Prackenbach. Der Glaube an Gott ist für viele ein unerschütterliches Fundament und ein stiller Anker inmitten der Stürme des Lebens. Er bietet eine tiefe Sicherheit und einen Sinn, der über das Sichtbare hinausgeht. Aus dieser spirituellen Gewissheit schöpfen viele oft eine immense innere Stärke, Hoffnung und die Kraft zur Vergebung, die es ihnen ermöglicht, Krisen nicht nur zu überstehen, sondern daran zu wachsen.

„Dir wird ein ganzes Leben geschenkt – und nur du allein entscheidest, wie du es lebst!“ Die ruhige Botschaft der Worte schwebt durch das altmodisch eingerichtete Zimmer. Mit einem warmherzigen Lächeln lehnt sich Waldemar Schäfer auf seinem gepolsterten Stuhl zurück und legt die Hände auf den dunklen, mit einem gehäkelten Deckchen bedeckten Tisch. 90 Jahre lang hat der (mittlerweile schon viele Jahre) pensionierte evangelische Pfarrer aus Berlin nach diesem Grundsatz gelebt.
Seinen Ruhestand verbringt er seit rund 30 Jahren in Prackenbach. Er erzählt aus seinem Leben. Von seiner von Krieg und Gefangenschaft geprägten Kindheit und seiner Lebensaufgabe, der Jugendarbeit. Vom Finden der Liebe seines Lebens und deren Verlust. Und, wie über allem stets sein Glaube und sein Vertrauen in das Leben stand.
Seine Mutter schenkte ihm Vertrauen
Küstrin-Neustadt, 10. März 1935. Waldemar Schäfer erblickt im elterlichen Haus das Licht der Welt. Die Stadt östlich von Berlin gehört seit Ende des Zweiten Weltkriegs zu Polen. Hier verbringt der kleine Junge den ersten Teil seiner Kindheit. Die ändert sich jäh, als der Vater eingezogen wird. „‚Jetzt bist du der Mann, jetzt musst du auf die Mama aufpassen‘, sagte er zu mir und klopfte mir auf die Schulter.“ Der sympathische, mittelgroße Senior fährt sich durch die weißen Haare, atmet tief ein und blickt nachdenklich. Man scheint seine Gedanken kreisen zu sehen. Um alles, was er im letzten Jahrhundert erlebt hat – erleben musste und durfte.

„Unterbrich mich bitte, wenn ich zu viel rede“, unterbricht er sich selbst immer wieder in trotz der vielen Jahre bayerischen Einflusses makellosem Hochdeutsch. Bairisch würde er „einfach nicht mehr“ lernen. Waldemar Schäfer lächelt entschuldigend. „Wir wollen uns ja auf den Glauben konzentrieren!“ Doch der Glaube hängt unmittelbar mit der Lebensgeschichte zusammen. Und damit auch mit den Kriegs-, Flucht- und Gefangenschaftserlebnissen.
Die Erzählungen aus der Kindheit scheinen zunächst unbeschwert – „es war alles wie ein Abenteuer für mich“. Von Umherstreunen mit Freunden in den Straßen der Stadt, Mutproben, bei denen Straßenbahnen ausgewichen werden musste – „im Nachhinein völlig bekloppt“ –, berichtet er redselig und grinst, als er sich an immer neue Anekdoten erinnert.
Was Waldemar Schäfer immer wieder hervorhebt, ist die Einstellung seiner Mutter, die sein ganzes Leben geprägt hat: vertrauensvoll, locker, wissend um die Fähigkeiten ihres Sohnes. „Sie war einfach wunderbar: ‚Junge, lass dich einfach nicht erwischen‘, sagte sie immer zu mir.“ Ein Lächeln huscht über das von 90 Jahren geprägte Gesicht.
Als Junge rettete er der Gefangenengruppe das Leben
Entscheidungen darf er stets selbst treffen, er soll selbst überlegen und den für ihn richtigen Weg finden. Auch im Glauben. Großvater und Mutter sind während des Krieges die wichtigsten Bezugspersonen, der Großvater „Laienprediger“, weil es nicht möglich ist, die große Verwandtschaft bei den Besuchen auf dem Hof in Pommern zur Kirche zu befördern. Trotzdem soll der Glaube jedem ermöglicht werden. „Waldemar, du musst mal Pfarrer werden!“, habe der Opa zu dem Jungen gesagt, viele Gespräche über Gott und den Glauben mit ihm geführt. „Er sagte oft: ‚Ihr müsst für das, was ihr tut, Verantwortung übernehmen. Wenn ihr Mist macht, bringt es wieder in Ordnung!‘ Und das taten wir. Wir machten viel Schmarrn, trotz des Krieges hatten wir eine wundervolle Jugendzeit.“ Der alte Mann lacht erst, wird still. Alles wird binnen Momenten anders.

