Bangladesch. Aus dem pechschwarzen Wasser des Teiches vor mir blubbern Gaswölkchen, als sei es am Kochen. An seinem mit Plastikmüll übersäten Ufer pflückt eine junge Frau mit ihrem kleinen Sohn Grünzeug fürs Abendessen. Fünfzig Meter hinter ihnen steigt bestialisch-stinkender Qualm aus bauchhohen, provisorischen Öfen, die im Freien stehen. Der Hang daneben ist mit Nachschub bedeckt: Resten von verwesenden Tierfellen und Abschnitten aus der Lederverarbeitung. Auf den freien Flächen zwischen den anderen blubbernden Teichen ist eine übel riechende dunkle Masse auf Planen zum Trocknen ausgelegt. Der Gestank wird je nach Windrichtung durch ätzende oder rußige Gerüche ergänzt.
Trotzdem sind nur freundliche Gesichter um mich herum zu sehen: die der Arbeiter, die die zähe schwarze Masse aus den Öfen mit dem Spaten und ihren Füßen zerkleinern; und die der Frauen, die das zukünftige Fisch- und Hühnerfutter auf die Planen verteilen. Am Horizont Richtung Westen stehen zwischen Hochspannungsmasten weißgetünchte Fabrikgebäude und halbfertige Betonklötze. Der bewölkte Abendhimmel leuchtet in bizarrem Lila und vermittelt dem Ganzen eine Atmosphäre wie aus einem Science-Fiction-Film. Doch wir befinden uns in Hazaribagh, einem Randbezirk von Dhaka. Vom Schweizer Grünen Kreuz wurde der Bezirk zum fünftverseuchtesten Ort unserer Erde gekürt. Allein in Hazaribagh sind an den Folgen der Verschmutzung schon etwa 160.000 Menschen erkrankt. Doch der Bezirk ist auch ein Teil des kleinen Wirtschaftswunders, das sich in Bangladesch vollzieht. Im Wohlstandsindex eines Londoner think-tank hat das Land sogar den Nachbarn Indien überholt.
Mohammed, der auf der anderen Seite des Teiches das stinkende Fischfutter herstellt, merkt noch nichts vom Wirtschaftswunder. Er ist erst vor Kurzem, aus einem Dorf im Norden Bangladeschs kommend, auf der Suche nach Arbeit hier gelandet. Zuhause besaß er ein eigenes kleines Haus, hier bewohnt er zur Miete eine sechs Quadratmeter große Blechhütte. Den Job hat er von einem anderen Glücksuchenden vermittelt bekommen, der damit in der Kette der „Subunternehmer“ einen Schritt aufgestiegen ist. Denn Mohammed verdient mit zwölf Stunden gesundheitsschädigender Arbeit am Tag eineinhalb Dollar für sich – und eineinhalb für den anderen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite der gleiche beißende Gestank, doch verdienen hier die Arbeiter mit der Fischfutterherstellung drei Dollar am Tag. Diejenigen von ihnen, die als erste hier waren, haben sich in Sichtweite schon ein eigenes Haus bauen können; auch solche Erfolgsgeschichten haben Bangladesch im Wohlstands-Index aufsteigen lassen.
Es ist, als könne man den Tod riechen…
Ein Stück weiter befinden sich mehr als 200 Gerbereien der Lederindustrie. Hier stinkt es zwar nicht ganz so bestialisch, dafür sind die Abwässer, die ungefiltert ins Freie fließen, umso giftiger. Die chemische Brühe läuft in kleinen Bächen oder in der offenen Kanalisation durch den ganzen Stadtteil. In einer Fabrik, die ich mir ansehe, werden Lederpolster für Autos hergestellt. Schon die Luft fühlt sich klebrig-ätzend an und scheint auszureichen, um bei jederman die nativen Eiweiße der Haut zu verändern und in Leder zu verwandeln. Die Arbeiter hantieren in schulterlosen T-Shirts und einem um die Hüften geschlungenen Lungi mit den frisch gegerbten Rinderhäuten. Hautkrankheiten sind an der Tagesordnung. Auf die Frage, wer seine Kunden sind, antwortet der Fabrikbesitzer stolz: „Deutsche und britische Firmen.“ Neben den Fabriken spielt eine Schar Jugendlicher ausgelassen Kricket, so dass der Hartleder-Ball nicht selten in den giftigen Abwässern landet. Von der anderen Straßenseite winken mir ein paar kleine Knirpse lachend zu; doch mein Winken fällt gezwungen aus. Es ist, als könne man den Tod riechen, wie er als beißender und ätzender Gestank gierig zwischen all den freundlichen Menschen umgeht.
