Karatschi/Islamabad. Seitdem der ehemalige Kricket-Spieler Imran Khan und der Prediger Doktor Qadri mit ihren Anhängern Islamabad belagern, entsteht der Eindruck, Pakistans Demokratie sei mal wieder in Gefahr. Aber wer steht eigentlich hinter dieser Demokratie, die seit sechs Jahren praktiziert wird? Und was machen eigentlich die Taliban? Ein interessanter Blick nach Karatschi und in die umliegende Provinz Sindh des Reisejournalisten Gilbert Kolonko. Denn auch Wailder schauen gerne mal über ihren Tellerrand hinaus…
„Taliban marschieren einfach in die Wohnungen unserer Mitglieder“
„Natürlich. Nawaz Scharif und Zardari sind über Nacht zu Demokraten geworden und die Taliban sind alle mit dem Boot in den Irak“, sagt ein Mittfünfziger mit gequältem Lächeln und deutet dabei über den abgesperrten Strand von Clifton aufs Arabische Meer. Dann fährt er fort: „Auch wenn die pakistanischen Taliban geschwächt sind und ihre Antwort auf den Einmarsch der pakistanischen Armee auf sich hat warten lassen. Vor drei Tagen ist der Sohn des schiitischen Führers in Karatschi erschossen worden. Und gestern gab es vor der Küste einen Angriff auf ein Boot der pakistanischen Marine – drei Soldaten wurden entführt. Dass vor drei Wochen mehrere Maskierte in Karatschi drei Sufis in einem Schrein erschossen haben, gehört dagegen zum täglichen Wahnsinn in unserer Stadt.“
Wir hatten über die derzeitigen Demonstrationen in Islamabad gesprochen und die aktuelle Zurückhaltung der pakistanischen Taliban. Die Plakate von Leichen neben der Absperrung des Strandes passt zu unserer Stimmung. Vor sechs Wochen sind hier an einem Tag 45 Menschen ertrunken, seitdem dürfen die eh schon gebeutelten Bürger Karatschis nicht einmal mehr an den Strand ihrer Stadt. Dabei ist er einer der wenigen Orte an dem man nicht Angst haben muss, ein Opfer der täglich 20.000 verübten Straftaten Karatschis zu werden, oder eines der jährlichen 2.500 Opfer ethnisch und politisch motivierter Auftragsmorde. Zwar hatten die Polizei und die Rangers vor ein paar Monaten mehrere „Säuberungsoperationen“ durchgeführt – was die Bürger kurzfristig aufatmen ließ -, doch fehlte auch diesmal die Nachhaltigkeit: Die großen politischen Parteien der 18-Millionen-Einwohner-Megametropole, die die Bandenchefs kontrollieren, sind weiterhin an der Macht.
Auch die pakistanischen Taliban (TTP) wildern weiter in den vorwiegend mit Paschtunen bewohnten Außenbezirken Karatschis: Das tun sie nicht, um missionarische Arbeit zu leisten; in Karatschi ist man zum Geldverdienen: Erpressung und Schutzgeld. Dabei bevorzugen sie sogenannte weiche Ziele: die ethnischen Minderheiten. „Die Taliban spazieren einfach in die Wohnungen unserer Mitglieder, die in den illegal gebauten Siedlungen in den Randbezirken Karatschis liegen. Im besten Falle stellen sie die jeweilige Familie vor die Wahl, eine hohe Geldsumme an sie zu zahlen oder das Haus zu verlassen. In der Regel übernehmen die Taliban einfach die Wohnung oder das Haus. Wir haben in diesem Land keine Lobby“, hat mir ein Ahmadya vor kurzem nicht zum ersten Mal erzählt. Unter der Bhutto-Regierung wurden die Ahmadyas in den Siebzigerjahren per Gesetz als Nicht-Muslime eingestuft. Ihr Makel: Sie glauben nicht, das Mohammed der letzte Prophet war. Auch in ihrem Fall hat keine der demokratisch gewählten Regierungen, die seit sechs Jahren das Land regieren, nur einen Finger gekrümmt.
