Finsterau. Die Grenze zwischen Bayern und Böhmen war immer sein Begleiter. Seit seiner Geburt lebt er in Finsterau, nur einen Steinwurf weit entfernt vom tschechischen Nachbarland. Er kennt den Böhmerwald noch aus den Zeiten, als sich im Winter der Schnee meterhoch vor der Haustür auftürmte und der „Eiserne Vorhang“ als unüberwindbare Trennungslinie galt.
Werner Ratzesberger ist bis heute in Finsterau geblieben und hat sich in der Heinrichsbrunner Reute ein Haus gebaut. Er liebt die unberührte Natur, die sich im Bereich des einstigen Grenzzaunes entwickelt hat und ihm einen steten Ausgleich zu seiner Arbeit beim Autobauer BMW in Dingolfing bietet. In seiner Freizeit fährt er – wie so viele Waidlerinnen und Waidler – mit dem E-Bike in den Böhmerwald: nach Knížecí Pláně, zur Moldau-Quelle, nach Cerná Hora, Březník oder zum Poledník. Durch die vielen Radtouren kennt er sich in der Gegend bestens aus. Zudem lernt er schon seit längerer Zeit Tschechisch – ihm zufolge eine sehr schwierige Sprache. „Ich würde mir nie sagen trauen, dass ich Tschechisch beherrsche.“
Im gemeinsamen Interview mit den Kollegen unseres Partnerblogs sumava.eu haben wir uns mit Werner Ratzesberger über sein Leben an der Grenze unterhalten, haben mit ihm auf die strengen Winter im Woid zurückgeblickt und ihn gefragt, wie sich Tschechen und Deutsche in Zukunft noch weiter annähern können:
Gleich zwei Niederlagen an einem Tag…
Werner: Wie war es für Dich, in der Nähe der tschechischen Grenze aufzuwachsen? Wie hattest Du Dir den „Eisernen Vorhang“ vorgestellt? Und: War er von irgendwo aus sichtbar?
Ich habe mir den Grenzzaun so ähnlich vorgestellt wie er tatsächlich war. Sichtbar war der Zaun nicht. Man konnte aber an der Grenze in Bučina einen Wachturm sehen. Dieser war mit einem bewaffneten Soldaten besetzt. Auf deutscher Seite flogen amerikanische Kampfhubschrauber regelmäßig Überwachungsflüge entlang der Grenze, wo es auch einmal einen Zwischenfall gab. Von Januar 1985 bis März 1986 war ich bei der Bundeswehr und leistete meinen Grundwehrdienst ab. Damals galt in der BRD noch die Wehrpflicht. Wir mussten die Waffengattungen der Warschauer-Pakt-Staaten kennen, ein gewisses Feindbild war Richtung Osten noch vorhanden. Zu diesem Zeitpunkt dachte kein Mensch daran, dass sich die Zeiten jemals ändern würden.
Wie war Deine erste Reise in die Tschechische Republik? Wie hast Du Dich gefühlt?
Meine erste Reise fand 1990 noch in die damalige Tschechoslowakei statt – mit dem Sportverein zu einem Fußballspiel gegen Čkyně. Der SV Finsterau war mit den neuesten Trainingsanzügen ausgestattet und machte ein professionelles Aufwärmtraining auf dem Sportplatz. Die tschechischen Zuschauer – es waren bestimmt 300 – glaubten wohl, dass hier ein Profiteam spielen wird. Das Fußballspiel aber gewann Čkyně mit 6:0 – und wir hatten keine Chance.
Und nach dem Spiel mussten wir auch schon die nächste „Niederlage“ einstecken (schmunzelt): Čkyně hatte eine schöne Feier in einer Gaststätte vorbereitet – und wir durften feststellen, dass die Tschechen sehr viel trinkfester waren als wir. Alles in allem war ich von der Gastfreundlichkeit sehr angenehm überrascht. Es gab dann auch noch den Gegenbesuch der Tschechen in Finsterau. Die Begegnung haben wir erneut verloren (lacht). Danach gab es eine Grillfeier und ich kann mich noch gut daran erinnern, wie begeistert die Tschechen vom Grillfleisch waren. Wahrscheinlich war damals das Grillgewürz im Nachbarland noch nicht so bekannt.
„… oder sie festnehmen und in Prag einsperren“
Wie war die Stimmung in Finsterau vor dem Jahr 1989? War es ein Gefühl vom “Leben am Ende der Welt“? War die Angst ein ständiger Begleiter?
