Ein 1955 geborener Mann sitzt in der JVA in Kaisheim ein. Über mehrere Jahre hinweg verweigert ihm ein bayerisches Gericht ein Methadonprogramm. Der Mann, der seit mehr als 40 Jahren heroinabhängig ist, zieht vor Gericht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg entscheidet: Einem hochgradig süchtigen Gefängnisinsassen ein Ersatzprogramm zu verwehren, sei „unmenschlich“ – und verurteilt den Freistaat Bayern. Nun rügt auch die Drogenbeauftragte Marlene Mortler (CSU) den harten Umgang mit Süchtigen. Vor allem in jenen Bundesländern, in denen die Union regiere, sei die Drogenpolitik besonders repressiv – allen voran in Bayern.
Insgesamt 629 Menschen sind im Jahr 2018 an den Folgen von Heroin gestorben, das aus Schlafmohn hergestellt wird und als tödlichste unter den illegalen Drogen gilt. Allein 253 davon – also mehr als ein Drittel – in Bayern. Der Freistaat gilt seit jeher als hartes Pflaster für Drogenabhängige. Kaum ein anderes Bundesland zeigt weniger Milde im Umgang mit illegalen Substanzen. Nicht immer zum gesundheitlichen Wohle der Konsumenten. Dass sich nun selbst Marlene Mortler – in dieser Causa nicht gerade für ihre Milde bekannt – gezwungen sieht ein Machtwort zu sprechen, ist besorgniserregend. Vor allem in Justizvollzugsanstalten sei die Situation kritisch. Aber auch im Freien gäbe es, „dicke weiße Flecken auf der Substitutionslandkarte“, wie Mortler erklärt. Das gilt insbesondere für Niederbayern: Lediglich in Wegscheid und in Deggendorf werden entsprechende Programme angeboten.
Methadonprogramm: „Der beste Umgang mit Heroinabhängigen“
Für Heroinabhängige, Schätzungen der Deutschen Hauptstelle gegen Suchtgefahren (DHS) zu Folge sind das rund 100.000 bis 150.000 Menschen im Land, fungiert Methadon, ein synthetisch hergestelltes Opioid, als Substitutions-Präparat zum herkömmlichen Heroin. Dabei entfacht es „eine ähnliche Wirkung im Körper wie Heroin, löst aber keinen Kick aus“, wie Paul Erhard, Facharzt aus Wegscheid, erklärt. Er und seine Praxis bieten – als eine von zwei Praxen in ganz Niederbayern – Substitutions-Programme für Süchtige an. Seiner Meinung nach, so erklärt Erhard auf Hog’n-Nachfrage, ist das „der beste Umgang mit Heroinabhängigen“. Zwar schafften es nur etwa zehn Prozent der Süchtigen durch eine Substitution abstinent zu werden. Die kontrollierte Verabreichung verringere bei Süchtigen jedoch die Ansteckungsgefahr mit dem Hepatitis-C-Virus oder vergleichbaren Infektionskrankheiten. Außerdem diene Methadon – alternativ werde auch L-Polamidon, Buprenorphin oder Substitol eingesetzt – dem „Erhalt der Gesundheit und der Resozialisierung“.
Ein weiterer Vorteil, so Erhard, sei, dass die Substitution von der Krankenkasse übernommen wird. Damit werde verhindert, dass sich Süchtige ihren Stoff „auf der Straße besorgen müssen“. Rund 43 Euro kostet ein Gramm Heroin im Schnitt, für Junkies bedeutet dies schnell mal 3.000 Euro, die pro Monat in den Drogenkonsum fließen. Da eine Heroinsucht in den meisten Fällen mit Jobverlust und sozialer Isolation einhergeht, muss das notwendige Geld anderweitig – oftmals illegal – beschafft werden: Etwa indem ein Süchtiger selbst in den Drogenhandel einsteigt oder über Einbrüche, Überfälle, nicht selten auch durch Prostitution. Dabei ist zu beobachten, dass die sogenannte Beschaffungskriminalität zwar insgesamt zurückgeht, jedoch zunehmend auf härtere Methoden zurückgegriffen wird: 2017 stieg die Zahl der Raubüberfälle im Zusammenhang mit Drogendelikten im Vergleich zum Vorjahr um 53 Prozent. Das geht aus dem Rauschgift-Bundeslageplan 2018 des Bundeskriminalamts hervor. Auch die Beschaffungskriminalität soll durch ein Ersatzprogramm deutlich gesenkt werden.
In 0,4 Prozent der bayerischen Justizvollzugsanstalten wird ein Methadonprogramm angeboten
Wenig verwunderlich ist daher auch, dass Heroinsucht und ein Gefängnisaufenthalt oftmals Hand in Hand gehen. Denn Tatsache ist: Heroin macht schneller abhängig als jede andere Droge, meist bereits nach dem ersten Konsum. Zudem sind die Entzugserscheinungen enorm. Erhard erklärt: „Wir können uns gar nicht vorstellen, welches Glücksgefühl Heroin beim Menschen hervorrufen kann.“ Doch so schnell und weit es hoch hinaus geht, geht es auch wieder runter. Zur Verdeutlichung beschreibt der Wegscheider Facharzt dazu: „Ich nenne Ihnen jetzt einmal einige positive Gefühle – Freude, geliebt werden, ausgeglichener Puls, angenehme Körperwärme, völlige Ruhe, Angstfreiheit – und Sie denken sich aus, was das schlimmste Gegenüber dieser Gefühle ist.“ Genau so laufe ein kalter Entzug ab. Und deswegen sei ein kalter Entzug so gut wie nie erfolgreich. Ein Entzug ohne medizinische Hilfe gelinge in den seltensten Fällen. Angstschweiß, Krämpfe, Schlafstörungen, Zittern, Frieren bis hin zum Kreislaufkollaps lauten die Alternativen zur nächsten Dosis. Daher auch die niedrige Hemmschwelle, sich das nötige Geld auf illegalem Wege zu besorgen.
