Passau. „Ich bin mit dem Bildungsideal des 19. Jahrhunderts aufgewachsen“, sagt Christian Zeitler lachend auf die Frage nach seiner Kindheit. 1960 ist er geboren, als ältestes von drei Kindern. Sein Vater – Altphilologe am Landshuter Carossa-Gymnasium – war gleichermaßen autoritär und charismatisch. Die zehn Jahre jüngere Mutter sanftmütig und tröstend. Der Großvater väterlicherseits, der ein Jahr vor Zeitlers Geburt verstorben ist, war ein überregional bekannter Kunstschmied aus Eggenfelden. Die fantastischen Geschichten aus seinem Leben und seine Zeichnungen im Haus der Großmutter begleiteten Zeitlers Kindheit und weckten seine Faszination an der bildenden Kunst.

Bildhauer, Zeichner, Performance-Artist und eine charismatische Persönlichkeit – der in Passau lebende Künstler Christian Zeitler. Foto: Matthias Balk
Und dann gab es da noch die Schwarz-Weiß-Abbildungen von antiken Skulpturen im Griechisch-Schulbuch, die ihn fesselten. Er erkannte, dass sie eine Kraft haben, die deutlich nach außen wirkt. So stand schon mit 15 Jahren sein Entschluss fest, Bildhauer zu werden. Er wollte dreidimensional arbeiten und versuchen, in seine Kunstwerke einen ganz eigenen Ausdruck zu bringen.
Ein wichtiges Vorbild: Franz Wotruba
Lange Haare, zerrissene Jeans, Deep Purple … die 68er-Bewegung kam in Niederbayern erst Mitte der Siebziger an. Für Christian Zeitler (64) aber genau richtig, um sich aus seinem gutbürgerlichen Elternhaus zu lösen. Der Vater hätte ihn gerne als Kunstlehrer gesehen. Aber nach zwei Semestern Philosophie-Studium in München war es seine Großmutter, die ihm einen Bildhauer vorstellte. Bei diesem absolvierte er seine Lehre als Steinbildhauer. Zudem wurde er ihm zum väterlichen Freund.
Sein erster Auftrag, nachdem Zeitler sich im Vilstal selbständig gemacht hatte, war ein Grabstein. Bei der Skulptur für einen privaten Auftraggeber, die folgte, verabschiedete er sich bereits vom figürlichen Arbeiten. Handwerklich reizte es ihn zwar einerseits, andererseits aber fand er es aussichtslos, auf diese Weise einen Weg zu finden, etwas Neues zu schaffen.

rendición, Granit und Stahl. Der sterbende Stier steht an der Außenstelle des Landratsamts Passau in Salzweg.
Ein wichtiges Vorbild auf dem Weg zum abstrakten Arbeiten war für Zeitler schließlich der bedeutende österreichische Bildhauer Franz Wotruba, der mit klassisch-figürlichen Arbeiten begann und im Laufe seiner Beschäftigung mit der internationalen Kunstszene immer mehr einen ganz individuellen Stil der Abstraktion für sich fand.
Dabei betont Zeitler, wie wichtig es beim abstrakten Schaffen ist, die Regeln des figürlichen Arbeitens zu beherrschen: „Gerade das Wissen und das Gefühl für Anatomie und Proportionen ist unerlässlich; sonst werden die Werke beliebig – und das ist das Schlimmste, was einem Bildhauer passieren kann“.
„Granit kein totes Material“
Beton, Kalkstein, Marmor, Metall – bisweilen sogar Holz, Kohle oder Teer: Zeitler ist neugierig darauf, wie sich die unterschiedlichen Materialien zu seinen Formen verhalten. Am intensivsten aber ist seine Beziehung zum Granit. „Der Granit ist kein totes Material. Darin sind Jahrmillionen Leben in extrem verdichteter Form. Sobald man einen Schlag macht, macht sich eine eigene Welt auf. Potenzierte Energie wird frei.“

