Ich habe mir unlängst ein Radio gekauft. Retro, so ein bisschen. Das steht da jetzt, neben meinem Bett und düdelt. Wie das Radios so tun. Eigentlich nicht der Rede wert. Aber irgendwie doch. Da läuft dann mal Rihanna – gar nicht mein Ding. Rage Against the Machine – geil! Ed Sheeran – uiuiuiui! Aber immer noch besser als jetzt mittels Rädchendreherei und viel Geknarkse einen neuen Sender zu suchen. Und irgendwie kann man auch dem guten Ed mal eine Chance geben. Liebe Freunde, sehr verehrte I-Tunes-Lauscher und Spotify-Hörer: Mehr Radios braucht das Land!
So ein Radio ist schon ein tolles Ding. Meist läuft da irgendwas, was einem so semi interessiert. Die Musik rangiert im Schnitt von „ertragbar“ bis „Mensch, da könnt‘ man bei Gelegenheit direkt mal mit dem Fuß wippen“. Wenn’s ganz krass kommt, vielleicht mal mit der Hüfte shaken und dabei so einen lüstern-brünftigen Blick aufsetzen*. Maximal. Aber wenn dann zufällig mal der eigene Lieblingssong aus der Mühle grölt, wirkt der Dalai-Lama dagegen wie ein trauriger Hund. Holla, die Waldfee – da gibt’s kein Halten mehr!
Die Message, dass ich von meinem neuen Radio begeistert bin, ist angekommen!? Gut, also, geht’s jetzt in medias res…!
Das eigentlich Faszinierende an dieser ganzen Sache ist doch nicht das Radio, sondern all‘ die Alternativen, über die wir mittlerweile verfügen. Dank I-Tunes, Spotify, YouTube und Schlagmichtot genießen wir den Luxus, immer genau jenen Song zu bekommen, den wir Sekunden zuvor in die Suchleiste eingetippt haben. Jetzt, sofort, 24/7 – auch an Feiertagen! Von Bach über Led Zeppelin bis Helene Fischer (ja, auch die!). So ein Hörfunkgerät wie das Radio wirkt da geradezu kontra-revolutionär.
Willkommen in der Welt der unbegrenzten Möglichkeiten
Das funktioniert natürlich nicht nur im Bereich von Musik, sondern auch bei Filmen, Büchern, Urlaub, Diskos und Müsli. Die Technologisierung unserer Bedürfnisbefriedigung öffnet den Weg hin zu immer mehr Individualität – und das ist gefährlich (ja, ich weiß, der Teil mit dem Radio war lustiger). Wir sind es mittlerweile gewohnt, genau das zu bekommen, wonach wir fragen: Ein Livestream vom Rammstein-Konzert!? Bitte! Eine Dokumentation über das Paarungsverhalten der Bonobos!? Bitte! Einen Liebesroman mit traurigen Ende, aber möglichst kein Ende mit Taschentuch!? Bitte! Bequem von Zuhause aus. Amazon, Netflix und YouTube machen’s möglich!
Doch diese „Welt der unbegrenzten Möglichkeiten“ hat auch seine Schattenseiten: Wir verlernen durch die voranschreitende Technologisierung mit verschiedenen Meinungen, Perspektiven und Lebenswelten in Kontakt zu treten. Was in den sozialen Netzwerken schon seit Langem unter dem Begriff Filterbubble kursiert, lässt sich genauso gut auf viele andere Lebensbereiche umbiegen. Wir hören genau die Musik, die uns am besten gefällt. Schauen genau die Filme, die wir gerne sehen. Bestellen genau die Bücher, die wir lesen wollen.
Ein Beispiel: Sie würden gerne das Buch Shining von Stephen King lesen. Sie tippen Titel und Autor in die Suchleiste von Amazon und bestellen genau dieses Buch. Wie es anders laufen könnte: Sie stolpern in ein Buchgeschäft mit der Absicht Shining von Stephen King zu kaufen. Im Schaufenster liegt da ein Buch über Bienen – klingt interessant. Die nette Verkäuferin meint, Shining sei leider gerade ausverkauft, aber sie könne Ihnen gerne ein anderes Buch empfehlen. Und am Ende des Tages kehren Sie heim mit einer Biographie von Mahatma Gandhi. Oder „Vegetarisch Kochen“ für Einsteiger. Das persische Reich im 12. Jahrhundert. Keramiktöpfe selber basteln. Terror Ficken Hitler (ich war selbst etwas baff).
