Finsterau. Werner Ratzesberger aus Finsterau im Landkreis Freyung-Grafenau pendelt gerne zwischen den Welten. Auf der einen Seite seine Heimat, der Bayerischer Wald. Auf der anderen Seite der Šumava, der Böhmerwald. Dazwischen liegt die „unsichtbare Grenze“ zwischen Bayern und Tschechien, die rein äußerlich aufgrund der beiden zusammenhängenden Nationalpark-Waldgebiete nicht zu erkennen ist.

In seinem „natürlichen Habitat“, dem Bayerischen Wald und dem Böhmerwald, fühlt sich Waidler Werner Ratzesberger am wohlsten. Fotos: privat
Im ersten Teil des Interviews, das wir gemeinsam mit den Kollegen unseres tschechischen Partnerblogs sumava.eu mit ihm geführt haben, hat uns der 60-Jährige von seinem Leben an der Grenze berichtet und mit uns auf die schneereichen Winter im Woid zurückgeblickt. Im zweiten Teil erzählt Werner Ratzesberger unter anderem davon, welche kulturellen Unterschiede er zwischen Tschechen und Bayern ausmachen kann, welche Veränderungen er in der Naturlandschaft im Laufe der Jahre festgestellt hat – und warum ihm im Herbst der stürmische Westwind am liebsten ist…
„Sicher bin ich sehr heimatverbunden“
Werner: Du bist ein lebender Botschafter für das mittlerweile recht bekannte Šumava-Motto “Da Woid mocht di xund” (Šumava uzdravuje), stimmt das?
Ich bin jetzt 60 Jahre alt und habe noch keine grauen Haare (lacht). Aber sonst hab‘ ich auch schon so manches kleine Wehwehchen… Und es stimmt mit Sicherheit: Wenn man viel im Woid unterwegs ist, kann man Gesundheit für Körper und Seele erreichen.
Was waren Deine schönsten Erlebnisse im Böhmerwald in den vergangenen Jahren?
2014 überholte mich am Berg der Moldau-Quelle zum Stráž ein Radfahrer mit Schlappen an den Füßen. Damals war ich noch mit dem Bio-Bike, also einem Fahrrad ohne E-Motor, unterwegs. Das wollte ich mir freilich nicht gefallen lassen – und ich verfolgte ihn. Leider sah ich ihn nur kurze Zeit – und schon war er verschwunden. Als ich auf der Terrasse vom Alpská Vyhlídka ankam, saß der Radfahrer bei der Belegschaft des Hotels und winkte mir zu. Heute weiß ich, dass es Dr. Marek Matoušek war, der Zahnarzt aus Winterberg, der inzwischen ein guter Freund von mir geworden ist. Die vielen Erlebnisse hier zu erzählen, würde den Rahmen sprengen, aber ich habe schon viele schöne Stunden im Böhmerwald verbracht.
Eine ältere Dame aus Finsterau, die sich mit 87 Jahren immer noch alleine selbst versorgt, hat kein Handy und kein Internet. Da sie neben dem Friedhof wohnt, erfährt sie durch die Friedhofbesucher viele Neuigkeiten, die in der Gemeinde Mauth-Finsterau passieren. Sie sagt: Ihr Zuhause ist Finsterau – und das soll auch so bleiben. Sie mag schon gar nicht nach Mauth. Bist du auch so heimatverbunden?
Sicher bin ich sehr heimatverbunden, sonst hätte ich wahrscheinlich nicht 38 Jahre die Strapazen mit dem langen Arbeitsweg nach Dingolfing in Kauf genommen. Ich hätte mir jedenfalls nicht vorstellen können, in einer Stadt zu leben. Da Woid hat doch was Magisches an sich.
„Sie haben einfach abgeschaltet in der Natur“
Was macht den Woid und seine Menschen für Dich aus? Warum bist Du gerne Waidler?
Ich fühle mich wohl in diesem dünn besiedelten Gebiet, mit seiner unberührten Natur, den Nationalparken, weit weg vom Großstadtrummel. Die Menschen sind offen, gastfreundlich und man kann sich auf sie verlassen. Es gibt wunderbare Traditionen und Wirtshäuser. Der Zusammenhalt ist auch in der heutigen Zeit noch groß. Darum bin ich gerne Waidler.
Wie hat Dich die tschechische Kultur bis hierhin beeinflusst? Was magst Du an der tschechischen Küche?
Bei meinen ersten Radtouren sah ich immer wieder Tschechen, die in einer Wiese oder neben einem Bach gelegen sind. Ich dachte anfangs, die Leute sind verletzt. Das war aber nicht so. Sie haben einfach ein Päuschen gemacht, haben abgeschaltet in der Natur. Das können viele Deutsche nicht. Meiner Meinung ist das Leben in Tschechien etwas ruhiger – vielleicht bedingt durch den früheren Kommunismus und die Planwirtschaft.