Die Einwohner von Finsterau hatten sehr wohl Angst vor der Grenze. Den Kindern wurde gesagt, dass sie nicht zu nahe an die Grenze gehen sollen, denn die tschechischen Grenzsoldaten würden auf sie schießen – oder sie festnehmen und in Prag einsperren. Eine Warnung, die zur damaligen Zeit wohl nicht ganz verkehrt war. Wobei: Ich weiß von zwei betrunkenen Jugendlichen, die in Bučina über die Grenze gingen und festgenommen wurden. Sie kamen auf die Polizeistation in Winterberg, wurden von dort aber schnell wieder nach Deutschland ausgeliefert. Die Aussage, dass Finsterau „das Ende der Welt“ markierte, stimmte auch. Denn es führte nur eine Straße nach Finsterau – und die war in Bučina zu Ende. Fremdenverkehr gab es damals nur sehr wenig.
Was bedeutet das Wort „Šumava“ für Dich? Und wie hat sich diese Bedeutung im Laufe deines Lebens verändert?
Šumava bedeutet für mich: unberührte Natur, wunderschöne Radwege und Loipen. Ich wüsste nicht, wo ich sonst meine Freizeit so sportlich und sinnvoll verbringen könnte als im Böhmerwald.
Betrachtest Du den Böhmerwald und den Bayerischen Wald als ein zusammengehöriges Waldgebiet mit zwei unterschiedlichen Namen? Oder handelt es sich Deiner Meinung nach um zwei separate Waldgebiete?
Die bewaldeten Gebiete sind sehr identisch, aber die Bereiche am ehemaligen Grenzzaun und die sogenannten verschwundenen Dörfer mit ihrer unberührten Schönheit findet man nur im Böhmerwald.
„Bis zum Bauch im Schnee versunken…“
Erinnerst Du dich an die Winter, in denen es im Böhmerwald noch viel mehr Schnee gab als heute?
Ich kann mich noch sehr gut an diese Zeit erinnern. Von meinem Elternhaus auf der Heinrichsbrunner Reute musste ich zur 2,5 Kilometer entfernten Schule nach Finsterau gehen. Über Nacht gab es manchmal fast einen Meter Neuschnee. Es waren insgesamt sieben Schulkinder aus der Reuten – und wir gingen im Entenmarsch den Berg hinauf. Die Älteren machten den Anfang und bahnten einen kleinen Weg. Wobei wir aber trotzdem oft bis zum Bauch im Schnee versunken sind. Erschöpft und nass kamen wir dann um 8 Uhr morgens in der Schule an. Es waren aber auch Winter, wo im Januar oder Februar oft wochenlang schönstes Wetter herrschte. Man konnte auf der Schneedecke, die mit Pulverschnee bedeckt war, gehen und die sonnigen Wintertage am Skilift in Finsterau verbringen.
Nach der Grenzöffnung hast Du Tschechisch gelernt – was hat Dich dazu motiviert?
Durch meine Radtouren bin ich immer wieder mit der tschechischen Sprache konfrontiert worden – und so war es für mich selbstverständlich, die Sprache zu lernen. Ich bin jedoch anfangs der Meinung gewesen, dass ein paar Stunden Tschechisch ausreichen würden, um das Nötigste zu beherrschen – was ein großer Irrtum war…
Worin genau liegt Deiner Meinung nach die Schwierigkeit beim Tschechisch lernen?
Unser zweistündiger Tschechisch-Kurs ging über eine sehr lange Zeit: Jeweils zehn Abende im Frühjahr und im Herbst – und das über zehn Jahre hinweg. So kamen rund 200 Stunden zusammen. Am Ende des Kurses hatte ich die gesamte Grammatik eigentlich verstanden – theoretisch. Das Gelernte jedoch in die Praxis umzusetzen, war nahezu unmöglich (lacht). Das größte Problem ist für mich die richtige Aussprache. Wenn jemand gebrochen Deutsch spricht, verstehe ich das meiste – im Tschechischen ist das nicht so. Wenn die Wörter nicht korrekt ausgesprochen werden, ergeben sie einen anderen Sinn oder die Leute verstehen einen nicht.
Was glaubst Du: Warum sprechen heute vielmehr Tschechen Deutsch als Deutsche Tschechisch?
Ein Hauptgrund ist, dass viele Tschechen in Deutschland arbeiten. Die Anzahl der Deutschen, die beruflich in Tschechien tätig sind, ist sehr gering. Hierzulande ist das Interesse daran, Tschechisch zu lernen, auch bei Weitem nicht so groß. Man hört oft Aussagen wie: „Die sollen Deutsch lernen.“ Und meiner Meinung nach ist die tschechische Sprache doch etwas schwieriger als die deutsche.
Wenn die Sprachbarriere zwischen Deutschen und Tschechen nicht wäre: Wie hätte sich das Verhältnis zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen deiner Meinung nach nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entwickelt?
Wir wären heute wirtschaftlich und kulturell viel weiter zusammengewachsen.
„Wobei das Geschehene nicht vergessen werden darf“
Wie nimmst Du die Veränderungen 35 Jahre nach der Öffnung der Grenzen zwischen Deutschland und Tschechien wahr?
