Niederbayern. Ein lauter, heller Knall. Ein kurzer Aufschrei. Zerborstenes Glas. Splitterstücke auf dem Boden. Beschleunigter Herzschlag. Der Schrecken ist groß. Was sich soeben in der kleinen Küche irgendwo in Niederbayern zugetragen hat, grenzt auf den ersten Blick an etwas Übersinnliches, an Schwarze Magie. Dabei wollte sie doch nur das (leere) Trinkglas von der Arbeitsplatte nehmen und in den Geschirrspüler stellen. „Ich habe das Glas in die Hand genommen – und dann ist es zersprungen, von ganz allein“, sagt sie, immer noch völlig verwirrt.
Schlimmeres passiert ist bei dem Vorfall glücklicherweise nicht: keine Schnittwunde, keine Splitter in der Haut oder Ähnliches. Dabei hätte das Ganze im wahrsten Sinne des Wortes ins Auge gehen und zu bösen, vielleicht sogar dauerhaften Schäden führen können. Bei dem zerborstenen Trinkglas handelt es sich um einen echten Klassiker in deutschen Küchenregalen: das „Pokal“ von IKEA, das wohl viele im klassischen 6er-Set zu Hause haben.
„…und bekam einen Splitter ins Auge“
Doch: Wie konnte das passieren? Ohne unmittelbare Fremdeinwirkung, ohne unmittelbare Gewalt von außen? „Zerplatzt“ wie ein Luftballon, einfach so? Ein kurzer Blick ins Netz verrät: Das ist kein Einzelfall. „Ikea-Gläser explodieren nach Nutzung – was Kunden wissen müssen„, titelte „Der Westen“ im Juni dieses Jahres. „Glas von Ikea ‚explodiert‘ plötzlich von selbst„, schreibt die „Südwest Presse“. „Schon wieder ‚explodiert‘ ein Ikea-Glas“ ist in „Heute“ im September 2021 zu lesen.
Eine Bloggerin widmet dem Thema, nachdem es ihr ähnlich ergangen ist, im Juli 2019 einen seitenlangen Eintrag. Und einem Mann in der Schweiz, der „nur seine frische Trinkschokolade genießen wollte„, zersprang das kurz zuvor bei IKEA erstandene Glas, als er den letzten Schluck zu sich nahm, in der Hand. Ihm sei nichts passiert, „doch seine 25 Jahre alte Tochter saß mit am Tisch und bekam einen Splitter ins Auge.“ Einige weitere Einträge sind im Internet zum Thema gelistet.
Um der Sache auf den Grund zu gehen, kontaktieren wir den Kundenservice auf der Homepage des schwedischen Einrichtungsgiganten. „Chatte mit uns“, heißt es dort. „Der schnellste Weg für die Antwort auf deine Frage ist ein Chat mit uns.“ Man könnte genauso in eins der zahlreichen Möbelhäuser fahren oder per Telefon (06192 939 99 99) das Geschehene schildern, die Chat-Variante erscheint uns jedoch am bequemsten.
„Kann auch Wochen nach der Fremdeinwirkung passieren“
Nach wenigen Augenblicken meldet sich schließlich „Jeannette“, offenbar – wie ein erster Eindruck vermittelt – eine Person aus Fleisch und Blut und kein sogenannter Chat-Bot, der am anderen Ende der WLAN-Leitung sitzt. Wir beschreiben kurz schriftlich, was sich in der heimischen Küche zugetragen hat, und stellen Fragen wie: Wie kann so etwas geschehen? Weiß IKEA von anderen Vorfällen dieser Art? Und: Sollen wir die anderen Trinkgläser vom selben Typ nun alle wegschmeißen? (Was wir übrigens durchaus in Erwägung ziehen, da nun bei jedem Griff zum „Pokal“-Glas, wovon noch fünf übrig sind, ein Gefühl des Unwohlseins, des Unbehagens mitschwingt).