Das Relaxen und das Tanken positiver Energie habe ich mittlerweile auch gelernt. Vor allem bewundere ich, dass die Tschechen so sportlich sind. In Bayern sieht man bei weitem nicht so viele Radfahrer, Langläufer oder Wanderer, die in Zelten übernachten. Da ich eher die mediterrane Küche liebe, ist es oft schwierig, etwas Passendes für mich zu finden. Aber grundsätzlich mag ich tschechische Suppen, wenn es nicht gerade Kuttelflecksuppe oder Fischsuppe ist… (lacht).
Kulturlandschaften offenhalten
Wie nimmst Du die Veränderungen in der Natur und Landschaft wahr, die Du auf der bayerischen und tschechischen Seite besuchst und kennst?
Nicht abzustreiten ist, dass das Borkenkäferproblem auf beiden Seiten existiert. Aber wenn der Nationalparkgedanke Natur Natur sein lassen verfolgt werden soll, muss auch dies in Kauf genommen werden. Und man sieht ja überall, dass wieder wunderbarer Wald entsteht. Sehr gut finde ich, dass der Šumava-Nationalpark versucht, Kulturlandschaften offen zu halten – etwa in Knížecí Pláně und jetzt auch im Bereich Bučina.
Vor Jahren bist Du an Heiligabend mit dem Fahrrad nach Horska Kvilda gefahren. Was war der Grund dafür? Und mit dem Rad – nicht auf Skiern?
Im Jahr 2009 hatten sich unserem Tschechisch-Sprachkurs fünf Tschechen angeschlossen. Ohne die Tschechen – vier Frauen und ein Mann – wäre der Kurs nicht mehr weitergegangen, weil von den rund 40 Deutschen, die 2008 angefangen hatten, nur noch fünf übrig geblieben sind. So erzählten mir die Tschechen, dass am Heiligabend bei der Kapelle von Herbert Hones in Horská Kvilda nachmittags um 14 Uhr jedes Jahr eine kleine Feier mit Liedern und Keyboardbegleitung stattfindet.
Das Wetter an Heilgabend 2012 war extrem mild und es lag kein Schnee – so kam ich auf die Idee, zu dieser Feier mir dem Radl zu fahren. Ich war gegen 13 Uhr bei der Kapelle, wartete dann aber nicht mehr auf die Feier, weil es in Horska Kvilda doch sehr kalt war – es hatte so um die fünf Grad. Außerdem hatte ich Angst vor einer Reifenpanne und der bald einbrechenden Dunkelheit. Zudem ist Heiligabend zuhause dann doch schöner…
„Die Menschenschläge sind sich sehr ähnlich“
Du hast einmal gesagt, dass Dir im Herbst der stürmische Westwind am liebsten ist. Warum ist das so?
Das ist schnell erklärt: Auf meinem Grundstück steht eine riesige und wunderschön gewachsene Linde. Viele Leute meinten, ich sollte sie umschneiden, weil sie im Herbst mit den Blättern so viel Arbeit macht. Aber das bringe ich nicht übers Herz, weil der Baum irgendwie ein Wahrzeichen von meinem Grundstück ist. Und weht im Herbst ein stürmischer Westwind, erledigt sich das Problem meist von selbst, da die Blätter in den angrenzenden Wiesen und Wäldern verschwinden.
Welche Meinung hast Du zu den bayerischen und tschechischen Grenzgebieten und den dort lebenden Menschen?
Zusammen mit dem Bayerischen Wald gilt der Böhmerwald als die „grüne Lunge Europas“, weil die Wälder entlang der deutsch-tschechischen Grenze das größte zusammenhängende Waldgebiet des Kontinents formen. Die beiden Nationalparke Bayerischer Wald und Šumava bilden eine herrliche Region, in der die Natur sich selbst überlassen wird und sich auf natürliche Weise entwickeln kann. Die Menschen sind vom Wesen her sehr ähnlich – vor allem die jüngeren Generationen sind offen für Europa und wollen eine gute Beziehung zueinander aufbauen.
Welche konkreten gemeinsamen bzw. unterschiedlichen Wesenszüge kannst Du zwischen den Bayerwäldlern und Böhmerwäldlern ausmachen?
Gemeinsame Wesenszüge ergeben sich aus dem kulturellen Hintergrund: Essen, Trinken, Feiern, Naturverbundenheit. Ein Unterschied zwischen den beiden ist vielleicht, dass die Tschechen etwas impulsiver sind als die Waidler, die sich etwas genau überlegen, aber dann mehr Durchhaltevermögen zeigen. Aber wie gesagt: Die Menschenschläge sind sich sehr ähnlich.
„Es muss eben auch Schutzzonen geben“
Abschließend: Welche Veränderungen würdest Du Dir im Management der beiden Nationalparke auf beiden Seiten der Grenze wünschen?
Im Großen und Ganzen bin ich zufrieden mit der Arbeit der beiden Nationalparke. Es muss eben auch Schutzzonen geben, die nicht betreten werden dürfen, was viele Menschen stört. Ich hoffe, dass die Zusammenarbeit der beiden Parks weiterhin so gut funktioniert, denn die Tierwelt und die Natur unterscheiden nicht zwischen Nationalpark Bayerischer Wald und Šumava.
Vielen Dank für das interessante Gespräch – und weiterhin alles Gute.
Interview: sumava.eu/ da Hog’n