Passau. Schon seit Jahren wehren sich manche Anwohner am Innkai gegen die Erhöhung der dortigen Straßenreinigungsgebühren auf das Achtfache des ursprünglichen Preises. Nachdem aber Protestplakate an den Hausfassaden und das Einlegen von Widerspruch bei der Regierung von Niederbayern keinerlei Wirkung gezeigt haben, wagte nun ein Hausbesitzer eine letzte, ungewöhnliche Form des Protests: Kurzerhand ließ er dafür die gesamte von der Straße aus sichtbare Fassadenbegrünung an seinem Haus entfernen, um nochmals ein Zeichen gegen die hohen Gebühren zu setzen. Das Onlinemagazin da Hogn hat die Protestaktion begleitet.

Vor der Protestaktion (oben) war die Süd-Fassade des Hauses von Kurt Seul am Passauer Innkai noch mit Grün bedeckt, hinterher (unten) wirkt sie kahl und nackt.

Am Morgen des 25. Aprils steht Kurt Seul vor seinem Haus in der Zinngießergasse in der Altstadt von Passau. Der zweigeschossige, gelb gestrichene Altbau liegt direkt am bei Einheimischen sowie bei Touristen beliebten Innkai und ist an seinen Außenwänden mit wildem Wein bewachsen. Über die Mauer der kleinen, seitlich angegliederten Terrasse hängt ein großer Strauch Feuerdorn herab in Richtung Gehweg, der laut Seul im Sommer oft von Passanten als Fotomotiv genutzt wird.

972 Euro Reinigungskosten im Jahr möglich

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Seit sie das Haus vor 30 Jahren gekauft hatten, haben sich der einstige Gymnasiallehrer und seine Ehefrau Margarete zusammen liebevoll um die am Haus wachsenden Pflanzen gekümmert. Doch das wird sich bald ändern. Gegen 8 Uhr morgens rollt unter Warnlicht-Einsatz ein großes Kranfahrzeug mit Hebebühne an, mit dessen Hilfe die Pflanzen an Seuls Haus von einer eigens dafür beauftragten Spezialfirma entfernt werden sollen.

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Kurt Seul steht während der Arbeiten vor seinem Haus und beobachtet gespannt, wie seine Fassade immer kahler wird.

Der 80-jährige lässt die Begrünung am Gebäude aber nicht aus dem Grunde wegmachen, weil sie ihm nicht mehr gefällt. Ganz im Gegenteil. „Der Feuerdorn ist ganz prächtig, der blüht blendend weiß und später im Jahr trägt er ganz rote Beeren, das ist wirklich traumhaft schön“, erklärt er vor Beginn der Arbeiten hierzu noch einmal kurz. Tatsächlich handelt es sich bei der nun folgenden Entfernung der Pflanzen um eine schon seit Längerem geplante Protestaktion des Hausbesitzers. Doch: Wogegen protestiert er damit eigentlich?

Der Kern des Problems liegt in einem Entschluss der Stadt Passau aus dem Jahr 2021 begründet, durch den sich die Kosten der Straßenreinigung am Innkai für die Anwohner erheblich erhöht hatten. Nach der damit verbundenen Umgruppierung der Straße aus der Reinigungsklasse zwei in die höchstmögliche Klasse vier verachtfachten sich quasi über Nacht die Gebühren: Im Fall von Kurt Seul von 84 auf damals 712 Euro pro Jahr.

Aufgrund einer weiteren allgemeinen Erhöhung der Gebühren für alle Passauer sollen die Anwohner am Innkai bald sogar noch einmal mehr bezahlen – nämlich das knapp neuneinhalbfache des ursprünglichen Preises. Bisher ist diese Erhöhung vom Stadtrat allerdings noch nicht final beschlossen worden. Kurt Seul käme dann auf 972 Euro pro Jahr.

Immer wieder versuchten die Anwohner sich gegen diese Erhöhungen zu wehren: Sie legten Widerspruch bei der Regierung von Niederbayern ein, hängten Protestplakate an ihren Fassaden auf und schafften es mit ihrem kuriosen Fall sogar bis in die Satiresendung „extra 3“ des Norddeutschen Rundfunks und in das Magazin „quer“ des Bayerischen Rundfunks.

„Wir zahlen für eine Dienstleistung, die nicht erbracht wird“

Dass der Innkai vor der Gebührenerhöhung im Jahr 2021 tatsächlich dreckiger geworden sei, können die Anwohner nicht bestätigen. Auch die durch die Reinigungsklasse vier eigentlich vorgesehene tägliche Reinigung der Straße erfolgt laut ausführlichen Beobachtungen der Anwohner nicht. Ihnen zufolge werde der Innkai durch den städtischen Bauhof lediglich zweimal pro Woche gereinigt – nämlich montags und donnerstags. Kurt Seul fast es prägnant so zusammen: „Wir zahlen für eine Dienstleistung, die nicht erbracht wird, die wir aber gleichzeitig nicht einfordern können.“

Schon seit Jahren hängen für Spaziergänger gut sichtbare Protestplakate wie dieses an mehreren Hausfassaden am Passauer Innkai – so auch am Haus von Kurt Seul.

