Chudenice. Im amerikanischen Garten bei Chudenice, einer kleinen tschechischen Marktgemeinde zwischen Domažlice und Klatovy, wachsen Baumriesen in den Himmel. Die Gewöhnliche Douglasie, die 1843 hier gepflanzt wurde, hat ihre Spitze verloren, ist aber immer noch fast 35 Meter hoch. Der Umfang des Stammes beträgt 572 Zentimeter, der Umfang der Krone 68 Meter.
Dieser Gigant ist einer der ältesten seiner Art in Europa, wenn nicht gar der älteste. Normal große Menschen, die unter dem mächtigsten Baum im amerikanischen Garten stehen, wirken wie Zwerge. Eine Besonderheit reiht sich dort an die andere: Der Tulpenbaum, der einzige seiner Art in Europa, der Maiglöckchenbaum und der Blumenhartriegel – drei herausragende Beispiele von insgesamt 571 Laub- und Nadelbäumen europäischen, asiatischen und vor allem nordamerikanischen Ursprungs.
Dendrologische Kuriositäten und exotische Bäume
Dieses Arboretum hat Graf Eugen Carl Czernin 1828 als Baumschule gegründet, um immer genug Pflanzen für den Park um sein Sommerschloss Zámek Lázeň zu haben, zu dem er das frühere Badehaus umbauen ließ. Nur eine kurze Wegstrecke vom Familiensitz entfernt, dem alten Schloss in Chudenice, wollte er sein Faible für die Botanik ausleben. Dendrologische Kuriositäten und exotische Bäume interessierten ihn besonders, und deshalb wurden vor allem amerikanische Gehölze eingeführt.
Eugen Carl Czernin wollte in Chudenice die artenreichste Baumschule in Böhmen schaffen. Sie bildete die Grundlage für das Arboretum, das seit 1844 Amerikanischer Garten heißt: Americká zahrada steht denn auch zwischen Zámek Lázeň und Rozhledna Bolfánek auf dem mittleren Hinweisschild. Sommerschloss, Garten und Aussichtsturm – alle drei sehr sehenswert. Aber die eigentliche Geschichte beginnt im alten Schloss Chudenice.
Kommunistische Zweckentfremdung
Von den Mauern des historischen Bauwerks bröckelt der Putz, doch die Innenräume wurden ab dem Jahr 2000 nach und nach restauriert. Damals verschwand, wodurch das Schloss in der kommunistischen Zeit zweckentfremdet worden war: ein Kino, eine öffentliche Bibliothek, mehrere Wohnungen, der Club des Vereins Sozialistischer Jugend und der Club des Tschechischen Roten Kreuzes.
Soldaten hatten die Möbel an andere Standorte in der damaligen Tschechoslowakei gebracht, berichten Kastellan Ludvik Pouza und seine Stellvertreterin Maria Barbora Lodek. Es gab aber ein ausführliches Inventar, sodass nach der Samtenen Revolution alle Einrichtungsgegenstände zurückgeholt werden konnten. „Das Schloss sieht jetzt aus wie früher. Im Erdgeschoss ist ein regionales Museum eingerichtet und es finden regelmäßige Führungen durch die Räume statt“, sagt Ludvik Pouza.
Auch Graf Eugen Carl Czernin wurde vertrieben
1945 traf das Los der Vertreibung aufgrund der Beneš-Dekrete auch Graf Eugen III. und seine Frau Prinzessin Josephina Schwarzenberg. Die letzte Adelsfamilie in Chudenice ging in die Nähe von Wien. Das alte Schloss befindet sich seitdem im Besitz der Marktgemeinde. Der kleine Ort abseits der großen Straßen, ohne Zuganbindung, verdankt den Czernins viel. Sogar Orts- und Familiennamen sollen hier ihren gemeinsamen Ursprung haben, erzählt eine Legende, die Maria Barbora Lodek kennt.
Vor über tausend Jahren sei ein böhmischer Adeliger mit dem König im Streit gelegen. Dieser habe aus Wut über den aufmüpfigen Untertan Soldaten zu der Festung geschickt mit dem Befehl, alle Familienmitglieder zu töten. Nur die Kinderfrau, die sich mit dem jüngsten Buben auf dem gemauerten Vorsprung des Kamins in der schwarzen Küche versteckt hatte, überlebte mit ihrem Schützling.
„Chudenec – armer Mann“
Nach dem Überfall kamen die Bewohner aus dem Dorf, um nachzuschauen. „Chudenec – armer Mann“ sei ihre erste Reaktion gewesen. Der Sage nach entstand aus diesem „Chudenec“ der Ortsname Chudenice. Das Kind, das von Ruß und Asche verdreckt war, nannten die Leute „Cerny“, der Schwarze. Der Familienname Černin, später Czernin, war geboren.
Die Czernins waren ein einflussreiches Adelsgeschlecht. Ihre Wurzeln in Chudenice reichen bis ins 13. Jahrhundert zurück, als sie hier eine gotische Festung errichten ließen. Diese baute Humprecht Czernin, der unter anderem auch Verwalter der Burg in Prag war, in ein Renaissanceschloss um. Er hatte großen politischen Einfluss auf Kaiser Rudolf II. und erreichte, dass dieser Chudenice zur Stadt mit Wappen und Marktrecht erhob.
„Einzigartig in Mitteleuropa“
„700 Jahre lang hatte die Familie Czernin ihren Sitz ununterbrochen in unserem Ort. Das ist einzigartig in Mitteleuropa“, berichtet Schlosskastellan Ludvik Pouza voller Stolz. Auch Karl Eugen Czernin, der Enkel des letzten Besitzers, lege großen Wert auf Tradition. 2008 habe er alle Mitglieder der Familie ins alte Schloss eingeladen. 135 seien gekommen, um sich an ihre Wiege zu erinnern.