„Dann hieß es: Die Russen kommen! Alle Zivilisten raus, nehmt so viel mit wie ihr könnt!“ Küstrin ist eingekesselt. Der Abschied von seiner Sandkastenfreundin ist Waldemar im Gedächtnis geblieben: ein letztes Mal Eislaufen auf dem zugefrorenen Fluss. Gerade noch rechtzeitig findet er Mutter und Bruder wieder. Die Dringlichkeit der Situation ist dem Kind nicht bewusst – „alles wie ein Abenteuer“. Mit dem Leiterwagen fliehen die drei, geraten bald in russische Gefangenschaft. Er erzählt mit tränenfeuchten Augen von schwerwiegenden Erlebnissen. Erlebnissen, die niemand machen sollte. Gefangenenmarsch, Tiefflieger, die auf die begleitenden Jeeps schießen, Tote, die einfach liegen gelassen werden. Das sind die harmlosesten seiner Erinnerungen. Andere sind zu verstörend, als dass sie niedergeschrieben werden sollten.
„Meine Mutter erzählte mir oft, dass ich alle gerettet hätte – doch das weiß ich nur noch verschwommen.“ Als der Gefangenenzug aus Frauen, Kindern und alten Leuten in einer Reihe aufgestellt wird und in die Mündung eines Gewehres blickt, tritt der Zehnjährige vor, schaut dem russischen Offizier in die Augen und sagt: „Onkel Soldat, dann schieß endlich!“ Stille. Der Offizier dreht sich um, geht davon. Erdrückende Stille im Jetzt. Sie füllt den gemütlich eingerichteten Raum mit den weißen Spitzengardinen. Abenteuerdurst und Gottvertrauen begleiten den Jungen scheinbar durch sein ganzes Leben.
Die Mauer trennte das Ehepaar
Seine Erziehung sei nicht dem damaligen Zeitgeist gemäß abgelaufen, erzählt er weiter. „Entscheide du und steh dazu“, das sei seine oberste Richtlinie gewesen. „Ich hinterfrage auch heute noch immer alles kritisch.“ Als der Vater die Familie nach dem Krieg auf einem Bauernhof am Niederrhein wiederfindet, beginnt ein weiterer Lebensabschnitt. Waldemar, der bis dahin das Gymnasium besucht, soll in dessen Fußstapfen treten und Schneidermeister werden. Gegen seinen Willen. „Das war wie ein Gefängnis.“

Nach vielen Diskussionen sucht er sich eine Lehrstelle und findet sie nicht – wie vom Vater angestrebt – im eigenen Geschäft, sondern beim Oberschneider. „Der war gewissermaßen der Chef meines Vaters“, erinnert sich Waldemar und grinst amüsiert. „Das passte ihm dann auch wieder nicht.“ Die Mutter unterstützt den Sohn: „Mach das, was du gerne möchtest.“ Für Waldemar ist klar: „Ich mach nur die Lehre, dann will ich mit jungen Menschen arbeiten.“ Mit 14 leitet er bereits eine Jugendgruppe aus Zehnjährigen, das ist seine Leidenschaft. Vom Vater erhält er keinerlei Unterstützung, erarbeitet sich selbst etwas Geld, um an einer privaten Jugendleiterschule aufgenommen zu werden. „Gott hat viele Wege aus der Not.“ Waldemar lächelt und erinnert sich an eine große Summe Geld, die plötzlich da war und mit der er dem Direktorium seine Schulden zurückzahlen konnte. „Ich weiß bis heute nicht, woher das Geld stammte.“
Eine schicksalhafte Begegnung macht er bei einem (nur halblegalen) Treffen von Jugendgruppen aus West- und Ostberlin: Er lernt dabei seine künftige Frau kennen. Als er sie nach Hause begleitet, steht noch am selben Tag fest: Marianne wartet bis nach dem Studium auf ihn. Waldemars Augen glitzern, als er erzählt, wie seine Freunde alle auf die tolle Stelle in Berlin verzichten, damit er diese antreten kann, bei seiner Marianne. Zwei Jahre später ist Hochzeit, zwei Kinder folgen.
Waldemar ist glücklich mit seiner Arbeit in Berlin-Friedenau. Doch ein weiteres Hindernis prägt den Lebensweg: Als er mit seiner Gruppe in einer Jugendfreizeit in der Oberpfalz weilt und seine Frau zu Besuch bei ihren Eltern in Ostberlin ist, wird die Mauer gebaut – und trennt das Paar. Wieder gibt Waldemar nicht auf, vertraut auf eine Lösung. In einer Nacht- und Nebelaktion mit falschem Pass holt er Marianne über die Grenze. Gemeinsam meistern sie auch die Zeit im Auffanglager mit Flüchtlingsstatus, Verdacht auf Spionage. „Zusammen schaffen wir das, sagten wir uns immer.“
Der Bayerwald: Erst Ziel mit Jugendgruppen, dann Heimat