Taubenkackeschutzschilder gibt’s noch keine
Je mehr technologische Entwicklung voranschreitet, desto mehr limitieren wir uns auf unsere eigene Wohlfühlzone und umso weniger werden wir mit konkurrierenden Meinungen konfrontiert. Dass das für eine Gesellschaft nicht allzu vorteilhaft sein kann, liegt auf der Hand. Ihren prominentesten Vertreter findet das in – wie könnte es anders sein!? – den „sozialen Medien“: in Form einer gravierenden Spaltung der Gesellschaft, die zunehmend in zwei Lager abdriftet, wo das eine nicht einmal noch die Bereitschaft aufbringt sich auf den anderen einzulassen.
Immer mehr vermeiden wir jeglichen Kontakt zu alles und jedem, was uns nicht 100 Prozent geheuer ist. Wann sind Sie das letzte Mal einfach mal so in den Urlaub gefahren oder waren zumindest in einem Reisebüro? Viel lieber vergleichen wir doch online zwischen Abertausenden von Alternativen und planen von etwaigen Freizeitaktivitäten bis zur Nachspeise alles bis ins kleinste Detail durch. Vier Wochen vorm eigentlichen Urlaub, von zu Hause aus.
Man findet sich dann wieder im Holiday-Resort Feel Fucking Good – irgendwo auf dieser Welt. Wurscht wo, weil das Personal dort selbstverständlich deutsch spricht und das traditionelle Localfood so serviert wird, dass es auch für den eigenen Magen und Gaumen verträglich ist. Das einzige Quäntchen Unsicherheit begegnet einem noch am Weg vom Resort zum Sonnenschirm am Strand. Taubenkackeschutzschilder kann man online noch nicht buchen…
Auch so ein interessantes Ding in Sachen Individualisierung ist die „Silent Disco„. Bisher lief das im Club immer so: Man mochte die Musik und ging richtig gut ab. Oder man besserte eben an der Bar etwas nach – und der Abend war auch okay. Anders in der Silent Disco: Dort reicht man Ihnen am Eingang wohlwollend Kopfhörer. Sie wählen nun ihren ganz eigenen, individuellen Song und müssen sich nicht mit Klangverwirrungen der anderen Besucher rumschlagen – vom Reden ganz zu schweigen.
Gnade Gott demjenigen, der es wagt, mir die zweitbeste Option vorzulegen!
Ich gehe nicht mehr in den Supermarkt und wähle aus 18 vorgefertigten Sorten Frühstücksmüsli aus. Nein, denn da könnte ja in einem eine Zutat drin sein, die meinem morgendlichen Wohlbefinden nicht bekommt. Morgenstund‘ hat bekanntlich Gold und keine getrockneten Bananenflakes im Mund. Bananen mag‘ ich nicht. Auf MyMuesli stell‘ ich mir deswegen meinen eigenen Hafermix zusammen, indem auch garantiert nur reinkommt, was ich will. Gnade Gott demjenigen, der es wagt, mir die zweitbeste Option vorzulegen!
Die Mitgliederzahlen in Sportvereinen, vom Kegeln bis zum Fußball, gehen landesweit zurück. Na klar, im Fitnessstudio kann ich zu exakt jener Zeit trainieren, zu der es mir am besten passt. Ich kann exakt so lange schwitzen, wie ich Lust drauf hab‘. Und genau jene Bereiche meines Körpers ansprechen, die mir gerade etwas zu schlaff erscheinen. Während die Proleten vom örtlichen Fußballverein jeden Mittwoch von 18 bis 20.30 Uhr bei jeder Witterung den Ball hinterherjagen, trainiere ich zu meinem Wunschtermin bei 19,5 Grad im Trockenen.
Was dabei auf der Strecke bleibt, sind offensichtlich soziale Netzwerke, ein gesundes menschliches Beziehungssystem mit Ligaturen, emotionalen Bindungen und Sicherheiten. Die vielgepriesene Selbstbestimmung, Selbstentfaltung funktioniert nur durch die Loslösung vom eigenen Milieu – aber sie geht auch auf Kosten dieses Milieus.
„Hätte besser laufen können…“
Viel gravierender jedoch ist, dass diese Welt der unendlichen Möglichkeiten letztlich in ein Vakuum, in einen Dauerzustand der Sinnleere führt. „Hätte besser laufen können“ sagen wir für gewöhnlich, wenn etwas gravierend schief läuft, die Ehe zu Bruch geht oder das Kündigungsschreiben im Briefkasten liegt. Wenn plötzlich alles zu jeder Zeit erreichbar ist, ich nicht zur „gewöhnlichen Zeit“ zum Italiener nebenan geh‘, sondern sonntags 2 Uhr nachts bei lieferando.de zwischen mexikanisch, südgeorgisch oder ostfriesisch wählen kann, wird „hätte besser laufen können“ zum ständigen Begleiter einer jeden Alltagshandlung.
