Neu-Dehli. „Im nächsten Monat wird ein Atomkraftwerk im Bayerischen Wald gebaut – mit russischen Reaktoren aus der Generation Tschernobyl.“ Bei dieser Nachricht würden wohl nicht nur die Waidler auf die Barrikaden gehen. Gerade in Zeiten, in denen einem mehr und mehr bewusst wird, wie problematisch es ist Orte zu finden, wo der alte, strahlende Atommüll noch ein paar tausend Jahre gelagert werden kann (Stichwort: Endlager im Saldenburger Granit). In Indien werden trotzdem gerade im großen Stil Atomkraftwerke gebaut. Wer dagegen auf die Barrikaden geht und demonstriert, dem geht es gehörig an den Kragen – und nicht nur denen, wie Hog’n-Korrespondent Gilbert Kolonko festgestellt hat.
„Regierung hat verboten, ausländische Spenden anzunehmen“
In den drei Räumen von INSAF in Neu-Delhi, einer Dachorganisation von etwa 700 NGOs, herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Eine Lehrerin aus dem Bundesstaat Bihar, die von ihren lokalen Politikern erpresst wird, Geld für ihre Schule zu bezahlen, in der sie kostenlos Bildung für die Ärmsten zur Verfügung stellt – ansonsten würde die Schule geschlossen. Ein Gewerkschaftler aus Bengalen, der dafür kämpft, dass der neue Tarifvertrag für die Teepflücker einen Tageslohn von über zwei Dollar am Tag garantiert. Da Ministerpräsident Narendra Modi ständig davon redet jeden Inder aus der Armut zu holen, müsste dies theoretisch in seinem Sinne sein.
Der Aktivist S. Dhar kommt gerade aus dem bengalischen Dorf Bhangar, wo sich die Bewohner seit 2013 gegen den Bau eines Kohlekraftwerks auf ihrem Ackerland wehren: „Die Stimmung war aufgeheizt. Die Dorfbewohner und die Polizisten lieferten sich Scharmützel, als plötzlich Schüsse fielen – zwei Dorfbewohner wurden tödlich getroffen. Die Polizei bestreitet die Schüsse abgegeben zu haben. Überall in Indien werden Menschen im Namen des öffentlichen Interesses von ihrem Land vertrieben. Wir versuchen sie mit rechtlichem Beistand zu unterstützen.“
„Nun hat uns die Regierung auch noch verboten ausländische Spendenmittel anzunehmen“, sagt INSAF-Vorsitzender Wilfred d’Costa – und fügt mit fatalistischem Lächeln hinzu: „Im Jahr 2013 hatten sie unsere Konten eingefroren – mit der Begründung, unsere Aktivitäten richteten sich gegen das öffentliche Interesse. Der High Court sprach uns dann frei.“ Vor allem greife die Regierung INSAF wegen deren Unterstützung für die indische Anti-Atom-Bewegung an, erklärt Costa. „Die veralteten, russischen Reaktoren in Kudankulam seien nur die Spitze des Eisbergs.“ Das Online-Magazin „Telepolis“ berichtete über das AKW im Bundesstaat Tamil Nadu. Indien habe sich bei seinem Sprung ins Atomzeitalter womöglich überalterte oder gar gefälschte Bauteile für seinen Reaktor in Kudankulam andrehen lassen, heißt es in dem Artikel.
„Alles soll mundtot gemacht werden – das war immer so“
„Wir wollen“, teilt d’Costa weiter mit, „zudem darauf aufmerksam machen, dass unsere Regierung für die Stromproduktion plant, bis zum Jahr 2060 die Kapazität der Atomkraftwerke auf 600 Gigawatt zu erhöhen. Dies soll durch den Bau der neusten Generation an Schnellen Brütern erreicht werden. Allen Gefahren für zukünftige Generationen zum Trotz, will die Regierung mit allen Mitteln nicht nur militärische, sondern auch zivile Atommacht sein.“
Dagegen einzuwenden ist, dass Indien es immerhin mit Demokratie versuche. In China würden Menschen wie er wahrscheinlich schon seit Jahren in einem Arbeitslager sitzen. Costa winkt ab. „Das mit der Demokratie erzählen sie mal unserer Regierung. Bis jetzt hat sie mehr als 200.000 Anzeigen gegen Anti-Atom-Aktivisten gestellt.“ Es habe allein in Kudankulam Monate gegeben, da seien 6.000 Menschen angezeigt, Krieg gegen den Staat zu führen – zehnmal mehr als im umkämpften Kaschmir zur gleichen Zeit, sagt Costa. Tausende seien verhaftet, fünf Demonstranten erschossen worden. „In unserem Fall versucht es die Regierung jetzt mit dem Paragraphen 12, 4(e) des Foreign Contribution (Regulation) Acts von 2010 und den Foreign Contribution (Regulation) Rules von 2011: Diese besagen, dass einer Organisation, die ausländische Spendengelder erhält, die Lizenz entzogen werden kann, wenn gegen einen der Vorsitzenden ein gerichtliches Verfahren läuft. Egal, ob derjenige später freigesprochen wird oder nicht.“
Im Jahr 2015 sind auch die Konten von Greenpeace Indien eingefroren worden. Amnesty International hat die indische Regierung ebenfalls auf die Fragwürdigkeit des Foreign Contribution Acts hingewiesen. Wenn man bedenkt, dass gegen 34 Prozent der Abgeordneten der Lok Sabha (indisches Unterhaus) Verfahren anhängig sind – darunter Mord und Vergewaltigung -, kann der Eindruck entstehen, dass es hier um anderes geht. „Alles, was dem schnellen wirtschaftlichen Wachstum im Wege steht, soll mundtot gemacht werden – das war auch vor Modi nicht anders, nur drückt er jetzt aufs Tempo“, setzt Costa hinzu.
