„Wenn ein ungestümer Waldstrom über die Berge stürzt, Bäume und Felsen mit sich reißt, pflegt das Alpenvolk in der Schweiz zu sagen: ‚Es ist ein Drach ausgefahren’“ (Brüder Grimm)
„‚Wie viele hast du umgebracht?'“ fragte der Drachenkönig seinen jüngeren Bruder. ‚Sechshunderttausend.‘ ‚Kamen Felder zu Schaden?‘ ‚Achthundert Meilen weit.‘ ‚Und wo ist der herzlose Gatte?‘ ‚Ich habe ihn gefressen.‘ (Die Tochter des Drachenkönigs und Sanlang)
„Hong Pansa träumte eines Nachts, dass ein Drache von so ungeheurer Größe in sein Zimmer käme, dass er selbst keinen Platz mehr darin hatte. Der Träumer erwachte und begriff sofort, dass ihm etwas Gutes bevorstände.“ (H. G. Arnous, Märchen und Legenden aus Korea)
Der Drache ist ein Fantasiewesen, das sich in der Regel aus drei Raubtieren zusammensetzt: einer Echse, einem Raubvogel und einer Raubkatze. Er ist also Ausdruck geballter Aggression, die über das Normale hinausgeht. Diese übermächtige Aggression kann man in Naturkatastrophen anschauen wie Fluten oder Erdbeben.
So fährt man in China mit Drachenbooten auf überflutete Gegenden, um den Drachen zu besänftigen und die Wasser wieder zurück zu bitten. Doch nicht nur die Natur, auch die Menschen sind in der Lage, beispiellos aggressiv zu handeln. So führten etwa die römischen Heere eine Drachenstandarte mit sich und eroberten viele Länder, die sie ausbeuteten und kulturell anpassten. Weh dem, wie Shakespeare sagt, der hier zum Opfer wird! Ob Überflutung oder Krieg: die Folgen sind immer verheerend.
Ein Weg, der große Gefahren und Hindernisse birgt
„Märchen sind mehr als wahr: nicht weil sie uns sagen, dass Drachen existieren, sondern weil sie uns sagen, dass Drachen geschlagen werden können.“ (Neil Gaiman, Coraline)
Wenn Märchen von Drachen erzählen, erzählen sie vom Weg eines Menschen, der große Gefahren und Hindernisse überwinden muss, wenn er sein Ziel erreichen will. Er braucht Mut, Vertrauen und Geschicklichkeit, ein gutes Herz und immer auch Hilfe von außen. Drachen sind für die Märchen also ein Bild für die Gefahren des Lebens: man kann z.B. entführt und gefangen genommen werden. Aber nicht alle Märchendrachen sind Entführer: manche Untiere bewachen auch einen Garten oder Brunnen mit lebensspendenden Gaben.
„Vielleicht sind alle Drachen unseres Lebens Prinzessinnen, die nur einmal darauf warten, uns zu sehen schön und mutig. Vielleicht ist alles Schreckliche in seiner tiefsten Form etwas Hilfloses, das Hilfe von uns will.“ (Rainer Maria Rilke, Briefe an einen jungen Dichter)
Gemeinschaften können selten ohne Aggression leben
Drachen warten manchmal selbst auf Erlösung. Auch sie, die in der Mythologie für chaotische Mächte stehen, können zu einer Ordnung finden und statt lebensfeindlich lebensförderlich werden. Ein Zorn an der richtigen Stelle und ein Feuerspucken zur rechten Zeit kann eine nötige Grenze setzen. Menschen wie Gemeinschaften können selten ohne Aggression und Aggressionsbereitschaft sicher leben.
So hat uns das atomare Gleichgewicht des Schreckens in Europa eine nie dagewesene Friedenszeit von 75 Jahren beschert. Thomas Hobbes schrieb im 17. Jahrhundert eine wichtige staatstheoretische Schrift mit dem Titel „Leviathan“ – gemeint war der Staat: er selbst ist der Drache! Manche Staaten wie China kann man leicht als Drache ansehen, die in ihrer Überwachung, Ausbeutung und Manipulation der Menschen keine Grenzen zu kennen scheinen.
