Es gibt Orte, die für uns Menschen eine besondere Ausstrahlung besitzen. Dort zieht es uns hin und wir sind meist gerne dort. Wir können dort Kraft tanken. Die Orte geben uns was. Und in früherer Zeit hat man solchen Orten auch etwas gegeben: man hat z.B. Blumen an heilige Quellen gelegt oder an alten Linden eine Kapelle errichtet.
In unserer Zeit werden sie gerne „Kraftorte“ genannt: der Königssee im Berchtesgadener Land, die Externsteine im Teutoburger Wald, der höhlenreiche Untersberg im Salzburger Land, der Hennenkobel im Bayerischen Wald u.a.m. Es ist von Mensch zu Mensch verschieden: die einen zieht es unwiderstehlich in die majestätischen Berge. Andere ans weite Meer, wieder andere wandern am liebsten durch felsige Schluchten. Das sagt auch etwas über uns selbst aus, wo wir uns wohlfühlen und welche Plätze uns Kraft geben.
Auch vom Menschen gestaltete Orte können etwas Kraftvolles, geradezu Magisches besitzen. Am bekanntesten sind wohl die Pyramiden von Gizeh und die auf die Sterne und Zeiten ausgerichtete Anlage von Stonehenge. Viele Kapellen und Kirchen stehen an natürlichen Kraftorten und haben eine große Anziehungskraft. Wenn man sich erst einmal dafür öffnet. Und einen Sinn dafür entwickelt. Dann wird man auch in der eigenen Umgebung manches entdecken, was einen berührt. Am nahen Bach, auf einer blühenden Wiese, bei alten Bäumen, an markanten Felsen, im Park, in einer Waldlichtung, auf Berges Höhen können eine angenehme und einladende Kraft und Atmosphäre haben oder auch nicht.
Kraftorte in den Volksmärchen
Auch die Volksmärchen haben solche kraftvollen Orte, an denen mehr möglich ist als anderswo: im tiefen Wald, am stillen See, am großen Berg, an einem sanften Hügel, in einer Felshöhle u.a.m. Sie erzählen davon auf ihre Art. Sie personifzieren die Kräfte eines Ortes. Im Wald z.B. haust die alte Hexe, im See wohnt die Nixe, im Berg ein Männlein, im Hügel tanzen die Feen.
Der Naturgeist macht anschaulich, worum es an einem Ort geht: Der tiefe (Ur-)Wald ist dunkel und gefährlich, also ist der Waldgeist eine magische Hexe, die einen auffressen und töten, aber auch beschenken und weiterbringen kann, wenn man ihr standhält. Meist sind die Märchenbilder sehr kräftig und hintergründig.
Eine menschenfressende Hexe wie die russische Baba Jaga oder die Hexe in „Hänsel und Gretel“ im Wald ist kein schönes Bild; aber wie leicht einen ein Urwald, in dem man sich nicht auskennt, „auffressen“ kann, weiß man, wenn man einmal in einem war. Unsere Wälder heute sind nicht mehr die Wälder, wie sie in den Zeiten waren, als die Märchen erzählt wurden. Da gab es noch die wilden Tiere und die nicht vorhandenen Wege, so dass man da leicht in Gefahr geraten konnte.
Trotzdem sprechen die Märchen noch zu uns, weil das Leben immer noch so vielfältig ist. Wir können uns auch in im Dschungel der modernen Großstadt verirren, verlieren und ihren Gefahren erliegen. Und man kann auch im modernen Leben reifen, ihm standhalten und beschenkt werden. So wenig wie der Wald und die Hexe ‚böse‘ sind, so wenig ist es auch unser heutiges Leben. Es ist Gefahr und Chance zugleich.
Die schamanischen Ursprünge
Die Hexe des Märchens ist eigentlich die Schamanin, die Heilerin, die Kundige. Sie ist mit den Kräften der Natur vertraut und arbeitet mit ihnen auf der geistigen Ebene. Das können nicht viele, deshalb ist sie es, die man in der Not aufsucht und um Hilfe bittet. Übt sie ihre Fähigkeiten zum Segen aus, ist sie eine helle Gestalt, praaktiziert sie Schadenszauber, ist sie eine dunkle Gestalt. Im Märchen ist diese schamanische Magierin und Heilerin leider völlig verdunkelt. Sie hat nur noch ganz wenig helle Seiten und repräsentiert meist das Böse und die Gefahr.