Ein weiterer Punkt, der ihn neben den allgemein hohen Gebühren und der nicht erbrachten Reinigungsleistung durch den städtischen Bauhof stört, ist folgender: Er findet es nämlich ebenfalls ungerecht, wem die Stadt die Schuld an der vermeintlich größer gewordenen Verschmutzung des Innkais gibt. Das seien einerseits die Anwohner selbst, die durch ihre Bäume, Sträucher und Pflanzen zur Verschmutzung des Gehweges beitragen würden. Und andererseits die zahlreichen jüngeren Einwohner Passaus, für die der Innkai ein beliebter Treffpunkt ist.

Der 80-Jährige hat von seinem Wohnzimmerfenster und von seiner Terrasse aus einen guten Überblick und schätzt daher letztgenannte Behauptung aus eigener Beobachtung resultierend völlig anders ein: „Wenn die Jugendlichen hier sitzen und ein bisschen feiern, räumen die danach immer alles weg und werfen ihren Abfall in den Mülleimer. Ich bewundere das wirklich. Etwas Anderes zu behaupten ist nichts weniger als Verleumdung.“

„Vielleicht das, was man als Altersstarrsinn bezeichnet“

Wie schön das Haus vor der Protestaktion aussah, sieht man auch auf Seuls kleiner Erinnerungstafel, die er in seinem Hauseingang aufgestellt hat.

Doch warum greift der Hauseigentümer nun ausgerechnet zur Heckenschere, um seinen Protest gegen die Erhöhung der Straßenreinigungsgebühren fortzuführen? Dahinter steckt eine strategische Überlegung: „Der Grund ist, dass es von Seiten der Stadt, Politik und Öffentlichkeit keinerlei Würdigung dafür gibt, dass wir hier versuchen, die Stadt attraktiv und umweltfreundlich zu gestalten. Wir bekommen von außen keinerlei Unterstützung, obwohl niemand die Gebührenerhöhung für die Straßenreinigung nachvollziehen kann.“

Und genau deswegen wolle er nun auch nichts mehr zur Attraktivität der Stadt beitragen. Das Problem liegt Seul zufolge also auch darin, dass zwar die gesamte Touristenstadt Passau sowie all ihre Bewohnerinnen und Bewohner von seiner begrünten Fassade profitieren würden, im Gegenzug aber nur er und seine Nachbarn am Innkai die hohen Kosten für die Straßenreinigung bezahlen müssen. Die Tatsache, dass er sich deshalb nun als einziger Anwohner dazu entschieden hat, seine Hausfront als letztes Mittel des Protests gegen die hohen Gebühren bewusst unansehnlicher zu gestalten, begründet er wie folgt: „Bei den meisten meiner Nachbarn ist der Geduldsfaden schon längst gerissen – aber ich bin da etwas hartnäckiger…“

Daran, dass seine Protestaktion tatsächlich etwas verändern wird, glaubt er selbst nicht. Und dennoch hält er an seiner Idee fest. Dabei nimmt er auch in Kauf, dass er mit den entstehenden Kosten für die Entfernung der Pflanzen die Höhe der Straßenreinigungsgebühren für ein ganzes Jahr lang bezahlen könnte. „Mir geht es ums Prinzip“, erklärt er und fügt mit einem schelmischen Lächeln hinzu: „Aber vielleicht ist das auch schon das, was man gemeinhin als Altersstarrsinn bezeichnet.“

Überzeugt ist er davon, dass am Innkai in Zukunft etwas fehlen wird, wenn die Pflanzen sein Haus nicht mehr verschönern. Er will ein Beispiel nennen und erzählt von den zahlreichen geführten Touristengruppen, die oft mehrmals täglich an seinem Haus vorbeikommen: „Wenn die ganzen Touristen hier durchgehen, staunen sie erst über die Gasse und dann über den Bewuchs darüber. Sie bleiben oft vor unserer Haustür stehen und sagen Dinge wie ‚Ist das nicht idyllisch!‘ oder ‚Ist das nicht romantisch!‘ Also die Touristen werden das in Zukunft sicher merken.“

„Im Herzen wird es ihm leidtun“

Während Kurt Seul von den Hintergründen seiner Protestaktion berichtet, beginnen die drei Männer der von ihm beauftragten Firma mit den Tätigkeiten am Haus. Die Hebebühne wird ausgefahren, kurze Zeit später fallen auch schon die ersten Stücke der Wildweinreben auf den darunterliegenden Innkai. Hinter dem Kranfahrzeug steht trotz des regnerischen Wetters eine kleine Gruppe von Touristen, die das Spektakel beobachten.

Vorher und nachher: Terrasse und Erker sind von den Mitarbeitern einer Spezialfirma vom Bewuchs befreit worden.