Zudem würden tödliche Überdosierungen bei Heroin so häufig wie bei keiner anderen illegalen Substanz auftreten. Bei dem Opiat gebe es keinen risikoarmen Gebrauch – „mal schnell probieren“ funktioniere bei Heroin nicht. Es werde (aus Kostengründen) meist gespritzt, gelegentlich auch geraucht. Die körperlichen Schäden, die die Konsumenten davon tragen, seien enorm, die Liste sei lang und reiche bis hin zum inneren Organverfall. Trotzdem: Immerhin neun Prozent der 35.000 befragten Konsumenten des Global Drug Surveys 2019 gaben an, in den letzten zwölf Monaten Opioide konsumiert zu haben.
Rechtlich sieht es so aus, dass jede JVA für sich selbst entscheiden könne, ob sie ein Methadonprogramm zur Verfügung stellt. In Berlin etwa können rund vier Prozent der Häftlinge auf eine Substitution zurückgreifen, in NRW sogar zehn Prozent – in Bayern sind es 0,4. Dabei dürfe es eigentlich keinen Unterschied machen, ob sich ein Abhängiger nun in Freiheit oder in einer Vollzugsanstalt befinde – jeder solle „Anspruch auf Zugang zu Angeboten der Schadensminimierung“ haben, wie Drogenbeauftragte Mortler bei einer Veranstaltung mit Vertretern der Pharmaindustrie im Bundestag beanstandete.
Nicht selten schmuggeln Anwälte Heroin ins Gefängnis
Doch das Ausbleiben eines entsprechenden Ersatzprogramms zur Behandlung der Sucht ist oftmals nicht das einzige Problem. Auch innerhalb der JVA wird häufig gedealt und gespritzt. Aus zahlreichen Berichten sowie aus Gesprächen mit Süchtigen geht hervor: Im Gefängnis an Drogen zu kommen, ist kaum schwieriger als außerhalb der dicken Gemäuer. Oftmals sorgen Bekannte oder Lebenspartner während der Besuchszeiten für Nachschub – oder eben Freigänger. Auch Anwälte spielen hier eine nicht unwesentliche Rolle. Der Knackpunkt: Heroin im Knast ist in etwa vier bis zehn Mal teurer als draußen. Deshalb machen auch einige Insassen innerhalb der JVA Karriere als Dealer. Oder kommen im Austausch für sexuelle Dienstleistungen an ihre Drogen.
Weltweit, so rechnet die UN vor, konsumieren rund 255 Millionen Menschen regelmäßig illegale Substanzen. Knapp 90 Prozent der Konsumenten gelten dabei – entgegen häufig vorgebrachter Einwände – als nicht abhängig. Längst sind auch deutlich liberalere rechtliche Regelungen bezüglich Drogen Teil der öffentlichen Debatte, in einigen Ländern Teil des Gesetzbuches. In Portugal beispielsweise: Dort wurden 2001 alle Drogen – auch Heroin oder Kokain – entkriminalisiert. Der Effekt: Der Drogenkonsum ist, insbesondere in der Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen, gesunken. Die Zahl der Abhängigen wie die der Drogentoten ist gesunken. HIV-Infizierungen: gesunken. Ebenso die Neuansteckungen mit Hepatitis C oder B. Die Kriminalität in Verbindung mit Drogen und Drogenbeschaffung: gesunken.
Crystal Meth weiterhin ein großes Problem
Auch in unserem Nachbarland Tschechien wagte man 2010 einen Schritt in diese Richtung. Der Besitz von bis zu 15 Gramm Marihuana, vier Ecstasy-Tabletten, 1,5 Gramm Heroin, ein Gramm Kokain und zwei Gramm Amphetaminen oder Methamphetaminen gilt seither als bloße Verwaltungsübertretung – nicht mehr als Straftat.
Gegenüber Dealern, Herstellern und Händlern geht man unverändert hart vor, jedoch drückt man bei Konsumenten seither mindestens ein Auge zu. Auch aus Gründen der Einsparung staatlicher Ressourcen. Nach wie vor problematisch ist die Lage in Tschechien im Umgang mit Crystal Meth (offiziell auch Methamphetamin). Diese Droge wird vor allem im Südwesten Tschechiens, also unweit der bayerischen Grenze hergestellt. Die tschechischen Behörden sprechen laut Bundeskriminalamt von fünf bis zehn Tonnen jährlich. Vieles davon ist auch für den Export nach Deutschland bestimmt.
Als Gegenbeispiel gilt Schweden, wo besonders restriktive Drogengesetze gelten. In dem skandinavischen Land ist die Zahl der Drogentoten viermal höher als im europäischen Durchschnitt. Vieles spricht also dafür, im Umgang mit Drogen und Sucht eher auf sanftere, liberalere Methoden zurückzugreifen. Vor allem im Zusammenhang mit Heroin zeichnet sich zusehends das Bild ab, dass es für alle Beteiligten erfolgsversprechender erscheint, Süchtige eher als „Patienten“ denn als „Kriminelle“ zu behandeln.
Johannes Greß
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juristisch falsche Antworten auf medizinische Fragen.
Kaum einer, der die guten Erfolge einer Originalstoff-Vergabe mit Diamorfin preist oder mal nachrechnet wieviel zigtausend letale Opfer uns erspart geblieben wären, hätte man beizeiten (ähnlich wie in der Schweiz) die richtigen politischen Entscheidungen getroffen.
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