Darauf gingen sie tiefer in den Wald hinein, und mitten drein, wo er am dunkelsten war, fanden sie ein kleines verwünschtes Häuschen (Die zwölf Brüder).
Der Wald in den europäischen Volksmärchen entspricht nicht unserem heutigen übersichtlichen Forstwald mit vielen angelegten Wegen. Er entspricht dem Gehölz, wie er im Mittelalter war: dichtes Unterholz, wenig Wege, dunkle und weite Wälder, in denen es wilde Tiere und Räuber gab. Der „wilde walt“, wie man sagte, war damals ein gefürchteter und vielen Menschen unheimlicher Ort, der mancherlei Gefahren barg – und wo man sich leicht verlaufen konnte.
Es war die Zeit, in der man Hexen und Teufel fürchtete und in Eulen und Fledermäusen Dämonen und Gespenster wähnte. Nur in der höchsten Not war der Wald ein Ort der Zuflucht wie bei Schneewittchen und Allerleihrauh. Wer in den Wald ging, sammelte dort Beeren, Kräuter, Holz oder ging auf die Jagd. Dass einer wie heute „in den Wald spazieren“ ging, das gibt es erst im Kunstmärchen „Jorinde und Joringel“ von J.H. Jung-Stilling aus dem Jahre 1777.
„Hänsel und Gretel“ als Musterbeispiel
Den Wesen des Waldes zu begegnen, ist manchmal eine große Hilfe, manchmal auch sehr gefährlich: sprechende Tiere (Fuchs, Wolf, Bär, Hirsch, Vogel), Zwerge und Männlein, Trolle und Riesen, Eremiten, weise Alte und sogar die Jungfrau Maria (siehe Marienkind). Manche sind hilfreich, manche auch gefährlich.
Das Mysterium des Waldes ist für viele Märchen in seiner Mitte: dort, wo er am tiefsten und dunkelsten ist. Was erleben wir, wenn wir dahinein geraten? Wir begegnen unseren Ängsten, unserer Ohnmacht, unserer Verzweiflung. Das alle kommt über uns, kann uns geradezu auffressen. Dafür haben die Märchen ein starkes Bild: das Hexenhaus. Wir kennen solch ausweglose Situationen, die uns ‚wie verhext‘ scheinen.
Im tiefsten Wald – da steht ein kleines Häuschen. In diesem wohnt meist eine alte Frau, manchmal ein alter Mann. Es sind keine gewöhnlichen Sterblichen, die hier wohnen. Sie verkörpern den Waldgeist, aber eben auch unsere eigene Seele. Und sie sind Magier, sind oft schrecklich. Sie sind reich, können viel geben – und zugleich sind sie verzehrend wie die Hexe bei Hänsel und Gretel oder die Baba-Jaga in der slawischen Tradition.
…um einige Erfahrungen und Gaben reicher…
Es ist ein magischer Ort, wo man Mut zeigen und sich bewähren muss, wo man in Dienst und Pflicht genommen wird und nicht zu neugierig sein darf (vgl. Wassilissa, die Wunderschöne). Auch im Märchen aus Kamerun „Ada, der Waldgeist“ ist es „ein prächtiges Haus … und rings um das Haus lagen Haufen von menschlichen Schädeln und Knochen“. Bei Hänsel und Gretel ist es ein verlockendes Häuschen aus Brot, Kuchen und Zucker.
Im Grimm’schen Märchen „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ ist es gar ein Räuberhaus, das von einer Alten gehütet wird. Erstaunlicherweise aber erbarmen sich die Räuber über das arme Kind, schreiben ihm sogar einen verhängnisvollen Brief neu und zeigen ihm den Weg aus dem Wald. Jeder Märchenheld, der aus dem tiefsten Wald wieder herauskommt, ist um einige Erfahrungen und Gaben reicher. Es ist eine Grunderfahrung der Menschheit: im tiefsten Dunkel scheint ein kleines Licht, in der Mitte der Nacht beginnt ein neuer Morgen.
Der Wald, in dem die Räuber sind
Sie konnten aber die Stadt Bremen in einem Tag nicht erreichen und kamen abends in einen Wald, wo sie übernachten wollten. „Was siehst du, Grauschimmel?“ fragte der Hahn. „Was ich sehe?“ antwortete der Esel, „einen gedeckten Tisch mit schönem Essen und Trinken, und Räuber sitzen daran und lassen’s sich wohl sein (Die Bremer Stadtmusikanten).
Wer unvorhergesehen in einem Wald übernachten musste, der fürchtete sich nicht nur vor wilden Tieren, sondern auch vor Übeltätern, die dort möglicherweise ihr Lager oder Versteck hatten. Das ist leider keine Erfindung der Märchen. Bis vor etwa 150 Jahren war es nichts Ungewöhnliches, dass Reisende von Räubern überfallen wurden, vor allem in den Wäldern, die viele Verstecke boten.