Die IKEA-Kundenservice-Mitarbeiterin drückt zunächst einmal ihr Bedauern über den Vorfall aus und entschuldigt sich höflich. „Man möchte sich gar nicht ausmalen, was wäre wenn gewesen. Ich bin sehr erleichtert dass nichts Schwerwiegendes passiert ist.“ Dann teilt sie mit, dass Glasprodukte von IKEA aus Sicherheitsgründen ausschließlich aus sog. Einscheibensicherheitsglas (kurz: ESG) bestehen. Dieses gehärtete Glas sei widerstandsfähiger als herkömmliches Glas, wird informiert – und sogleich hinterher geschoben: „Zerbrechlichkeit ist dennoch eine der Produkteigenschaften von Glas.“
Denn, so wird weiter erläutert: „Eine beschädigte Kante oder ein Kratzer an der Oberfläche kann die Zugspannung des Glases beeinflussen. Solche Schäden am Glas können durch einen Stoß, Schlag oder Kratzer hervorgerufen werden. Die Zersplitterung kann auch Wochen nach der Fremdeinwirkung passieren.“ Ob wir nach „diesem unerfreulichen Erlebnis“ nun sämtliche Gläser „zur Seite stellen, das müssen Sie für sich entscheiden“, meint Jeannette. Fakt sei: „Alle Gläser sind aus Sicherheitsglas und diese sind nicht nur bei IKEA, sondern bei allen Verkäufern Vorschrift.“ Punkt. Ausrufezeichen!
„Vorsicht, es besteht Explosionsgefahr!“
Ein Blick in die Produktbeschreibung des „Pokal“-Glases zeigt, dass es sich – wie beschrieben – um gehärtetes Glas handelt, dass es spülmaschinenfest sei, es „nicht zum Stapeln geeignet“ ist und man damit „vorsichtig hantieren“ solle. „Kratzer oder beschädigte Kanten können zum Springen des Glases führen“, ist auch dort zu lesen. Was ebenfalls (unter dem Reiter: „Bewertungen“) zu erfahren ist:
Die Kundenrückmeldung mit dem Titel „Vorsicht, es besteht Explosionsgefahr!“ wurde am 21. Oktober 2023 von Sandra B. aus Deutschland eingetragen. Die Antwort von IKEA folgte drei Tage später und lautet wie folgt:
„Hej, wir möchten dir an dieser Stelle versichern, dass die Gesundheit unserer Kundinnen und Kunden uns sehr wichtig ist. Aus diesem Grund stellen wir für unser gesamtes Sortiment sehr strenge Anforderungen an unsere Hersteller und Lieferanten. Unser gesamtes Sortiment entspricht allen gesetzlichen Bestimmungen und gerade deshalb sind wir davon überzeugt, dass unsere Produkte grundsätzlich sicher im Gebrauch und unbedenklich für die Gesundheit sind. Wende dich bitte unter ikea.de/kontakt an unseren Kundenservice. Viele Grüße dein IKEA Team“
„Ich bin jung, ich brauche mein Augenlicht noch“
Okay, zurück zum Kundenservice! Den haben wir immer noch in Person von „Jeannette“ in der Leitung – und schildern, dass wir uns „aufgrund des nachhaltigen Eindrucks“ wohl oder übel von den restlichen Gläsern trennen werden. Insbesondere auch deshalb, weil der neunjährige Sohnemann, der alles mitbekommen hat, seit dem Glas-Platzer nur noch mit vorgehaltener Hand am Esstisch sitzt, sobald sich darauf ein „Pokal“ befindet. Er hat Angst, dass das Trinkgefäß erneut zerspringen könnte und Splitter in seinen Augen landen. Zitat des Buben: „Ich bin jung, ich brauche mein Augenlicht noch.“
Das versteht Jeannette ebenso – und bedauert nun auch den Sohn: „Es gibt nichts Schlimmeres als seine eigenen Kinder/ Familie so zu sehen – dass man vor dieser Situation Angst hat und diese auch nicht so schnell verliert“, schreibt sie. Doch mehr als Bedauern und Verständnisbekundungen gibt es seitens IKEA nicht. Ein Reklamations- bzw. Entschädigungsgrund sei das Vorgefallene keineswegs. Denn, wiederholt sie, „bereits beim kleinsten Stoß, Kratzer oder ähnliches kann es Ihnen immer wieder passieren, dass es hier zu einem Glasbruch kommt.“ Daher könne man keine Ersatzlieferung auslösen. „Tut mir sehr leid und hoffe auf Ihr Verständnis.“
