Der ehemalige Spock’s-Beard-Kopf Neal Morse dürfte wohl zu den Rock-Musikern mit dem größten Output gehören. Der Sänger, Gitarrist, Keyboarder und Songwriter mit der sympathischen Ausstrahlung eines Knuddelbären veröffentlicht gefühlt ständig irgendwelche Doppel- oder Dreifach-Alben – entweder solo oder mit Transatlantic und den Flying Colors. Und dabei handelt es sich in aller Regel um musikalisch hochwertige Prog-Rock-Epen im Stile nicht ganz so hippiesker Yes oder unpoppiger Genesis.
Großartig etwa sein Solo-Album „?“ oder das absolut unschlagbare Zehn-Punkte-Werk „The Whirlwind“ von Transatlantic. Kein Geheimnis ist, dass der Kalifornier Anfang des Jahrtausends vom Heiligen Geist berührt wurde – und fortan als frei-evangelischer Christ musiziert.
Alles andere als gediegen und blümerant
Da passt es natürlich wie Deckel auf Topf, dass Morse‘ neuester Streich – natürlich wieder eine Doppel-CD – nichts anders als eine Progressive-Rock-Oper mit dem Titel „Jesus Christ The Exorcist“ ist. „Ein Freund hat mich angerufen und gesagt, dass es doch mal einer machen müsste – und er hätte da auch eine Idee, wer dieser eine sein könnte“, sagt Morse lachend über den Anstoß zu dieser progressiven Variante von Andrew Lloyd Webbers Hippie-Musical. Dabei geht es aber alles andere als gediegen und blümerant zu – ganz im Gegenteil. Morse macht das, was er am besten kann: Er proggt sich mit der Unterstützung eines hochwertigen Casts in fast zwei Stunden einmal durch das Neue Testament. Inklusive heftiger Double-Bass-Attacken bei der zehnminütigen Abfahrt „Jesus‘ Temptation“.
Aufgeteilt ist das Werk in zwei Akte, die sich mit den dreieinhalb Jahren vor der Kreuzigung beschäftigen, also der Hauptzeit des Wirkens Jesu in Palästina. Dabei geht es ganz brav mit einer „Introduction“ los, Jesus wurde gekreuzigt und stirbt schließlich. Nach der instrumentalen „Ouverture“ wird man einige Jahre zurückversetzt, in eine Zeit in Israel, als dort die Römer an der Macht sind und alle Unterdrückten sich einen Messias wünschen. Den scheinen sie dann in Jesus von Nazareth gefunden zu haben. Jesus wird getauft und vom Satan versucht, ehe er mit seinem Wirken beginnt. Er begeht seine Wunder, treibt Dämonen aus und wird immer bekannter und berühmter. Das kann den religiösen Führern nicht schmecken, deswegen wollen sie ihn den Römern ausliefern, damit sie ihn ans Kreuz schlagen.
Gut, die Geschichte ist natürlich bekannt – und selbstverständlich lässt sie sich gut in einem abendfüllenden Epos umsetzen. Da ist Morse beileibe nicht der erste und einzige, der sich an der „Greatest Story Ever Told“ (USA 1965, Regie: George Stevens) über den „König der Könige“ (wahlweise USA 1927, Regie: Cecil B. DeMille oder USA 1961, Regie: Nicholas Ray) oder eben „Jesus Christ Superstar“ (USA 1971, Musik: Andrew Lloyd Webber) versucht hat. Aber er dürfte durchaus der erste Künstler sein, der das in Prog-Rock-Manier getan hat. Und – viel wichtiger – bei dem das auch funktioniert hat.
Mit allen Stärken und (nicht vorhandenen) Schwächen
Denn bei aller musikalischer Klasse der Songs, die neben Morse an Gitarre, Bass, Keyboards und Percussion, von Gitarrist Paul Bielatowicz, Keyboarder Bill Hubauer, Schlagzeuger Eric Gilette und Bassist Randy George – die Zahl der unterstützenden Streicher, Bläser und Backgroundsänger ist Legion –, brillant umgesetzt wurden, ist das Ganze ein hocheingängiges Werk, dem jederzeit zu folgen ist. Weil es nämlich für Hörer – anspruchsvolle sicherlich – geschrieben wurde und nicht für Musiker, deren Gefühlshaushalt nur Salto schlagend neben den Boxen durchdreht, wenn normale Songstrukturen konsequent ignoriert werden. Nein, die insgesamt 25 Songs wirken wie aus einem Guss, die Pause nach „Get Behind Me Satan“, die auch das Ende des ersten Akts markiert, stört da fast ein wenig.
Manchmal – „The Madman Of The Gadarenes“ – denkt man wegen des Satzgesangs an “Acquiring The Taste” von Gentle Giant. Manchmal – „The Woman Of Seven Devils“ mit dem großartigen Gesang von Talon David als Mary Magdalene – fühlt man sich in einer rauchigen Blues-Kneipe, so rotzig wird da die Pentatonik geschrubbt. „There’s A Highway“ ist Classic-Rock pur, dazwischen gibt es immer wieder jede Menge Orchester, das wunderbar mit dem Rock-Instrumentarium harmoniert. Ansonsten – und das ist vielleicht die größte Leistung – klingt das Album zu 100 Prozent nach Neal Morse. Mit allen Stärken und (nicht vorhandenen) Schwächen.
Fazit: Nicht nur für bibelfeste Prog-Fans ist „Jesus Christ The Exorcist“ ein absolutes Muss in diesem Sommer.
Wolfgang Weitzdörfer
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- VÖ: Juni 2019
- Label: Frontier Records/Soulfood
- Songs: Doppel-CD, CD 1: 14, CD 2: 11
- Spielzeit: 109:59 Minuten
- Preis: ca. 18 Euro