Deshalb ist das Märchen der Bremer Stadtmusikanten nicht nur ein heiteres Tiermärchen, sondern auch ein Hoffnungs- und Befreiungsmärchen für sicherere Wälder. Was die Menschen nicht hinbekommen, das schaffen die vier alten Tiere mit ihrer List.
Der bezaubernde Wald
Oben am Berg saß eine Jungfrau und nähte, und sie war so schön und so fein, dass sie nur so glänzte. „Bring mir das Garnknäuel, du“, sagte sie. Das tat Mads auch und blieb lange stehen und schaute sie an und wurde nicht müde, sie anzuschauen, so gut gefiel sie ihm. Da war er bei ihr drei Tage lang. Seitdem war er nicht mehr richtig; die Huldre hatte ihm den Sinn verrückt, sage ich (Die Waldfrau).
In der nordischer Tradition gibt es die Waldfrau, die Huldra, die die Schätze des Waldes und Berges hütet. Sie ist von himmlischer Schönheit, aber sie hat auch einen Schwanz als Zeichen ihrer Verbundenheit mit den Tieren, der Sinnlichkeit und des Irdischen. Wenn man ihr begegnet und ihr folgt, ist nichts mehr so wie es früher war: man verfällt ihr, wird verrückt, hat seine Sinne nicht mehr ganz beisammen.
Im Märchen sind alle Götter entmythologisiert, sie sind das, was sie immer waren: Figuren unserer Seele, verlebendigte Gestalten des Geistes. Die Märchen sagen in ihrer Sprache, was wir schon immer wussten: man kann sich im Wald verlaufen und verirren, kann verängstigt und geradezu verrückt werden. Man kann aber auch Nahrung finden und Unterschlupf, man kann, wenn man einige Tage oder Nächte überstanden und aus dem Wald wieder herausgefunden hat, gestärkt und gereift daraus hervorgehen und sogar einiges von den Schätzen und Mysterien des Lebens dabei erfahren. Und: man lernt sich selbst besser kennen.
Der verzauberte Wald
Im tiefen Sequoienwald lebte in der Felsenhöhe eine alte Hexe. Die Hexe aus der Felsenhöhle hängte hölzerne Käfige an die Bäume. Sie verwandelte Mädchen in Vögel und sperrte sie in Käfige. Die Holzfäller, die um Mittag auf der Waldschneise ausruhten und dem Gesang der Vögel lauschten, ahnten nicht, dass es dem Stimmen der Mädchen waren. Eines Tages ging die schöne Melinda mit Jonathan, ihrem Bräutigam, am Waldrand spazieren … (Der verzauberte Wald).
Zum Märchenwald gehört auch die Hexe. Sie frisst Menschen, kann sie in Tiere oder Bäume verwandeln und hat magische Kräfte. Sie ist eine einsame Frau, die zur Menschenhasserin wurde und aus ihrer Vertrautheit mit dem Wald Zauberkräfte bekommen hat. Wer ist sie?
Frauen, die mit der Natur vertraut und magisch versiert waren, die zudem meist alleine lebten, waren ursprünglich Schamaninnen und Seherinnen. Sie dienten den Menschen mit ihren Gaben und lebten davon. Da gab es solche und solche, aber niemals waren sie von vorneherein böse. Hier handelt es sich um ein religiöses Missverständnis. Im Märchen repräsentiert die Hexe – wie der böse Wolf – das Gefährliche des Waldes, das böse enden kann. Das, was man nicht kennt und nicht weiß, das fürchtet man oft am meisten.
Numinose Ängste alter Zeiten
Ich geh‘ nicht in den Wald hinein, darin springen Hexen und Gespenster herum (Der Soldat und der Schreiner).
Solche numinosen Ängste gab es in alter Zeit viele. Man hatte nicht das Wissen, nicht die Technik und nicht die Macht, die man heute hat. So gab man dem Gefürchteten Name und Gestalt und konnte es so wenigstens benennen und begreifen. Man kann das nachempfinden, wenn man nachts in den Wald geht und die Dunkelheit und die Geräusche auf sich wirken lässt. Dann ist man in kurzer Zeit dort, wo die Märchen sind: bei dem, was einem fremd und unheimlich ist.
Heute wissen wir, dass wir im Wald keine Gespenster und keine Geister zu fürchten haben. Was wir dort erleben, ist nichts anderes als der lebendige Wald mit seinen vielen Bewohnern. Sie sind uns großteils fremd, auch unheimlich, ob das nun Spinnen oder Mäuse sind, Eulen oder Hirsche. Viele von ihnen hat man verteufelt, weil man zu wenig von ihnen wusste und sich zu sehr fürchtete. Deshalb gehört es auch zur Liebe zum Wald, dass man dessen eigentliche Bewohner achtet und respektiert, dass man Rücksicht nimmt und ihren Lebensraum schützt.