Herzlichkeit, inmitten von lähmender Angst und brutaler Gewalt
Am nächsten Tag stehe ich etwas ratlos vor einem Stand mit Fruchtsäften am Lee Market im Stadtteil Lyari. Eigentlich sollte dort einer meiner bevorzugten Teestände sein. Da kommt einer der stämmigen Lastenkutscher und schlägt mir lachend etwas zu kräftig auf die Schulter: „Vier Laks (4.000 Dollar) Schulden. Weg ist er.“ Dann zwinkert er mir zu und sagt leise aber freudig grinsend: „No problem. Er ist O.K.“ Die Freude, dass mal ein kleiner Teeverkäufer die „Großen“ übers Ohr gehauen hat, ist dem Lastenkutscher deutlich anzumerken. Gestern sah das in der Nähe anders aus. Da ist ein Vater und sein dreijähriger Sohn auf offener Straße erschossen worden – einfach so. Ob das Opfer den Schutzgeldforderungen der hiesigen Banden nicht nachgekommen ist, oder ob ein anderer Grund hinter der Hinrichtung stand, wird wohl auch diesmal nicht aufgeklärt werden. Fest steht nur, dass in Lyari immer noch die P.P.P (Pakistan People Party) das Sagen hat, eine der zwei großen demokratischen Parteien Pakistans. Ihr Parteivorsitzender Zardari steht gerade in Islamabad Nawaz Scharif bei, um die Demokratie Pakistans zu retten. In Lyari, der wichtigsten Handelsgegend Karatschis, stützt sich die P.P.P zum Machterhalt auf die Schusskraft bewaffneter Banden und den hier lebenden Balochen. Den Rest der Innenstadt kontrolliert die MQM, die die 1947 aus Indien übergesiedelten Mohajirs vertritt. Sie ist die am besten organisierte „Gang“ Karatschis und zählt laut Wikileaks bis zu 25.000 bewaffneter Männer. Das sind etwa 7.000 mehr als die Polizei Karatschis, wenn man die Beamten abzieht, die als Personenschutz für Politiker und andere V.I.P.s abgestellt sind. So bleibt ein Polizist zum Schutz von 1.524 Bürger Karatschis übrig. In London etwa ist das Verhältnis 1 zu 152.
Am nächsten Morgen sitze ich in einem der buntverzierten Rumpelbusse der Stadt. Neben mir ein junger Mann der Bohra, einer Abzweigung der Sunniten. Letzte Woche ist er auf der gleichen Buslinie ausgeraubt worden – und der Rest der Businsassen dazu: „Vor den letzten Wahlen kam der MQM-Führer der Gegend in unser Gemeindezentrum und erklärte ganz offen, dass sie rausfinden werden, wenn wir ihm nicht unsere Stimmen geben. Dann hätten wir als religiöse Minderheit niemanden mehr, der uns beisteht.“ Kurz darauf stehe ich auf dem Empress Markt, wo auf dem kolonialen Uhrenturm die rote Fahne der Awami Liga (ANP) mittlerweile in Fetzen hängt. Sie war die dritte politische Kraft Karatschis und kurz davor, der MQM „militärisch“ gefährlich zu werden. Aber die Taliban waren in den Randbezirken einfach die brutalere Gang und haben die Geldquellen der ANP übernommen. Doch wie sagte ein Einheimischer letztes Jahr zu mir: „Weiter als Orangi werden die Taliban nicht nach Karatschi vorstoßen. Das hier sind nicht die Berge Waziristans. Die MQM hat jahrzehntelange Erfahrung im Großstadtkrieg.“ Bis jetzt hat er Recht behalten.
Ansonsten ist am Empress Markt alles beim alten. Hunderte obdachloser Männer und Frauen sitzen vor den Restaurants und warten auf kostenlosen Tee und Parathas, während die Raubvögel durch die Gassen schweben. Obwohl es auch den kleinen Geschäftsleuten Karatschis wirtschaftlich nicht gut geht, scheint es für sie eine moralische Verpflichtung zu sein, jeden Hungrigen mit einem Frühstück zu versorgen. An kaum einem anderen Ort ist Herzlichkeit reiner und klarer zu erkennen; in Karatschi wird sie inmitten von lähmender Angst und brutaler Gewalt gelebt wird. Täglich strömen Tausende mehr in die Mega-Metropole. Die Balochen und Pathanen fliehen vor den bewaffneten Auseinandersetzungen in ihren Regionen. Warum die restlichen Landbewohner an einen Unort wie Karatschi flüchten, wird verständlich, sobald man den Blick in die ländlichen Gegenden nördlich der Stadt wirft.