Es ist schon eine bestimmte Basis entstanden. Viele Tschechen arbeiten in Deutschland. Und die Länder nähern sich an, wenn auch sehr langsam. Es wird versucht, die Vergangenheit zu bewältigen. Auch die Zusammenarbeit der beiden Nationalparke ist super. Den Beitritt Tschechiens zur NATO befürworte ich sehr. Finsterau ist jetzt auch nicht mehr „das Ende der Welt“ – und der Tourismus bringt beiden Ländern Vorteile.
Stichwort Vergangenheitsbewältigung: Wie viele Generationen sind (noch) notwendig, bis das Geschehene zwischen Tschechen und Deutschen während und nach dem Zweiten Weltkrieg „vergessen gemacht“ werden kann? Oder ist es Deiner Meinung nach notwendig, das Geschehene eben gerade nicht in Vergessenheit geraten zu lassen?
Ich glaube, dass diese Vergangenheitsbewältigung bereits stattgefunden hat. Jüngere Generationen – sagen wir ab Jahrgang 1955 – auf deutscher und tschechischer Seite sind auf ein gemeinsames Europa eingestimmt. Wobei das Geschehene nicht vergessen werden darf. Gut ist, dass auf beiden Seiten großes Interesse an dieser Vergangenheit besteht. Führungen zu den verschwundenen Dörfern sind auf deutscher Seite sehr beliebt – und ich habe den Eindruck, dass die Tschechen sehr respektvoll mit diesen Überbleibseln umgehen.
Was ist Deiner Meinung nach die beste Methode, um für eine weitere Annäherung zwischen Deutschen und Tschechen zu sorgen?
Hier im Grenzgebiet sind die Möglichkeiten nicht so groß, da die wenigen Dörfer vor allem auf tschechischer Seite sehr wenige Einwohner haben. Aber man muss jede Gelegenheit nutzen, um auf Vereinsebene, Kommunalebene und Schulebene Kontakte zu knüpfen. Alles Weitere muss von politischer Seite her unterstützt und geplant werden.
Was sagst Du zur Aussage, dass die Grenze zwischen Tschechien und Bayern ohnehin nur noch in den Köpfen existiert? Stimmt das?
Dieser Meinung bin nicht. Das größte Problem ist nach wie vor die Sprachbarriere. Aber ansonsten werden die beiden Länder mit der Zeit doch mehr und mehr zusammenwachsen, denn die Menschen sind pro Europa gestimmt.
„Es wird auf Dauer Probleme geben“
Was sind Deine Lieblingsrouten beim Radfahren durch den Böhmerwald?
Meine Lieblingsroute ist Horská Kvilda – Zlatá Studna – Churáňov – Nové Hutě – Borová Lada – Knížecí Pláně – Bučina. Wobei ich am Stadion in Churáňov den Ausblick zum Javorník, dem tschechischen Hinterland bis hinüber nach Temelin genieße. Am Skilift schaue ich denn Down-Hill-Fahrern und den Kletterern an der Skischanze zu. Die weitläufige Landschaft bei Novy Svet und Nové Hutě mit den riesigen landwirtschaftlichen Flächen fasziniert mich immer wieder. Aber es gibt von Nová Pec bis Železná Ruda unglaublich viele schöne Ziele.
Wolf, Luchs, Dachs, Biber, Auerhahn: Welche Tiere hast Du in der freien Natur schon beobachten können?
Ich hatte das Glück, in einer hellen Vollmondnacht vor Weihnachten auf der Straße von Finsterau zu mir nach Hause eine Luchsin mit zwei Jungtieren zu sehen, wobei die Jungen neugierig waren und nicht davongelaufen sind. Das Muttertier wartete rund 20 Meter entfernt, bevor alle drei wieder im Wald verschwanden. Einen Biber habe ich kurz bei der Reschbachklause gesehen. Einen Dachs hätte ich beinahe mit dem Auto überfahren. Wolf und Auerhahn habe ich noch nicht gesehen.
Wie betrachtest Du die Tatsache, dass der Wolf auch im Böhmerwald/Bayerwald immer heimischer wird? Positiv oder negativ?
Als Nationalpark-Befürworter muss ich eigentlich mit „positiv“ antworten. Aber es wird auf Dauer Probleme geben. Nutztierhalter müssen finanziell unterstützt werden. Auch die Ängste von Privatpersonen werden immer wieder kommen. Es wird auch illegale Abschüsse geben. Einen Weg miteinander zu finden, wird sehr schwierig werden. Aber die Grenzen in Europa sind offen – und der Wolf wird immer wieder auftauchen.
Interview: sumava.eu/ da Hogn’n
Im zweiten Teil unseres Interviews spricht Werner Ratzesberger darüber, wie sehr ihn die tschechische Kultur beeinflusst hat, wie er die Veränderungen in der Naturlandschaft wahrnimmt und warum er vor einigen Jahren an Heilig Abend nach Horska Kvilda gefahren ist…