Der unheimliche Wald
Awsang Atikawt entdeckte im Wald ein so prächtiges Haus, wie er noch nie eins gesehen hatte. Es gehörte der Beherrscherin des Waldes, und rings um das Haus lagen Haufen von menschlichen Schädeln und Knochen. … Erzählen werde ich, dass ich einer Frau begegnet bin, die allein im Wald lebt und die alle verschlingt, die sie eingefangen hat, einer Frau, die in ihrem Leib Trommeln, blasende Hörner und sogar große Waffen hat, einer Frau, die eine Gefahr ist für jedes menschliche Wesen. Je eher sie getötet wird, desto besser ist es für alle Jäger! (Ada, der Waldgeist)
Das afrikanische Märchen zeigt unser menschliches Missverständnis am allerdeutlichsten: dass der Wald, personalisiert in einem weiblichen Waldgeist, ein menschenverschlingendes Ungeheuer sei. Zwar können Menschen sich tatsächlich im Wald verirren und sogar darin umkommen, aber dafür kann die Lebenswelt des Waldes nichts. Der Dschungel war uns Primaten lange Zeit Heimat, aber nach Jahrmillionen haben wir uns von ihm entfremdet und nehmen ihn nicht mehr so ohne weiteres als mütterlich und bergend wahr. Vielmehr erscheint er uns als düster und bedrohlich.
Er will uns scheinbar verschlingen. Wir können noch so laufen, wenn wir uns verirrt haben, wir entfliehen ihm nicht so leicht. Der Urwald, der Wald, wie er ursprünglich ist, kann mal schrecklich, mal wunderschön sein wie „Ada“. Wir müssen uns einfach anpassen, wenn wir ihn betreten. Dann müssen wir sein „prächtiges Haus“ weniger fürchten.
Der Wald als Zuflucht
Dann befahl sie sich Gott und ging fort und ging die ganze Nacht, bis sie in einen großen Wald kam. Und weil sie müde war, setzte sie sich in einen hohlen Baum und schlief ein (Die Alte im Wald)
Ein treues Dienstmädchen überlebt den Angriff von Räubern, indem es sich hinter einem Baum versteckt. Dort erfährt sie durch eine weiße Taube und einen verzauberten Baum Hilfe: Nahrung, ein Bett und Kleider. Einige Tage lebt das Mädchen dort und wird immer wieder von der weißen Taube und dem Baum versorgt.
Dass wir Menschen uns bei bestimmten Bäumen wohlfühlen, dass wir Schutz und Geborgenheit erleben, Verbundenheit und Respekt fühlen, ist keine Seltenheit. Einzelne Bäume wie der Wald überhaupt können durchaus als ein Stück Heimat erlebt werden, als ein Kraftort, an dem man zur Ruhe und zu sich selbst kommt. Zauberhafter geht es im Märchen zu. Da wird der Baum personalisiert: einmal ist es ein Prinz, der in diesen besonderen Baum verwandelt wurde (Die Alte im Wald), ein anderes Mal ist es der Baumgeist selbst, der einem etwas gewährt (Der Wunsch des Webers).
Der Wald als Ort der Reifung und Bewährung
Goldhaar geriet nur immer tiefer in den Wald, und es wurde schon Abend; er ging und lief voll Angst hin und her; endlich sah er ein kleines Häuschen. Als er eintrat, saß an dem Tisch ein alter blinder Mann und aß Hühnersuppe. Der Knabe war so hungrig, dass er zum Tisch ging, einen Löffel nahm und mit aß. Der blinde Mann aber merkte es und fragte: „Wer isst von meiner Hühnersuppe?“ „Ich bin’s, lieber Großvater“, rief der Junge, „denn ich habe gar großen Hunger!“ Da freute sich der Alte und sprach: „Ich habe lange auf dich gewartet, du sollst es gut haben bei mir! (Goldhaar).
So wie Marie im Hollemärchen in Todesangst in den Brunnen springt, das Bewusstsein verliert und auf der grünen Wiese die gütige alte Frau trifft, so ist hier ein männlicher Reifungsweg beschrieben als das Durchleben von Irrungen und Wirrungen, bis man beim blinden Alten ankommt und dort sein darf. Zwölf Jahre darf der Junge nun dessen Ziegen hüten – dann bekommt er das Schwert, das Signum der Kraft und des Geistes, mit dem er als Mann in der Welt bestehen kann.
Es ist nicht das Schwert, mit dem man Abenteuer sucht oder Gewalt übt, sondern mit dem man sich erwehren und das Böse überwinden kann. Nachdem der Junge die Drachen besiegt hat, hat er seine Aufgaben gemeistert und erfüllt. Das Schwert gibt er zurück und darf nun an den Waldbrunnen, den Lebensborn, der ihm sein Haar vergoldet. Das entspricht der Marie, die durch das Tor schreitet und den himmlischen, güldenen Segen erhält. Das Gold ist Symbol des Göttlichen, des Höchsten, was der Mensch verwirklichen kann. Da ist der Mensch in Verbindung mit dem Göttlichen, mit seiner eigenen, inneren Quelle:
Rufe nicht nach Gott, denn die Quelle ist in dir (A. Silesius)
Dr. Jürgen Wagner