Eine kleine Straße führt dann an einem Altarm des Buriganga-Flusses entlang zurück zum Hafen. Der Fluss, auf dem kleine Lastkähne und Fährboote entlang gleiten, hat nicht nur die Farbe von Öl, sondern auch beinahe seine Konsistenz. Auf der südlichen Seite der Straße sitzen die Plastik- und Gummisammler in ihren Haufen voller Unrat. Auf der anderen Straßenseite steigen schwarze Qualmwolken aus verrosteten Wellblechbuden. In ihnen werden Plastik- und Gummisandalen hergestellt. Zwischen all den Unternehmungen, die die Wirtschaft vorantreiben, stehen Teebuden und kleine Basare, auf denen Obst und Gemüse angeboten wird. Etliche Brücken führen über den stinkenden Fluss zu Siedlungen, in denen sich Slums und Neubauten mischen.
Wieder in der Altstadt angekommen, quetschen sich auch noch im Dunkeln etliche der 400.000 Fahrradrikschas von Dhaka, Laster, Träger und Fußgänger die Nawabpur-Road entlang. Geklingel, Gehupe und die Rufe der Träger mit ihren schweren Lasten auf den Köpfen schallen durch die schmale Einkaufsstraße. Immer wieder kommt der Verkehr völlig zum Stillstand; dann schwillt der Lärm noch mehr an. Auch wenn keiner genau weiß wie, irgendwann bewegt sich der bunte Strom wieder voran…
Näherrinnen bekommen den Mindestlohn: 48 Euro im Monat
Im Jahr 1971, nachdem die Ost-Bengalen sich in einem blutigen Unabhängigkeitskrieg von Pakistan losgelöst hatten, lebte eine Million Menschen in der Hauptstadt des neugegründeten Staates Bangladesch. Mittlerweile sind es 15 Millionen – und jedes Jahr werden es etwa 500.000 mehr. Gerade aus dem Norden des Landes, wo die jährlichen Hochwasser immer wieder die fruchtbaren Uferränder mit sich reißen, strömen die Menschen auf der Suche nach einer Zukunft nach Dhaka. Millionen von ihnen finden in der stetig wachsenden Textilbranche eine Anstellung. Der größte Wettbewerbsvorteil Bangladeschs: Billige Arbeitskräfte. Zwar wurde vor kurzem der Mindestlohn für Näherinnen von 29 auf 48 Euro im Monat erhöht, doch der Tageslohn für viele andere Arbeiter, wie die Teepflücker, beträgt immer noch keine 70 Cent am Tag.
Am frühen Morgen besuche ich einen kleinen Park im Herzen der Altstadt. Am Rand befindet sich ein zweihundert Meter langer Rundweg, auf dem um die fünfhundert Männer und Frauen ihre Morgenrunden „walken“. In der Parkmitte sind mehrere „Gymnastikgruppen“ zu sehen, die alle paar Minuten eine Lachübung einlegen. Die Stimmung ist typisch für das Gefühl in der Hauptstadt: Wir fahren nicht bei der erstbesten Gelegenheit die Ellbogen aus, auch nicht bei der zweiten – aber wir können es, wenn es nötig ist. Am Rand sitzt ein Medizinstudent an einem Tisch und misst den Blutdruck und die Zuckerwerte der Sportfreunde: „Diabetes und Bluthochdruck sind in Dhaka mittlerweile die Krankheiten Nummer eins und zwei. Bei den Landbewohnern Bangladeschs treffen wir kaum auf diese Beschwerden“, antwortet der angehende Mediziner und kassiert von einer korpulenten Dame 40 Taka. Das klingt ein wenig, als hätte das Land mittlerweile vor allen Wohlstandsprobleme. Doch die hunderte qualmender Schornsteine der Ziegeleien am Rand von Dhaka zeigen dem Besucher der Hauptstadt gleich zu Anfang, dass dem nicht so ist. Schon im Jahr 2000 bezifferte eine Studie des Max-Planck-Instituts die Zahl der Menschen, die jährlich in Dhaka an den Folgen der Luftverschmutzung sterben, auf 14.700: Folge der besonders hohen Schwefeldioxidkonzentration und des hohen Feinstaubanteils in der Luft.
