie die gesamte Schwangerschaft über festhielt – und die sie bis zu Geburt ihres Sohnes nicht mehr verlor. „Ich war ruhig, habe es genossen, sah alles zuversichtlich.“ Auch der künstliche Ausgang hielt den Belastungen bis zum Schluss, als Andreas Bauch sehr prall war, stand. Es funktionierte. Ihr Körper verhielt sich so, wie sie sich das gewünscht hatte.
„Sie sagte: Das geht – und klang gleich recht überzeugt“
Doch: „Wie machen wir’s, dass nichts kaputt geht?, lautete die entscheidende Frage bei der Art der Entbindung – auf natürliche Weise oder via Kaiserschnitt? Darüber machte sich die werdende Mutter viele Gedanken, wobei sie intuitiv eher zu letzterer Geburtsmöglichkeit tendierte. „Ich war immer der Meinung: Kaiserschnitt ist das Mittel der Wahl, um den Ausgang zu schützen und keine Narben aufreißen zu lassen.“ Ihr Frauenarzt hingegen neigte – genauso wie der Erlanger Studienprofessor – zur natürlichen Geburt. Nach langem hin und her freundete sie sich mehr und mehr mit diesem Gedanken an: Am besten ist das, was natürlich ist. Sie entschied sich gemeinsam mit Christoph dazu, ihr Baby in einer Kinderklinik zur Welt zu bringen.
Ihre Ärztin war noch jung, traute sich jedoch – wie sie Andrea nach mehreren Vorabgesprächen über deren Krankheitsgeschichte versicherte – die Angelegenheit zu. „Sie sagte: Das geht – und klang gleich recht überzeugt.“ Die Gebärmutter drücke beim Geburtsvorgang gegen die Bauchdecke und schütze dadurch den künstlichen Ausgang, habe die Ärztin ihr Mut zugesprochen. Deren einziger Rat: allzu starkes Pressen vermeiden. „Ihre Sicherheit hat auch mich beruhigt“, sagt Andrea.
Zwei Wochen vor dem eigentlichen Termin wurde die Geburt in der Klinik eingeleitet. Es war Andreas Wunsch, dies so zu tun. Die Geburtsanzeichen waren eindeutig, das Baby lag bereits tief in ihrem Becken, der Muttermund hatte sich zu öffnen begonnen. „Er war parat“, wie ihr auch ihr Frauenarzt mitteilte. Ein weiterer Grund für die frühzeitige Geburt: Die knapp 40 Kilometer von ihrem Zuhause in die Klinik wollte sie – im Falle des Falles – nicht unbedingt abgehetzt und hektisch hinter sich bringen. Auf Sorgen, es nach dem Einsetzen der Wehen nicht rechtzeitig ins Krankenhaus zu schaffen, konnte sie gut und gerne verzichten. Lieber geregelt, lieber in Ruhe und entspannt.
„Ich hätte nicht gedacht, dass alles so glatt läuft“
Nachmittags, 14 Uhr, wurde die Einleitung initiiert. Nach einem Spaziergang am Inn hatte es dann langsam „zu drücken“ begonnen, erinnert sie sich. Mit dem Abendessen war sie gerade fertig – es war kurz nach 21 Uhr, als die nächste Einleitungsmaßnahme durchgeführt wurde. Sie wollte sich aufs Schlafen vorbereiten. „Es waren Wehen da, mein Bauch wurde fester – aber meinem Empfinden nach noch nicht allzu stark.“ Irgendwann konnte sie nicht mehr auf dem Rücken liegen, drehte sich zur Seite – dann platzte die Fruchtblase.
Der Muttermund war bereits neun Zentimeter geöffnet, wie die Hebamme im Kreißsaal feststellte. Zu spät für die PDA. Um 22.07 Uhr erblickte ihr Sohn das Licht der Welt. Gesund und munter. „Alles ging so unglaublich schnell“, denkt Andrea jene Momente zurück. Vom Einsetzen der Wehen bis zur Entbindung war keine ganze Stunde vergangen. „Eine Presswehe zur Probe, drei richtige hinterher – dann war er da.“ Und Andrea und Christoph waren plötzlich zu dritt. Ihr sehnlichster Wunsch ging in Erfüllung. Der Moment des Glücks – unbeschreiblich: „Ich hätte nicht gedacht, dass alles so glatt läuft“, berichtet sie in der Rückschau, während der kleine Bub im Hintergrund fröhlich vor sich hinbrabbelt.
„Man braucht einen Herzensgrund, um sich so etwas zu trauen“
„Mutig sein“ – diese zwei Worte beinhalten all das, was Andrea ihren (ehemaligen) Leidensgenossen mit auf den Weg geben möchte. Spaßehalber spricht sie auch vom „Mut zur Lücke“ – die Lücke, die nach der Darm-Entfernung enstanden ist. Und die ihr nun so viele gute Momente beschert. Die entscheidende Operation habe sie „wahnsinnig viel Überwindung gekostet“. Ihr sei bewusst gewesen, dass jener Schritt unumkehrbar ist. Ein Schritt, der sich – trotz anfänglicher Ängste – für sie zu gehen lohnte, wie sie heute weiß. „Allein wegen der vielen schönen Moment, die einen im Nachhinein erwarten.“
„Immer nur mit seinem Schicksal zu hadern, ist nicht zielführend“, sagt die 31-Jährige. Schwarzmalerei und Jammern bringe auf Dauer nichts. Irgendwann müsse der nächste Schritt gegangen werden. Auch wenn einen die Hoffnung auf eine Alternative – wie etwa die Entdeckung eines wirksamen Medikaments – bis zum Schluss zurückhalte. „Man braucht einen Herzensgrund, um sich so etwas zu trauen“, ist Andrea überzeugt. Dann falle einem die Entscheidung leichter. „Mein Herzensgrund war der Wunsch nach einem Kind.“
Stephan Hörhammer