„Ob die Scharifs oder die Bhuttos, beide sind sie korrupt.“
Ansammlungen von Lehmhütten mit Strohdächern, umgeben von Feldern auf denen Baumwolle, Chili und Getreide angebaut wird. Dahinter karge Steinwüste, dann wieder ein paar Lehmhütten. Die Namen der Dörfer spielen keine große Rolle, auch nicht ob die Bewohner Hindus, Christen oder Muslime sind. Von Karatschi bis hinunter zur Provinz Punjab sieht es in der Region Sindh beinahe gleich aus. Beinahe gleich sind auch die Bedingungen, unter denen die Dorfbewohner Leben. Die Hälfte der Ernte hat man den Landlords abzugeben, viele der Schulen werden als Lagerhäuser benutzt. Funktionierende Krankenhäuser sind rar. Die großen Landlords sind gleichzeitig auch die gewählten Volksvertreter – und in der Regel vertreten sie die Partei der Bhutto-Familie, die Pakistan People Party (PPP). Diese hat ihren Sitz in Larkana. Wenn man in Enzyklopädien nachschlägt, trifft man in Verbindung mit den Bhuttos öfters auf die Wörter: linksliberal, demokratisch, sozial. Trotzdem reicht auch für die Lebensbedingungen der Untertanen der Bhuttos in Larkana ein Wort aus: Mittelalter.
Die Rechtfertigungen der „Könige“ des Sindhs klingen nicht anders als die ihrer „Kollegen“ in Indien oder Nepal: „Wir geben ihnen Arbeit und Unterkunft. Sie sind wie unsere Kinder, ohne uns würden sie doch verhungern.“ Schulen und Bildung würden den jahrhundertealten Kreislauf der Abhängigkeit nur stören; das wissen auch die Bhuttos. So wurde in den Jahren 2008 bis 2013, als die Bhuttos mit ihrer PPP nicht nur den Sindh, sondern auch Pakistan regierten, der eh schon mickrige Bildungsetat weiter gekürzt.
Der jetzige Präsident Scharif ist zwar Industrialist, aber da auch er nicht an den Pfeilern des jahrhundertealten Abhängigkeitsverhältnis zwischen „König“ und Untertanen rüttelt, sind auch ihm die Stimmen der Landlords seiner Region Punjab gewiss. Dass auch seine Partei, die PML-N, ein Familienunternehmen ist, in dem der Vorsitzende nicht gewählt, sondern bestimmt wird, ist logisch. Doch einen Unterschied nannte mir einer der wenigen gebildeten Mittelständler des Sindhs: „Ob die Scharifs oder die Bhuttos, beide sind sie korrupt. Doch während die Bhuttos einen großen Teil ihres Vermögens ins Ausland bringen, investieren die Scharifs ihr gestohlenes Geld wieder in den Punjab.“ So gibt es in Lahore zumindest drei Mal so viel Polizisten pro Einwohner wie in Karatschi.
… das hängt alles miteinander zusammen …
Dass Imran Khan bei den letzten Wahlen halb so viele Stimmen wie Nawaz Scharif erringen konnte, aber sechs Mal weniger Parlamentssitze bekam. Dass gerade Teile der Mittelklasse Pakistans in Islamabad auch mit undemokratischen Mitteln wirkliche Demokratie erzwingen wollen. Dass Menschen so verzweifelt sind, dass sie an einen Ort wie Karatschi flüchten. Dass die pakistanischen Taliban als eine von vielen kriminellen Gruppen sich in Karatschi ihre Kriegskasse auffüllen können: Das hängt alles miteinander zusammen.
Wie sagte der Fünfzigjährige am Strand von Karatschi zum Abschied zu mir: „Zindabad (lang lebe!) Scharifs. Zindabad Bhuttos – armes Pakistan.“ Dass die pakistanische Armee nicht viel anders funktioniert als eine Art riesiger Familienclan hat er mit Sicherheit nur vergessen zu erwähnen…
Gilbert Kolonko