Woraufhin die direkte Frage unsererseits lautet: „Das heißt also, man muss als IKEA-Kunde jederzeit davon ausgehen, wenn man sich ein Trinkglas der Marke „Pokal“ bei IKEA kauft, dass es nach dem Kauf quasi zu jedem Zeitpunkt – sofern sich (warum auch immer) ein kleiner Kratzer im Glas befindet – zum Zerbersten kommen kann. Ist das richtig?“ Antwort von Jeannette: „Glas ist immer ein sehr zerbrechliches Material und es ist auch nicht mit anderen Materialen vergleichbar. Alle Händler/Verkäufer haben die Vorschrift, dass Gläser aus Sicherheitsglas bestehen müssen – ansonsten dürfen diese nicht in den Verkauf gebracht werden. Nicht nur bei uns bei IKEA, sondern auch bei anderen Unternehmen werden alle Artikel im Vorfeld einer Qualitätsprüfung unterzogen. Erst dann werden diese in den Verkauf geführt.“ Aha. Na, wenn das so ist…
„Das wiederum ist eine andere Fachabteilung“
…stellt sich dennoch die Frage, worin genau denn der Sicherheitsaspekt beim „Sicherheitsglas“ besteht, wenn es einem – trotz unterzogener Qualitätsprüfung – über kurz oder lang ohne Fremdeinwirkung in der Hand (am Mund, vorm Auge etc.) zerspringen kann. Auch darauf hat Jeannette eine Antwort: „Beim Bruch vom Sicherheitsglas sind es keine Scherben, sondern es zerspringt in kleine Würfel, die nicht scharfkantig sind.“ Das Verletzungsrisiko werde so reduziert, sagt sie – und ergänzt: „Bitte nicht falsch verstehen – ich nehme Ihr Anliegen sehr ernst und möchte auch nicht den Anschein erwecken, dass ich es hier herunterspiele – keineswegs. Jedes Feedback und Reklamation von den Kunden nehmen wir sehr ernst und versuchen immer eine Lösung zu finden.“ Wie diese Lösung aussieht, bleibt offen.
Und auch wie oft das Problem des ohne erkennbare Fremdeinwirkung zerborstenen „Pokals“ von Kundenseite gegenüber IKEA angesprochen werde, könne Jeannette nicht sagen. Sie sei nicht von der Fachabteilung. „Dass es hin und wieder vorkommt – ja.“ Laut Kennzeichnung am Glasboden wurden die Gläser in Bulgarien hergestellt („Made in Bulgaria“ ) – ob denn die gleichen Standards in Sachen Qualitätsprüfung gelten würden wie anderswo, möchten wir wissen. Ja, „die Richtlinien müssen auch in den anderen Ländern eingehalten werden“, teilt man uns mit.
Abschließend fragen wir, was denn von Seiten IKEA unternommen würde, wenn der besagte Vorfall nicht so glimpflich ausgegangen, sondern buchstäblich ins Auge gegangen wäre. „Dann hätten Sie das Anliegen schriftlich einreichen müssen und es hätte eine Prüfung stattgefunden – das wiederum ist eine andere Fachabteilung und ich kann Ihnen daher nicht sagen, was die nächsten Schritte gewesen wären.“ Alles klar. Wir verabschieden uns mit folgenden Worten: Dann gehe ich jetzt in die Küche, nimm mein IKEA-Glas aus dem Schrank, gieße mir ein Getränk ein und bete, dass es hält…“ Jeannette wünscht „eine schöne Woche“ und bedankt sich für „das nette Gespräch“. Ende des Chats.
Was bleibt, ist die Angst, dass es wieder passieren wird
Unsere „Pokal“-Haushaltsgläser dürften etwa zehn Jahre alt sein, haben ihrem Alter entsprechende Gebrauchsspuren. Dass sie im Regal – aus Platzgründen – im gestapelten Zustand stehen, das ist Fakt. Auch, dass man damit wohl das ein oder andere mal schon „angeeckt“ ist im Laufe der Jahre – und so den besagten Mikro-Kratzer verursacht hat, der laut Hersteller für den Glas-Platzer ohne unmittelbare Fremdeinwirkung ursächlich sein soll. Aber sie deswegen – aus Sicherheitsgründen – nach einer bestimmten Gebrauchszeit alle wegschmeißen?
Was am Ende bleibt, ist jedenfalls ein nach wie vor ungutes Gefühl – konkret: die Angst, dass es wieder passieren kann – sowie einige Zweifel: Wie sicher ist die Nutzung des „Pokal“-Glases wirklich? Wie hoch ist die Dunkelziffer bei diesen Glas-Platzern? Und: Ist IKEA sich wirklich darüber bewusst, mit welch „tickenden Zeitbomben“ man es hier zu tun hat? Wir hoffen auf weitere Antworten. Denn die Hoffnung „zerplatzt“ zuletzt…
Stephan Hörhammer