Zeitgleich steht ein weiterer Einschnitt an: Seine Vorgesetzten beim CVJM (Christlicher Verein Junger Menschen) rufen ihn zum Gespräch und werfen ihm vor, „Gott ins Handwerk gepfuscht zu haben“, weil die Flucht seiner Frau illegal gewesen sei. „Es hat geklappt, also ist Gott auf unserer Seite“, sei seine Antwort gewesen. Zusammen mit der fristlosen Kündigung seinerseits.
Nach kurzem Schock über die Arbeitslosigkeit tut sich ein neuer Weg auf, wie Waldemar berichtet. Zufällig ist eine Jugend-Diakonstelle frei, kurz darauf wird er für eine Pfarrerstelle vorgeschlagen. Er nimmt an, studiert zwei Jahre nebenberuflich und wird bald zum Geschäftsführer der Kirchengemeinde „Zum Guten Hirten“ in Berlin-Friedenau gewählt. Der Pfarrer verschreibt sich neben vielen anderen Aufgaben weiterhin in großem Ausmaß der Jugendarbeit, will seinen Glauben und seine lebensbejahende Einstellung an die nächste Generation weitergeben. Er ist mit den sogenannten Jungenschaften unterwegs in verschiedenen europäischen Ländern, oft in Skandinavien, auch oft im Bayerwald.
Den lernt er lieben. Durch vielmalige Zeltlager am Regen bei Lehen schließt er Freundschaften. Er kauft ein Haus in Prackenbach, saniert es gemeinsam mit seiner Familie und verbringt dort viele Urlaube, seit 1994 seinen Ruhestand. Der aktive Senior sucht rund um die Uhr nach Aufgaben und Unternehmungen. Er schreibt mehrere Bücher. Ein schwerer Schicksalsschlag prüft ihn 2020, bereits die Jahre zuvor sind schwer für ihn. Er pflegt seine geliebte Frau. Die weiß ihn stets zu schätzen, lobt ihn als „lieben Menschen“, doch erkennt ihn teilweise nicht mehr. Ihre Beerdigung findet zur Pandemie-Hochzeit statt. Damit Freunde und weitere Verwandte Abschied nehmen können, gestaltet er ein Buch über die Liebe seines Lebens.
„Mit Gott rede ich wie mit einem guten Freund“
Halt geben ihm auch seine Freunde in der Nachbarschaft, in der sich „der Preuße“, wie er selbst sagt, fest integriert hat. Oft muss übersetzt werden, aber das macht nix. Waldemar grinst. „Schau’n wir mal, dann seh’n wir schon. Das ist oft richtiger als die Berliner Hektik. Das lernte ich hier.“
Dass er nicht mehr predigen kann, bedauert er sehr. Wegen einer Einschränkung im Bereich der Augen ist das Leben für ihn in den vergangenen Jahren schwieriger geworden. Dennoch stärkt ihn sein Glaube: „Mit Gott rede ich wie mit einem guten Freund.“ Ein strikter Kirchgänger sei er noch nie gewesen, lieber gemeinsam beten, singen und musizieren – gerne am Lagerfeuer. Lächelnd legt er in Gedanken seine Hände in den Schoß. In 90 Jahren hat er viel erlebt, viel angeregt. Er ist überzeugt, dass auch jetzt noch eine Aufgabe vorgesehen ist für ihn in der Welt…
Text und Fotos: Lisa Brem








