Barcelona. Rot-gelbe Fahnen schmücken die Balkons spanischer Reihenhäuser. Auf den ersten Blick könnte man meinen, man befände sich in einer Wohngegend Barcelonas, in der die Spanier die Liebe zum eigenen Vaterland besonders inbrünstig zur Schau stellen. Doch wer genauer hinsieht, der bemerkt schnell, dass es sich dabei ganz und gar nicht um ein patriotisches Bekenntnis zum spanischen Königreich handelt. Im Gegenteil. Die Grundfarben sind zwar dieselben – doch die rot-gelben Streifen und der weiße Stern auf blauem Grund steht für die autonome Gemeinschaft Kataloniens. Eine Hog’n-Momentaufnahme aus Barcelona.
Einige Straßenzüge weiter zeigt sich ein ähnliches Bild – zusätzlich zu den rot-gelb-gestreiften Flaggen haben die Bewohner des Mietshauses ihre Balkone mit noch mehr Tüchern behängt. Die grünen, blauen und lilafarbenen Stoffstücke sind mit weißen Sprechblasen bedruckt, auf denen ein einziges Wort steht: Sí.
Viele Bewohner Kataloniens fühlen sich nicht ernst genommen
Ja zur Unabhängigkeit, ja zur Abspaltung Kataloniens vom spanischen Königreich. Die Graffitis an den Mauern und Hauswänden verdeutlichen diesen Wunsch: „Votem per ser lliures – geht wählen, um frei zu sein.“ Es ist kein Zufall, dass die Sprüche auf Katalanisch verfasst sind. Im Gegensatz zur weit verbreiteten Meinung handelt es sich hierbei nicht um einen Dialekt, sondern um eine eigene Sprache.
Doch warum legen die Katalanen solchen Wert auf die Unabhängigkeit ihrer Gemeinschaft? Neben finanziellen Beweggründen – Katalonien gilt als eine der reichsten Regionen Spaniens, weshalb die Bewohner hier auch mehr Steuern zahlen müssen – gibt es eine Reihe weiterer Motive. Etwa das, dass sich viele Bewohner Kataloniens nicht von der Zentralregierung in Madrid ernst genommen fühlen. Sie betrachten die katalanische Kultur als eine eigene Kultur, die sich grundsätzlich von der spanischen abhebt. Genau deshalb wird in den meisten Schulen catalán unterrichtet, Hinweise in Bussen und U-Bahnen sind ebenfalls zweisprachig verfasst. Auch die Mossos, eine Form der Bürgerpolizei, die in Urlaubsorten an der Costa Brava aber auch in der katalanischen Hauptstadt Barcelona zum Einsatz kommt, ist außerhalb der autonomen Gemeinschaft in dieser Form nicht anzutreffen.
Die Nebenwirkungen des Referendums
Bis zum Jahr 1714 war Katalonien eigenständig. Mit der Belagerung Barcelonas durch die Truppen Phillipp V. verlor die Gemeinde gewisse Privilegien und wurde in den spanischen Staat eingegliedert. Seit den 80er Jahren wird der Tag der Kapitulation Kataloniens, der 11. September, deshalb von vielen Katalanen als nationaler Trauertag begangen. Unter der Diktatur Francos im 20. Jahrhundert, die nach dem spanischen Bürgerkrieg begann, wurde Katalonien endgültig unterdrückt. Lange Zeit war sogar die Veröffentlichung katalanischer Medien verboten – auch die Sprache durfte nicht mehr gesprochen werden.
Kein Wunder also, dass man im Norden Spaniens empört darüber ist, dass sich die spanische Regierung in Madrid auch heute noch auf eine Verfassung beruft, die im vergangenen Jahrhundert unter Diktator Franco verfasst wurde. Am 1. Oktober 2017 stimmten nun die Katalanen über die Abspaltung ihrer autonomen Gemeinschaft im Rahmen eines Unabhängigkeitsreferendums ab, das von teils heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Demonstranten begleitet wurde. Die spanische Regierung war der Meinung, die Katalanen hätten dazu gar kein Recht gehabt. Denn laut der aktuellen Verfassung ist es Katalonien verboten, seine Unabhängigkeit zu erklären.
Ein weiteres Problem des Referendums beunruhigt vor allem die Europäische Union: Da Katalonien über eine starke Infrastruktur verfügt, haben viele Firmen dort ihren Sitz. Die Region gilt – vor allem für andere europäische Staaten – als Standort vieler Handelspartner. Eine Abspaltung Kataloniens vom Rest Spaniens hätte jedoch erst einmal den Austritt aus der EU zur Folge. Aus diesem Grund werden höhere Handelsbarrieren sowie der Verlust von Arbeitsplätzen befürchtet.