Auch Wasserkraft-Großprojekte bergen Gefahren
1.500 Kilometer weiter nord-östlich im bergigen Bundestaat Sikkim versucht es Indien mit Wasserkraft, so wie im 700 Meter hoch gelegenen Dikchu an der Tista, wo ein 95 Meter hoher Damm den Fluss staut. Im August 2016 verursachte ein durch den Monsunregen ausgelöster Erdrutsch einen künstlichen Staudamm oberhalb von Dikchu. Tausende Menschen wurden evakuiert – vor allem Glück hatte die Katastrophe verhindert.
Abgesehen von einem Korruptionsskandal um 36 Kraftwerke in Sikkim, bei dem es um etliche Milliarden Dollar geht, ist ein weiteres Problem, dass die Staudämme in einem Erdbebengebiet liegen. Das letzte schwere Beben ereignete sich hier im Jahr 2011 und hatte eine Momenten-Magnitude von 6,9 MW.
100 Kilometer weiter südlich stellt Minket Lepcha ihren Film Voices of Teesta in ihrer Geburtsstadt Darjeeling vor. „Seit 2007 begleite ich die Aktivisten-Gruppe Affected Citizens of Teesta, die auf die Umweltzerstörungen hinweist, die die teils 1.200 MW-Projekte anrichten – sowie auf die Gefahren eines Erdbebens. Der Regierung gefällt das natürlich nicht“, sagt die 33-jährige Filmemacherin. Während auf dem Chowrasta-Platz bengalische Touristen und Einheimische schunkelnd „We are the world, we are the children„ singen, haben sich 23 Filmzuschauer versammelt. „Ich bin nicht gegen Fortschritt. Ich bin gegen Großprojekte mit riesigen Staudämmen. Allein auf 90 Kilometern stauen zehn Dämme den Tista-Fluss. Diese sind eine Gefahr für die Menschen und sie helfen vor allem den Investoren, da sich ihre Gewinne nach der erzeugten Strommenge richten.“
In Delhi ist Lepchas Film ausgezeichnet worden. Hier vor Ort, bei jenen, die von den Folgen betroffen sind, stößt die Filmermacherin auf Desinteresse. Enttäuscht sie das? „Nein. Dazu habe ich zu viele mutige Aktivisten getroffen, die trotz aller Widerstände nicht aufgeben. Außerdem ist mir bewusst, dass sich die Aufklärung in Indien noch in den Anfängen befindet. In Europa wurden die ersten Umweltaktivisten doch auch angefeindet oder belächelt. Dazu arbeite ich auch als Lehrerin und bin optimistisch, was die zukünftigen Generationen angeht.“
Das Problem bleibt der steigende Energiebedarf
Danach gefragt, ob es ihm denn lieber sei, wenn weiterhin 300 Millionen Inder ohne Stromanschluss blieben, antwortet INSAF-Vorsitzender Wilfred d’Costa mit einem Lächeln, das besagt, er habe die Frage schon mindestens hundert Mal gehört: „Wir sind nicht gegen Fortschritt, sondern für Nachhaltigkeit der Projekte.“ Atomenergie sei nachweislich eine der teuersten Energien – dazu lade sie den zukünftigen Generationen weitere Kosten und Gefahren auf.
„Die Luftverschmutzung in unseren Städten ist apokalyptisch – und bis 2022 soll die Stromversorgung aus Kohle verdoppelt werden. Wenn Modi verspricht in den nächsten fünf Jahren 100 Gigawatt Strom-Kapazitäten aus Sonnenenergie zu gewinnen, sind wir mit ihm. Aber warum müssen es vor allem Großprojekte sein, die von ausländischen Konzernen finanziert werden?“
Was sagt d’Costa zum Vorwurf, dass Organisationen wie INSAF aus dem Ausland finanziert würden, um Indiens Entwicklung zu behindern? Auf seiner Website benennt INSAF das christliche Hilfswerk „Brot für die Welt“ als seinen Hauptspender. „Das Verdrehen von Tatsachen und auf Nationalismus setzen, ist gerade überall in Mode – ob in Kudankulam oder in Jaitapur, wo der französische Konzern Areva in einem Erbebengebiet das größte Atomkraftwerk Indiens baut: Es sind ausländische Ingenieure, die ausländische Anlagen bauen. Und es sind ansässige Bewohner und indische Aktivisten, die dagegen protestieren“, klagt er.
Wie er die Lage nach Modis Wahlsieg in Indiens bevölkerungsreichstem Bundestaat Utthar Pradesh einschätzt? Wird es für Menschrechts – und Umweltaktivisten noch schwerer als bisher? Der INSAF-Vorsitzende nickt: „Natürlich. Modi gaukelt vor, das ein schnell steigendes Wirtschaftswachstum die Lösung aller Probleme ist und somit höchstes öffentliches Interesse. Die Aktivisten, die auf die Folgen dieser Politik hinweisen, die Schäden für Mensch und Natur, handeln nach seiner Logik gegen das öffentliche Interesse.“ Dabei sitzt der Ministerpräsident genau genommen im Glashaus, wie Costa listig anmerkt. Weil Modi den Religiösen unter seinen Anhängern versprochen habe, zumindest den heiligen Ganges zu einem sauberen Fluss zu machen, verstoße er gewissermaßen ebenfalls gegen öffentliches Interesse. „Jeden Tag leiten mehr als 700 verschiedene Industrien 500 Millionen Liter ungeklärte Abwässer in den Ganges“, sagt Costa – und ergänzt mit bitterer Ironie: „Ein eindeutiger Wettbewerbsvorteil für die heimische Industrie würde bei einer Säuberung des Ganges zunichte gemacht.“
Gilbert Kolonko