Große Gefahr geht nicht immer von großen Wesen aus
Aber auch unsere freiheitliche Demokratie ist gegründet auf das Machtmonopol des Staates. Denn: wo käme ein Staat hin, wollte er auf Gewalt verzichten, Polizei und Militär abschaffen und ein gewaltloses Land des Friedens sein? Dazu müssten die Menschen andere sein, wenn das gelingen sollte. Auch die modernen Staaten sind ‚Drachen‘ und müssen, z.B. in einer Pandemie, Entscheidungen zum Wohl der Gemeinschaft treffen, die hart sein können.
„Mut ist am Großen orientiert. Man zeigt z.B. Mut im Kampf gegen Bären, Löwen, Drachen. Aber welcher Mut hilft gegen Viren, Bakterien, Bazillen?“ (Sigbert Latzel, Gedankentreibsand, Aphorismen)
Gerade in unserer Zeit machen wir die Erfahrung, dass große Gefahren nicht immer von großen Wesen oder Komplexen ausgehen. Es können genauso gut die kleinsten Wesen sein, die unsere Welt lahmlegen oder nachhaltig gefährden. Drachen als Sinnbild dessen, was unser Leben bedroht, müssen weder schrecklich aussehen noch Feuer speien. Sie können auch wie der Coronavirus ästhetisch aussehen, winzig sein und sehr unbemerkt unser Haus betreten und dem Bewohner die Luft zum Atmen nehmen.
Manche Gefühle können drachenhafte Gewalt ausüben
„Der Drache des Neides schlummert in uns. Sollten wir uns nicht von ihm befreien?“ (Katharina Eisenlöffel)
Auch manche Gefühle können drachenhafte Gewalt über uns ausüben, uns gar das Gefühl geben, davon aufgefressen zu werden: Neid, Eifersucht, Zorn, Rachsucht, Begierden, Habsucht. Bis man solches ausräumt, das kann ein langer Weg sein, den man ohne Hilfe selten meistert.
„Wer Geld hat, ist ein Drache, wer keines hat, ein Wurm.“ (Aus China)
Wer Geld hat, hat Macht. Er kann etwas. Das Sprichwort legt nahe: oft geschieht nichts Gutes, wenn Menschen über viel Geld verfügen. Sie wollen immer noch mehr. Sie könnten so viel Gutes damit bewirken – und verbrauchen es doch nur für sich selbst oder horten und bewachen ihre Schätze, wie es der Drache auch tut.
All die schönen Reichtümer bleiben so fruchtlos und nutzlos. Wer kein Geld hat und über keinen Besitz verfügt, ist arm dran. Nur wenn er über andere, innere Schätze verfügt, kann er auch mit wenig gut leben.
„Natürlich ist die Frau die Prinzessin und natürlich muss der Mann losziehen, um einen Drachen zu töten – doch manchmal ist die Prinzessin der Drache.“ (Heinz-Dieter Bludau)
Der Drache – in der Beziehung zwischen Mann und Frau
Der Drache scheint auch ein Moment in der Beziehung zwischen Mann und Frau zu sein. Der Mann will und muss die Frau erobern, um sie werben, um sie kämpfen. Dann ist nicht nur unter den Menschen so, das gilt im gesamten Tierreich. Und eine Frau will in der Regel auch erobert werden und darf es dem Mann nicht zu leicht machen, wenn er nicht die Achtung verlieren soll.
Der Drache steht hier für die natürliche Barriere zwischen den Geschlechtern, ohne die nicht die Hitze und das Feuer entstehen würde, das nötig ist, um den Funken des Lebens weiterzugeben. Nur manchmal ist die Prinzessin selbst der Drache. Dann ist ihre Weiblichkeit ins Negative gerutscht. Sie kann sich nicht mehr öffnen und hingeben und ist nur noch auf Abwehr und Angriff gepolt.