Ausnahmezustand in Spanien?
Auch, wenn die Thematik der katalanischen Unabhängigkeit angesichts des gerade erst stattgefundenen Referendums aktueller denn je ist: Ganz so schlimm, wie es von einigen deutschen Medien dargestellt wird, ist die Situation (im Nachgang des 1. Oktober) vor Ort nicht.
Wer in den vergangenen Jahren die Region besucht hatte, weiß, dass viele Bürger ihre Balkone schon seit Langem mit der katalanischen Flagge behängen. Derzeit mag es zwar mehr Demonstrationen geben – und auch die Graffitis mit der Aufforderung wählen zu gehen sind neu. Doch die zahlreichen Demonstrationen, zu denen es derzeit vor allem in Barcelona, also in der größten Stadt der Region, kommt, verlaufen größtenteils friedlich. Viele Katalanen möchten sich Gehör verschaffen. Sie protestieren dagegen, von der Regierung nicht ernst genommen zu werden – in den meisten Fällen kommt es hierbei zu nicht weiter nennenswerten Zwischenfällen.
„Wir wollen lediglich wahrgenommen werden“, meinte der Teilnehmer einer Demonstration. Knapp anderthalb Wochen nach dem Referendum fühlt er sich – genau wie viele andere Wähler – belächelt. Denn in den letzten Jahren haben katalanische Politiker immer wieder um Gespräche mit der spanischen Regierung gebeten, um über gewisse Missstände zu verhandeln. Diese Anfragen wurden jedoch immer wieder ignoriert oder abgelehnt, woraufhin man mit der Autonomisierung der Gemeinschaft drohte. „Deshalb haben wir das Gefühl, unsere Glaubwürdigkeit endgültig zu verlieren, wenn wir nun nicht ins Handeln kommen“, erklärte der Demonstrant.
Tatsache: Nicht alle Katalanen wollen die Unabhängigkeit
Eine Tatsache, die von Befürwortern der Unabhängigkeitsbewegung ungern zugegeben wird, ist der Ausgang des Votums vom 1. Oktober. Während es in den Medien häufig so dargestellt wird, als wollten alle Bewohner Kataloniens die Abspaltung ihrer Gemeinschaft vom Rest Spaniens, verdeutlichen die Wahlergebnisse, dass dem wohl nicht so ist: Lediglich 55 Prozent der Wähler stimmten für die Unabhängigkeit, die restlichen 45 waren dagegen.
Betrachtet man zudem die Tatsache, dass erste Hochrechnungen im September sogar ergaben, gerade mal 35 Prozent befürworteten die politische Abspaltung, stellt sich die Frage, wie es in so kurzer Zeit zu dieser auffälligen Änderung der Zahlen kommen konnte. Experten und Meinungsforscher vermuten, dass ein Teil derer, die sich noch im September gegen die Abspaltung ausgesprochen haben, schlichtweg dazu angestachelt wurde: Die Regierung ignorierte weiterhin alle Drohungen, spanische Medien bezeichneten das Vorhaben Kataloniens als Trotzreaktion. Beobachter sind der Meinung, dadurch hätten die noch unschlüssigen Wähler den Eindruck erhalten, dass sie ins Handeln kommen müssen, um ernst genommen zu werden.
Wie so häufig stellt sich vielen Außenstehenden die Frage, ob nicht für beide Parteien – sowohl für die Katalanen als auch für den Rest des Landes – die beste Lösung eine offene Kommunikation wäre. So bleibt abzuwarten, ob sich die Zentralregierung doch noch zu Gesprächen bereit erklärt – oder ob die unzufriedenen Bürger ihren Willen durchsetzen und die Unabhängigkeit Kataloniens erreichen werden. Der katalanische Regierungschef Carles Puigdemont jedenfalls will Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy derzeit offenbar keine klare Antwort auf die Frage geben, ob die Region nun ihre Unabhängigkeit erklärt hat oder nicht…
Malin Schmidt-Ott
Bis zum Jahr 1714 war Katalonien eigenständig. Mit der Belagerung Barcelonas durch die Truppen Phillipp V. verlor die Gemeinde gewisse Privilegien und wurde in den spanischen Staat eingegliedert
Gewisse? Katalonien hatte eigene Befugnisse, ein eigenes Parlament, seit 1238, dieses Parlament konnte Entscheidungen des Königs nicht unterstützen und sogar verhindern.
Doch die zahlreichen Demonstrationen, zu denen es derzeit vor allem in Barcelona, also in der größten Stadt der Region, kommt, verlaufen größtenteils friedlich.
Entschuldigung? Sie waren immer friedlich