Die Personifzierungen der Volksmärchen haben ihre tiefsten Wurzeln im Schamanismus. Der Schamane reist auf der geistigen Ebene und kommunziert mit den Tieren, Pflanzen und anderen Naturkräften, um ihre Hilfe oder ihren Rat zu erbitten. Er ruft sie, schaut sie, spricht mit ihnen. Das ist ein personales Geschehen. Wenn er Antwort bekommt, gibt er das an die Hilfesuchenden weiter. Es ist eine vermittelnde, priesterliche Aufgabe, die er da ausfüllt.
Die Volksmärchen haben diese hilfreichen „Geister“ des Schamanen bewahrt: der Fuchs, der dem jüngsten Sohn sagt, was er tun muss (KHM 57), der Zwerg, der hilft, das heilende „Wasser des Lebens“ zu finden (KHM 97) oder der Buchsbaum, der dem „Weber“ einen Wunsch erfüllt. Selbst Sterne und Winde können zum Märchenhelden sprechen und ihm bei seiner Mission helfen.
Diese wundersame Welt ist eigentlich die Welt des Schamanen. Sie war auch in einer Frühphase der Menschheit präsent, die wir heute noch als Kinder durchlaufen. Wenn wir Ungeheuer unter dem Bett fürchten oder erwarten bzw. fürchten, dass sich das realisiert, was wir denken. Der Heranwachsende lernt das zu sortieren, aber er taucht auch immer mal wieder gerne in diese Welt ein, in der die Grenzen von Innen und Außen durchlässig werden.
Magische Märchenorte
Der Wald ist der magische Ort unserer mitteleuropäischen Volksmärchen. Dort kann man gebannt und verzaubert, gefangen und getötet werden, aber dort ist auch der Ort der Verwandlung, Reifung und Befreiung. Dort erhält Wassilissa das Licht, dort werden die von der „Alten im Wald“ verzauberten Bäume wieder erlöst (KHM 123). Das zeigt, wie tief wir Europäer bis heute mit dem Wald verbunden sind: er ist der Ort, wo unsere Seele Ruhe findet, wo wir uns regenerieren, wo wir in Kontakt sind mit der Natur.
Auch Gewässer sind in den Märchen Orte, wo Geheimnisse schlummern, wo etwas verloren gehen oder gewonnen werden kann. Das norwegische Märchen „Märdöll“ beginnt im Nusswald, wo die Herzogin einen tiefen Traum hat. Der führt sie zu einem Bach und einer Forelle, die ihr stockendes Leben und ihre Unfruchtbarkeit wieder in Fluss bringt.
Meeresgewalt und -schönheit
Die „Nixe im Teich“ (KHM 181) kann wunderschön sein und einen reich beschenken – sie kann einem aber auch das Liebste rauben. Der Wassergeist eines verzauberten irischen Sees dagegen ist eine gewaltig dicke Frau, mit der er sich richtig auseinandersetzen muss. Auch das große Meer hat in Märchen und Sagen Personen, die es darstellen: schöne Meerjungfrauen genauso wie Ungeheuer. Beide zusammen repräsentieren die Meeresgewalt und -schönheit.
Berge sind im Märchen häufig Tore zur geistigen Welt. Sie zeigen das Innere, das sich auch zeigt, wenn man träumt, schamanisch reist oder wenn in tiefer Meditation Bilder aufsteigen. Ein junger Hirt findet Ain einem keltischen Märchen einen Feenring in den Bergen und gerät jenseits von Raum und Zeit in eine andere Welt. Der „Trommler“ (KHM 193) muss auf den jenseitigen unersteigbaren ‚Glasberg‘, um eine Königstochter zu befreien.
Widerspiegelung unserer realen Erfahrungen
Was den alten Völkern ihre heiligen Berge waren, auf dem eine Gottheit wohnt, wird im Märchen zum Glasberg, wo, wie hier, eine dämonische Alte eine begehrte Frau gefangen hält. Das spiegelt unsere reale Erfahrung, dass Berge einen regelrecht berauschen können, dass sie uns tatsächlich in eine andere Welt führen, uns einen anderen Blick geben, dass sie voller Gefahren, aber auch voller Schönheit und Schätze sind.