Auf Löwen und Ottern wirst du gehen, und treten auf junge Löwen und Drachen (Psalm 91/13)
Im Märchen ist der Held immer geschützt – im realen Leben nicht
Der Held ist im Märchen genauso wie in den heiligen Schriften immer geschützt. Im realen Leben ist das nicht immer so, dass man schadlos auf Löwen und Drachen treten kann. Da kann man oft nur hoffen, dass man es überlebt. Doch gerade der, der sich von seiner Angst lösen kann, ist überhaupt in der Lage, dem Schrecklichen in uns oder um uns zu begegnen, ohne gleich zu erliegen.
„Unsere tiefste Angst ist nicht, dass wir unzulänglich sind, unsere tiefste Angst ist, dass wir über die Maßen machtvoll sind. Es ist unser Licht, vor dem wir am meisten erschrecken, nicht unsere Dunkelheit. Wir fragen uns: Wer bin ich, dass ich so brillant, großartig, talentiert, fabelhaft sein sollte? Aber wer bist du denn, dass du es nicht sein solltest? Du bist ein Kind Gottes. Dich klein zu halten, dient der Welt nicht.
Dich klein zu halten, damit die anderen um dich herum sich nicht unsicher fühlen: das hat nichts mit Erleuchtung zu tun. Wir sind dazu bestimmt, zu leuchten wie Kinder. Wir sind geboren, um die Größe Gottes, der in uns lebt, zu verwirklichen. Und diese Größe ist nicht nur in einigen von uns, sie ist in jedem Menschen. Und wenn wir unser Licht leuchten lassen, dann geben wir unbewusst anderen Menschen die Erlaubnis, dasselbe zu tun. Wenn wir selbst von Angst frei sind, dann sind die anderen durch unser Dasein auch frei.“ (Marianne Williamson, Rückkehr zur Liebe)
Einen Tod stirbt man immer…
Manchmal kann sich Böses in Gutes wandeln, Krieg in Frieden, Wüste in fruchtbares Land. Der Drachenkampf ist kein überholtes Relikt aus längst vergangener Zeit und das Töten des Drachen ist mehr als ein patriarchaler Reflex. Denn wenn etwas Altes seine Zeit hatte, muss es sterben dürfen, damit etwas Neues werden kann. Sowohl der Kampf wie auch der Tod sind meist unausweichlich. Ob wir an innere Prozesse denken oder an gesellschaftliche Veränderungen: einen Tod stirbt man immer.
„Unsere größten Ängste sind die Drachen, die unsere tiefsten Schätze bewahren.“ (Rainer Maria Rilke)
Wenn man in der Lage ist, seiner Angst zu begegnen und sie zu beruhigen, wird man immer einen Schatz bekommen. Ob man es alleine schafft, wird man sehen.
Vor allem Frauen werden mit dem Drachen in Verbindung gebracht
Heute sitzen nicht mehr die Prinzessinnen in der Höhle, die vom Drachen bewacht werden. Heute bewachen sie die Drachen. (Erhardt Blanck)
Der Drache hat, wenn man seine babylonischen Ursprünge anschaut, weibliches Geschlecht. Bis heute werden vor allem Frauen mit dem Drachen in Verbindung gebracht („Hausdrachen“) – und es sind vor allem Männer, die den Drachen bekämpfen. Dass sich das Selbstbewusstsein der Frauen sehr gewandelt hat, zeigt dieses Zitat.
Im islamischen Kulturkreis z.B. sind sie noch die, die vom Mann und der Gesellschaft bewacht werden und wenig eigene Möglichkeiten haben, sich öffentlich zu betätigen. Aber in unserer christlich geprägten Kultur haben sie sich weithin lösen können aus den Banden des Patriachats und sind nun selbst ‚“Herr“ bzw. „Frau“ ihrer Kräfte und entdecken, was alles in ihnen steckt. Der Drache ist also auch ein Bild des Potenzials, das in uns steckt. Manchmal ahnen wir, was alles in uns steckt – wenn es nur jemand abrufen würde!