Deren Fremdenführerin, die vermutlich gerade über etwas ganz anderes spricht, schenken viele der Anwesenden wenig Aufmerksamkeit. Stattdessen zücken manche sogar das Handy und filmen die Arbeiten mit. Währenddessen beobachtet auch der Protestinitiator das Geschehen gespannt. Auf die Frage hin, ob es ihm nicht in der Seele wehtue, zu sehen, wie die Pflanzen nun nach und nach von der Fassade verschwinden, erwidert er beinah stoisch: „Das ist für mich überhaupt kein Problem. Ich bin darauf seit einem Jahr innerlich vorbereitet und das Haus wirkt auch ohne Grün wunderschön.“

Ob er seine Entscheidung wirklich nicht bereuen wird, stellt Rudolf Garbusjuk hingegen in Frage. Er kommt zufällig an Seuls Haus im Rahmen seines Morgenspaziergangs vorbei. Der 72-Jährige stellt sich als guter Bekannter von Familie Seul vor und ist selbst in der Passauer Altstadt groß geworden. „Es verfolgt ihn schon jahrelang, er hadert da wirklich mit sich“, ordnet Garbusjuk Seuls Situation ein, als dieser sich gerade im Haus befindet.

Garbusjuk wusste schon länger von dem Plan, die Pflanzen von der Fassade entfernen zu lassen – und hat Seul immer wieder davon abgeraten. „Im Herzen wird es ihm leidtun. Ich glaube, dass er das Kapitel damit jetzt abschließen möchte, aber am Ende wird es ihn wurmen“, mutmaßt der Passant. In Bezug auf die neue Optik der Hausfassade und die Atmosphäre am Innkai ist er sich sicher, dass viele Leute das Gefühl haben werden, dass dort nun etwas fehlen wird.

„… als hätte mein Haus eine Hautkrankheit“

Ein Eindruck, den wenig später auch Charlotte Grupp, eine Nachbarin von Kurt Seul, bestätigt. Auch sie kommt zufällig an der nun immer kahler werdenden Fassade vorbei und geht direkt auf den 80-Jährigen zu, der mittlerweile wieder aus seinem Haus zurückgekehrt ist. Ungläubig fragt sie ihn: „Schneiden Sie das jetzt wirklich weg?“ Als dieser mit einem kurzen, ruhigen „Ja“ antwortet, äußert die Frau nur ein ungläubiges, traurig klingendes „Nein…“.

Vorher und nachher: Fassade und Erker und sind vom wilden Wein befreit worden.

Sie erklärt daraufhin, dass sie im Nachbarhaus aufgewachsen sei und Seuls Fassade seit ihrer Kindheit nur mit Bewuchs gekannt habe. Entsprechend unschön erscheine ihr nun die nackte Hauswand. Gar „grausam“ sei diese nun anzusehen. „Es hat hier immer so wahnsinnig schön ausgesehen – und jetzt ist alles weg. Das ist schon tragisch.“ Gleichzeitig hat Grupp für Seuls Protestaktion auf gewisse Weise Verständnis, schließlich ist auch das Haus, in dem sie lebt von den hohen Straßenreinigungsgebühren betroffen. „Ich muss jedoch sagen, dass ich die Radikallösung nicht nachvollziehen kann“, fügt sie hinzu und verabschiedet sich.

Nach knapp zwei Stunden sind die Arbeiten am Haus abgeschlossen. Sowohl die Wildweinreben an der Fassade als auch der Feuerdorn, der über die Terrassenmauer nach unten zum Innkai wuchs, sind nun Geschichte. Nur die Pflanzen auf der vom Innkai aus nicht sichtbaren Terrasse, die Kurt Seul als „Oase“ für sich und seine Frau bezeichnet, sind nach der Protestaktion noch übrig.

Als er vor seinem Haus steht und die Fassade betrachtet, kommentiert er die neue Optik seines Zuhauses mit schwarzem Humor: „Jetzt sieht es ein bisschen so aus, als hätte mein Haus eine Hautkrankheit.“ Er betont daraufhin erneut, dass es ihm mit seiner Entscheidung nach wie vor gut gehe und er sie nicht bereuen würde: „Wie gesagt, ich habe mir das alles im Voraus sehr gut überlegt. Außerdem kommt jetzt auch mal der Erker schön zur Geltung.“

Pflanzen-Comeback nicht endgültig ausgeschlossen

Sogleich nimmt er den Besen in die Hand und beginnt, kleinere Überbleibsel vom Gehweg zu entfernen. Sorgfältig kehrt er sie zu den großen Haufen aus Weinreben und Feuerdorn, die nun entlang des Innkais liegen und erst später von der beauftragten Spezialfirma abgeholt werden.

In Erinnerung an die Protestaktion und die vorherige Gestalt des Hauses hatte Kurt Seul bereits im Vorfeld einen Grafikdesigner engagiert, der in Form eines Banners ein kleines „Denkmal“ mit alten Fotos des Hauses entwerfen soll. Dieses will er für alle sichtbar an seine Terrassenmauer hängen, um damit künftig Aufmerksamkeit bei Passanten zu erwecken.

Dass die Fassade eines Tages nicht doch wieder einmal mit wildem Wein bedeckt sein wird, will der 80-Jährige grundsätzlich nicht ausschließen – und gibt abschließend zu bedenken: „Sind wir mal ehrlich: Die Pflanzen wachsen ja auch schnell wieder nach…“

Florian Fink


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