einsames altes paar, Hintertiessener Granit, 420 x 135 x 100 cm (nach einem Gedicht von Ernst Jandl, aus: „die Bearbeitung der Mütze“). Die Skulptur steht in Ortenburg, Ortsteil Afham.
Zeitler fasziniert die dreidimensionale Oberfläche im Innenleben des Steins. Wie kleine Pyramiden sieht die Struktur unter dem Mikroskop aus. Schneidet man mit der Flex in den Stein, zerstört man ihn in seiner Besonderheit und nimmt ihm die innere Kraft. „Die energetische Arbeit mit dem Stein, die immer eine geistige Arbeit ist, geht nur mit Hammer und Meißel. Und natürlich gibt es Pläne, Skizzen und Maßstabszeichnungen, aber man muss immer berücksichtigen, dass der Stein mitredet. Das Material ist hart, aber man braucht für die Bearbeitung eine sehr hohe Sensibilität. Damit ist auch die Verletzlichkeit des Künstlers groß.“
… als würde sich der Stein bewegen
Abstraktion ist in Zeitlers Werk kein Gegensatz zum Anthropomorph-Sinnlichen. Häufig nimmt das Auge den bearbeiteten Stein als weich und anschmiegsam wahr. Und immer wieder scheint Bewegung in seinen Objekten zu sein. Besonders evident wird dies in der Werkreihe „paarung“. Nur scheinbar ist die Anordnung von zwei gegenläufigen Figuren, die eigenständig und gleichzeitig eine Einheit sind, symmetrisch. Hier gelingt es dem Künstler immer wieder, in die Form so viel Spannung zu bringen, dass der Betrachter unwillkürlich Bewegung assoziiert.
Der intensive Wunsch, die naturgegebene Statik seiner skulpturalen Welt zu überwinden, kanalisiert sich bei Christian Zeitler in seinen performativen Arbeiten. Er fühlt sich dem Theater und darstellenden Künstlerinnen und Künstlern sehr nahe, veranstaltet immer wieder Happenings und Performances, die häufig auch eine Reminiszenz an das alte Griechenland als Wiege des europäischen Theaters sind. Dabei spielt Zeitlers intensive Beschäftigung mit moderner Musik eine wichtige Rolle: Hans Werner Henze, Karlheinz Stockhausen und immer wieder John Cage – daraus zieht der Bildhauer, der gerne auch Komponist geworden wäre, seine Kraft.
„Leben vollendet sich erst im Kampf, im Tod“
So sehr der Stein Zeitler anzieht, gibt es doch immer auch eine große Demut vor dem Material und eine gewisse Hemmung, mit der Bearbeitung zu beginnen. Die ideale Form der Bildhauerei, wo Kunst nicht nach einem Plan entsteht, sondern in Kommunikation mit dem Stein, wo Kräfte wirken, die Zeitler einfach nur zulassen muss, sind selten und wertvoll.

Einfühlsam und schrittweise nähert sich Zeitler bei seiner Grabmal-Kunst der Lebensgeschichte der Verstorbenen.
Erlebt hat er es bei der Entstehung der über vier Meter großen Figur „einsames altes paar„, die angeregt wurde von einem Gedicht seines Freundes Ernst Jandl. Auch der sterbende Stier, der vor der Zweigstelle des Landratsamtes Passau in Salzweg eine Symbiose mit der Architektur eingeht, ist eines der Werke, das Zeitler sehr nahe ist. Der spanische Titel „rendición“ kommt aus dem Stierkampf. Es ist der Moment, in dem der Stier endgültig zu Boden geht: „Wenn man sich als bildhauerisches Thema auf ein Tier einlässt, ist es immer aufgeladen von großem Symbolgehalt. Hier wird ein unglaublicher Überlebenskampf spürbar. Das Leben vollendet sich erst im Kampf, im Tod.“
Als Gerichtszeichner im Einsatz
Die Kunstform, die Zeitler immer offensteht, ist das Zeichnen. Bei Jazzkonzerten, im Theater, blind in der Dunkelheit – und sogar als Gerichtszeichner. „Zeichnen ist wie Forschungsarbeit an der Gedankenwelt und in meinen Augen eine genauso ursprüngliche Kulturtechnik wie Sprache. In der Zeichnung werden Ideen und Gedanken Wirklichkeit.“
Christian Zeitler hat immer wieder wichtige Preise und Ausschreibungen gewonnen. Zahlreiche seiner Werke sind im öffentlichen Raum zu erleben. Seit vielen Jahren setzt er sich für einen künstlerischen Austausch mit tschechischen Künstlern ein, den er immer als einen absoluten Gewinn empfindet. Es ist ihm wichtig, sich solidarisch mit anderen Künstlern zu verhalten und für Bedingungen zu kämpfen, die Kunst möglich machen. So ist er Vorstandmitglied des Paul Klinger Sozialwerks in München, bringt sich in der Innviertler Künstlergilde ein und ist zweiter Vorsitzender des BBK Bayern e.V..
Werke von Christian Zeitler (Fotos: Dionys Asenkerschbaumer)
Zu Zeitlers Definition von Künstlerdasein gehört die Zeitbezogenheit, das Interesse für gesellschaftliche und politische Phänomene – all das fließt in seine Werke mit ein. Wenn Menschen zu ihm sagen, er hätte ja alle Freiheit, wird er ernst. Für ihn ist das Dasein als Künstler kein Akt der Selbstfindung oder der inneren Freiheit – sondern ein innerer Zwang. „Mich interessiert immer das Wesentliche. Mehr und mehr Schwierigkeiten habe ich mit der Oberflächlichkeit im Miteinander der Menschen; als Mensch muss man doch am Wesentlichen interessiert sein und nicht nur am Glanz außen rum.“
Deshalb hat er bei einer seiner letzten Ausstellungen einfach einen bemoosten Stein auf einer Stele ausgestellt. Nicht poliert, nicht museumstauglich – aber bis in die Tiefe ehrlich.
Regina Kremsreiter