Befriedigung ist immer relational, richtet sich nicht nach der Qualität der Sache selbst, sondern nach den Möglichkeiten, mit denen wir sie kontrastieren können. Die Quattro Formaggi schmeckt hervorragend, solange ich zwischen einer überschaubaren Anzahl an Optionen auswählen kann. Die Quattro Formaggi ist nicht übel, aber im Nachhinein betrachtet wär‘ vielleicht der Burrito de Pollo vom Mexikaner doch die bessere Wahl gewesen.
Nun kann die Entscheidung zwischen italienisch oder mexikanisch eine durchaus herausfordernde sein, aber sie hat noch keinem das Leben signifikant erschwert. Partnerbörsen oder Tinder tun das hingegen. Sie konfrontieren uns mit einer schier unendlich großen Zahl an Geschlechtspartnern. Seit dem Boom von Onlinedating und Co. ist die Zahl der Affären und Scheidungen signifikant gestiegen. Wenn permanent etwas verfügbar ist, was noch besser sein könnte, fällt ein Wechsel schlichtweg leichter. Das gilt für Pizzas wie für Sex.
Lieben, nicht ver-lieben!
Doch besteht eine gesunde Beziehung, Liebe, eigentlich in dem Trotzdem, in dem no matter what, in dem emphatischen „Scheisse Ja!“ – wenn die eigene Partnerin gerade mit Brechdurchfall über der Schüssel hängt. Neben einem sich übergebenden Partner stehen gehört mit Bezug auf eine Beziehung wohl nicht zu den glücklichsten Zeiten, ist wahrscheinlich nicht die beste und wahrscheinlich auch nicht die zweitbeste Option (aus eigener Erfahrung: Brechdurchfall rangiert selten unter den Top 5). Aber es ist wohl einfach ein Zeichen einer gesunden menschlichen Beziehung, die Abweichungen von der Norm akzeptiert.
Außerdem wird durch Phänomene wie dem Onlinedating mit dem Zufall eine wichtige Komponente aus unserem Leben eliminiert. Doch ist es eigentlich gerade der Zufall, der evolutionär betrachtet eine besonders wichtige Rolle spielt. Nach Vorstellung einer Partnerbörse sollen Zufallselemente nach Möglichkeit vollständig aus der (Liebes-) Welt verbannt werden. Wir sollen uns nicht mehr ver-lieben, sondern nur noch lieben.
Sorgfältig ausgefüllte Profile mit entsprechendem Bild sollen sämtliche Fehlgriffe bereits im Vorhinein unmöglich machen. Die nächste Stufe dieser Entwicklung sind beispielsweise Sexpuppen, die mit Gefühlen ausgestattet immer mehr zu Sexrobotern werden. Vertreiber dieser Dinger gehen davon aus, dass es spätestens ab dem Jahr 2050 völlig normal sein wird, Beziehungen mit Sexrobotern zu führen. Klar, Sexroboter haben selten Brechdurchfall…
Jedem so, wie’s ihm am besten schmeckt
Dem Ganzen – dem Onlinedating, wie dem Buchen eines Urlaubs oder dem Besuch einer Disko – liegt die Illusion zu Grunde, man könne für jeden einzelnen der 7,5 Milliarden Bewohner dieser Erde eine Welt einrichten, die genau auf ihn zugeschnitten ist. Eine Welt ohne Ecken, ohne Kanten. Jeder pickt sich nur noch das raus, was ihm persönlich den größten Vorteil bringt, am besten schmeckt und am bequemsten ist. Jeder in seiner eigenen semipermeablen Blase, die nur das reinlässt, was den eigenen Vorstellungen am besten entspricht.
Ich weiß, Helene Fischer und Andreas Gabalier sind keine besonders schlagkräftigen Argumente für den Kauf eines Radios. Aber es würde uns bei Gott (oder Gabalier) nicht schaden, uns auch wieder mal auf Dinge einzulassen, die uns nicht hundertprozentig in den Kram passen. Im Fernsehen mal wieder eine Doku über Walfang schauen, weil sie eben gerade läuft. Im Bus mit einem Typen plaudern, der nicht meiner politischen Einstellung ist, weil er eben gerade neben mir sitzt. So etwas kann herzhaft erfrischend sein. Und der sicherste Reichtum ist immer noch die Armut an Bedürfnissen.
Im Auftrag des Hörfunks: Johannes Greß
*Für jede Zusendung eines Leserfotos mit „lüstern-brünftigen Blick“ gibt’s vielleicht ein Radio gratis!