Auch die Märchenbrunnen sind oft Tore zur anderen, inneren Welt. Wer in die Tiefe steigt, kommt in der Transzendenz an. So erlebt es die Marie in „Frau Holle“ (KHM 24), die nach ihrem Sprung in den Brunnen das Bewusstsein verliert und auf einer blühenden Wiese wieder aufwacht. Sie erlebt dann so einiges, das uns an einen Traum erinnert, aber dann muss sie auch wieder zurück in ihre gewohnte Welt. In der realen Erfahrung sind Brunnen Orte der Erfrischung, wo man trinken und wieder neue Kräft schöpfen kann. Ebenso sind sie besonders im Orient Orte der Begegnung und des Austausches. Das Märchen zeigt meist beides.
Hervorgehobene, markante Plätze in der Natur
Auch Hügel haben für Kinder wie für Erwachsene durchaus etwas Anziehendes. Es sind hervorgehobene, markante Plätze in der Natur. Märchen und Sagen schildern sie als von Feen belebte Stätten, erfüllt von Musik und Festivität. „Fingerhütchen“ z.B. nächtigt an einem irischen Grabhügel und als er morgens aufwacht, hat er Heilung erfahren. Er war in der Nacht Gast der Feen gewesen und hat ihnen eine Strophe zu ihrem Lied dazu gedichtet– sie haben sich revanchiert, indem sie ihm den Buckel nahmen.
Höhlen sind Zufluchtsorte für Mensch und Tier, geheimnisvoll und dunkel. Manchmal bergen sie ungewöhnliche Schönheit. Im chinesischen Märchen „Die Höhle der Tiere“ sind es zwei Mädchen, die in der Wohnung von Fuchs und Wolf Unterschlupf suchen. Sie überwinden die beiden und können so auch eine Wende in ihrer eigenen unheilvollen Familiengeschichte herbeiführen.
Der Sumpf ist ein Ort, der bei uns in der Regel keine guten Gefühle und Assoziationen weckt. Und doch ist er ein Ort der Fruchtbarkeit, der Transformation und eines vielfältig anderen Lebens. Diese Erfahrung macht auch „der Bursche, der um die Tochter der Mutter im Winkel freien wollte“. Er trifft nur auf eine freundliche, aber hässliche Ratte. Dadurch, dass er alles geschehen lässt und die Ratschläge befolgt, kann sich alles wandeln und er eine Traumhochzeit feiern.
Kirchen, Tempel und Kapellen sind in alter Zeit oft an natürlichen Kraftorten erbaut Denn eine solche Kirche kann man nur selbst sein, indem man sein eigenes Leben zur Reife bringt. So weiß auch das Märchen um den letzten Kraftort, der wir selber sind. Märchenheld und Märchenheldin müssen lange Wege gehen und mannigfache Prüfungen bestehen, bis sie zu dem werden, was unsere höchste Möglichkeit ist: glücklich zu sein.
Magische Orte heute
„Kraft und Magie eines Ortes zeigen die Volksmärchen als Wesen, denen die Märchenheldin oder der Märchenheld dort begegnet. Das können weise, zauberkräftige Menschen, hilfreiche Totenseelen, Naturgeister, sprechende Tiere, heilende Pflanzen oder schenkende Bäume sein. Sie schützen auf dem Wege und helfen mit bei anstehenden Aufgaben und Prüfungen. Sie stehen bei in Grenzsituationen der Not und sie helfen mit bei Verwandlung und Erlösung. Ihre Hilfe antwortet auf Wesen und Handeln des jeweiligen Märchenmenschen.
Dem Volksmärchen sind Wunder etwas Selbstverständliches und die Magie eines Ortes kann sich auch in dem zeigen, was dort geschieht. Die erste, kostbare Einsicht dabei ist, dass Wunder überall geschehen können. So ist der Weg des Märchenmenschen schlicht der häufigste Ort, wo Zauberhaftes erfahren wird. Doch nur wenn ein Mensch Gewohntes verlassen und sich auf seinen Weg gemacht hat, wird er ein Wunder erleben“ (Adelheid Heim).
So ermutigen uns die Märchen, aufzubrechen in die Welt und Natur und dem zu begegnen, was wir sehen. Wunder sind immer möglich, Heilung kann geschehen, wo wir offenen Herzens sind, Dinge geschehen lassen und bereit sind, zu geben. Die Orte werden magisch, wo wir selbst unsere Magie entdecken und leben.
Dr. Jürgen Wagner