Karl Eugen Czernin verbringt auch immer Zeit im Sommerschloss Zámek Lazeň, das er zurückbekommen und renoviert hat. Nach der Enteignung der Czernins 1945 wurde es ab den 1950er Jahren als Erholungszentrum für die Mitarbeiter der Brauerei Pilsner Urquell genutzt. „Wenn Karl Eugen Czernin im Sommerschloss ist, kommt er immer vorbei. Er hat Noblesse und Charisma“, erzählt Maria Barbora Lodek, die auch gleich eine Leidenschaft der Czernins verrät:
„Sie lieben gute Schokolade und sie haben die Trinkschokolade erst nach Wien, dann nach Chudenice und dann nach Prag gebracht. In unserem kleinen Dorf wurde die Schokolade hundert Jahre früher getrunken als in der Hauptstadt“, lächelt die stellvertretende Schlossverwalterin und öffnet eine Schachtel mit bunten Fotos auf den Außenseiten.
Das Engelszimmer und die Geschichte dahinter…
Sie zeigen das alte Schloss und die Johannes-Täufer-Kirche als ältestes Baudenkmal in Chudenice, das Sommerschloss und den Aussichtsturm Bolfánek. Die Schokoladenstücke aus dem Karton schmecken ein bisschen bitter, weshalb es dazu ein winziges Glas süßen Met gibt. Hinweise auf die 0,0 Promille-Grenze in Tschechien lässt Maria Barbora Lodek nicht gelten. „Sie müssen diese geniale Geschmacksverbindung spüren“, lässt sie nicht locker. Und sie hat Recht. Es schmeckt wunderbar!
Auf dem Weg durch das Schloss erzählt die stellvertretende Verwalterin viele spannende Geschichten. Eine davon spielt im Engelszimmer, einem der schönsten Räume im Schloss: Auf dem Deckengewölbe ist ein Engel zu sehen. Ein solcher soll 1601 Graf Humprecht im Schlaf erschienen sein und ihm die folgende Botschaft überbracht haben: Er werde in drei Tagen sterben.
Als Diplomaten unterwegs
Wenn er reinen Gewissens vor den Herrn treten wolle, solle er zusammen mit seiner Familie eine Wallfahrt zur nahen Wolfgangskirche machen, die Sakramente empfangen und sein Eigentum an seine Kinder verteilen. Humprecht folgte der Anweisung und er war tatsächlich am dritten Tag tot, obwohl es keine Anzeichen einer Krankheit gab, wird berichtet. Seine Kinder ließen den Engel auf die Decke malen und seitdem heißt dieser Raum das Engelszimmer.
Die Czernins waren immer als Diplomaten unterwegs. Daran erinnert das Marconiphone, ein Geschenk der britischen Königin Elisabeth II. Auf dieser Musiktruhe, einem Vorgänger der Jukbox, konnten zehn Platten hintereinander abgespielt werden. Weltweit gibt es nur noch drei Exemplare: Zwei stehen im Buckingham Palace in London, eines im alten Schloss in Chudenice.
Chudenice und seine bekannten Söhne
Einen großen Namen in der Familiengeschichte hat Jan Humprecht, der von 1628 bis 1682 lebte und mit dem Bau des Czernin-Palais beim Hradschin in Prag begonnen hat, heute der Sitz des tschechischen Außenministeriums. Er war Botschafter in Venedig, leidenschaftlicher Sammler und Begründer der Czerninschen Gemäldegalerie. Seine Grabstätte befindet sich im Veitsdom in Prag.
Berühmte Leute stammen aus Chudenice oder lebten hier: Eine Dauerausstellung erinnert an Josef Dobrovský, der die tschechische Grammatik geschrieben, Sagen und Geschichten des böhmischen Volkes zusammengetragen hat, schildern Ludvic Pouza und Maria Barbora Lodek die Verdienste des „blauen Abbé“. Diesen Spitznamen hatte der Historiker und Sprachwissenschaftler von seiner zwetschgenblauen Ledertasche und seinem blauen Mantel. Der Jesuitenpater lebte von 1753 bis 1829; elf Jahre unterrichtete er als Hauslehrer die Kinder der gräflichen Familie. Er habe die Natur geliebt und damals schon Bäume umarmt.
Nationale Natursehenswürdigkeit
Im Schloss wurde am 25. September 1868 der Dichter Jaroslav Kvapil geboren, erst Dramaturg am Nationaltheater Prag, dann Hauptregisseur und später Leiter des Schauspielhauses. Sein Vater war Hausarzt bei den Čzernins. Jaroslav Kvapil hat das Libretto für Rusalka geschrieben, die erfolgreichste Oper des Komponisten Antonín Dvořak. Die Idee dafür habe er an seinem Lieblingsplatz bekommen, zwei kleinen Seen in der Nähe des amerikanischen Gartens, erzählt Ludvic Pouza.
Das Arboretum auf einer Fläche von 1,6 Hektar gilt inzwischen als nationale Natursehenswürdigkeit. „Ich habe Ehrfurcht vor diesen Baumriesen und kann nur immer wieder staunen“, sagt Stefan Ege, Stadtgärtner im nahen Furth im Wald. Er bietet Führungen durch den amerikanischen Garten an und freut sich über das Staunen der Menschen, denen er die Bäume und ihre Herkunft erklärt. Mit seiner frühen Initiative Anfang des 19. Jahrhunderts habe Graf Eugen Czernin eine Besonderheit geschaffen. „Solche 150 bis 180 Jahre alten Giganten zu erleben, ist einmalig“, betont Stefan Ege.
Heidi Wolf
(Erstveröffentlichung in: Schöner Bayerischer Wald)