Nicht hoffe, wer des Drachen Zähne sät, Erfreuliches zu ernten. Jede Untat trägt ihren eignen Rache-Engel schon, die böse Hoffnung, unter ihrem Herzen. (Friedrich Schiller, Wallenstein)
Wer Gewält sät, wird Gewalt ernten…
Seine Angst zu überwinden soll nicht heißen, leichtsinnig zu werden. Wer mit Drachenkräften begabt ist, wer zu kämpfen weiß, wer sich durchsetzen kann, wer seine Ziele zu erreichen versteht, darf dennoch diese Kräfte niemals missbrauchen. Wo Menschen oder Gemeinschaften oder Staaten mit Ideologie Macht ausüben und Gewalt säen, werden sie auch Gewalt ernten.
Halbe Arbeit Leibeigenschaft war nur der Rumpf. Nur halb erlegte man den Drachen, der noch aus dem feudalen Sumpf. Zu uns herüberreckt den Rachen; Behalten blieb es bessern Tagen, das freche Haupt herabzuschlagen. (Theodor Storm, Gedichte)
Ist die Sklaverei tatsächlich abgeschafft?
In der Tat ist es eine große Versuchung, Macht über Menschen zu bekommen, sie zu besitzen, zu kontrollieren und zu lenken. Das ist in Diktaturen so, in autoritären Staaten, aber auch in menschlichen Beziehungen. Die Sklaverei ist heute zwar weitgehend abgeschafft, nicht aber die Mechanismen, die Menschen quasi zu Maschinen degradieren, die nur zu funktionieren haben und ihnen keinen Raum lassen zur Selbstentfaltung.
Da erschien ein Drache, groß und feuerrot, mit sieben Köpfen (Offenbarung 12/3)
Während in den alten Mythen der Drache auch an Naturkräfte gebunden ist und mehr oder weniger als Naturgewalt auftritt, wird er in der biblischen Tradition zum Symbol des Bösen und Widergöttlichen. Die Schlange und der Drache werden zum Inbegriff des Falschen, Lügnerischen und Mörderischen und müssen in der Endzeit bekämpft und überwunden werden.
Grenzen des Monotheismus
Hier kommt der Monotheismus deutlich an seine Grenze, denn eigentlich gilt: die ganze Schöpfung ist ein göttliches Werk und hat das Prädikat „sehr gut“ (1. Mose 1/31). Nun wird diese Erde in einem apokalyptischen Feuer vernichtet und es muss ein neuer Himmel und eine neue Erde werden (Offenbarung 21) – und alles beginnt von Neuem.
Dabei ist die Auflösung gar nicht so schwierig: die Welt besteht aus polaren Kräften, was man nicht auflösen, sondern aushalten, bewältigen und meistern muss. Das wissen eigentlich auch Bibelleser (Prediger 3/1ff).
Sie, die sie alle gebar (Enūma eliš)
Der älteste Drache in unserer westlichen Überlieferung ist eigentlich eine Drachin: Tiamat. Die babylonische Drachin steht für das Salzwasser und ist neben einer Naturgewalt auch eine Göttin. Aus dem Wasser kommt alles Leben – irgendwie wusste man das auch damals schon, dass Tiamat die ist, ‚die sie alle gebar‘. Trotzdem musste sie den gleichen mythischen Tod sterben wir der Urriese Ymir in unserer germanischen Tradition.
„Wenn du den Drachen ignorierst, wird er dich fressen“
Aus ihren Körpern schufen die Gotthelden jeweils Himmel und Erde. Wie es dazu kam, wird in einer langen Götter- und Familiengeschichte geschildert. Alles fing damit an, dass die jungen Götter dem Gatten Tiamats um den Schlaf brachten. Wenn man nicht mehr schlafen kann, ist das schrecklich. Da muss etwas geschehen. Letztlich setzen sich die jungen Götter durch und töten die alten, die ihre Eltern und Großeltern sind. Das bedeutet letztlich nichts anderes als dass ein Generationenwechsel erzwungen wird. Geht eine Epoche zu Ende, geht sie zu Ende.
„Wenn du den Drachen ignorierst, wird er dich fressen. Wenn du dem Drachen trotzst, wird er dich überwältigen. Aber wenn du den Drachen reitest, wirst du seine Stärke und Macht nutzen können.“ (Aus China)
Dr. Jürgen Wagner