Doch die schlechten Lebensbedingungen ohne Aussicht auf Arbeit im Rest des Landes lassen den Zustrom und das planlose Ausufern Dhakas trotzdem weiter voranschreiten. In einigen Teilen von Dhaka leben bis zu 135.000 Menschen auf einem Quadratkilometer. Das müsste nicht so sein, behauptet ein junger einheimischer Mitarbeiter einer NGO (Nicht-Regierungs-Organisation), den ich in einer Kleinstadt im Westen Bangladeschs treffe. 59 der 64 Bezirke des Landes hat er schon bereist. „Es gäbe fast überall in Bangladesch genug Ressourcen, um die Menschen in den Dörfern und Kleinstädten zu halten. Man müsste ihnen nur zeigen, wie sie zu nutzen sind“, sagt er und nennt dann als negatives Beispiel seine eigene NGO, die vom Ausland finanziert wird: „Seit sieben Monaten bin ich mit meinen acht Kollegen hier – und wir haben es endlich geschafft, ein Vertrauensverhältnis zu den Dorfvorstehern der umliegenden Gemeinden aufzubauen. Doch in fünf Monaten geht es für uns an den nächsten Ort. Mindestens fünf Jahre müssten wir die Menschen hier begleiten. Meine Landsleute brauchen Bildung und Wissen, damit sie irgendwann auch mit dem Kopf Geld verdienen können und nicht nur als billige Arbeitskraft. Stattdessen werden die wenigen guten Schulen, die Universitäten, die Industrie – einfach alles – in und um Dhaka angesiedelt. Eine kleine korrupte Elite verscherbelt die Zukunft des ganzen Landes und hinterlässt den einen Armut und den anderen schwarze Flüsse und Gesundheitsschäden. Manchmal glaube ich, dass selbst die ausländischen Geldgeber gar nicht wollen, dass wir Erfolg haben – damit der Zustrom von billigen Arbeitskräften für Dhaka nicht abreißt.“
„Sobald ich aus dem Haus gehe, schalt ich mein Gehirn ab“
Zurück in Dhaka geht es bei schwülen 40 Grad im Schatten per Bus von der Altstadt in den zehn Kilometer entfernten Bezirk Gulshan. Im Schritttempo schiebt sich das Fahrzeug inmitten der Blechlawine voran. Schon nach einer halben Stunde sind auch die meisten der anderen Fahrgäste völlig durchgeschwitzt. Apathisch und freudlos schauen sie aus dem Fenster in die Abgaswolke. „Sobald ich aus dem Haus gehe, schalte ich mein Gehirn ab, denn ich weiß, dass ich mindestens zwei Stunden brauchen werde, um meinen zwölf Kilometer entfernten Arbeitsplatz zu erreichen“, sagt mein Sitznachbar zu mir. Nach eineinhalb Stunden steige ich in Gulshan aus. Statt der Fahrradrikschas sind protzige Geländewagen und Fahrzeuge der Edelmarken zu sehen. Feine Cafés, Edelboutiquen und Galerien säumen in den Erdgeschossen der Büro- und Geschäftstürme die Straße. Hier wohnen ausländische Botschaftsangehörige, ausländische Geschäftsleute und einige der 45.000 Millionäre Bangladeschs. Es gibt sogar zwei kleine Seen, deren Wasser nicht völlig schwarz ist, und ein paar Grünanlagen. Trotzdem: Auch hier in Gulshan merkt man, dass etwas mächtig stinkt, am Wirtschaftsaufschwung in Bangladesch…