München, Zenith, 7. Februar 2000. Ein Montag. Das neue Jahrtausend ist erst wenige Wochen alt. Die Halle ist voll, die Stimmung auf dem Siedepunkt. Hunderte tanzwütiger Menschen haben sich vor der Bühne versammelt, auf der gerade die Musiker von „Rage Against The Machine“ dabei sind, die Hütte abzureißen. Der Schweiß tropft aus allen Poren, die Meute geht durch die Decke. Fettes Stage-Diving, wilder Pogo, Ellenbogen hier, Rippenstoßer da. Und wenn einer zu Boden geht, sind sogleich zehn helfende Hände da, die den Gefallenen wieder auf die Beine stellen. Was zu diesem Zeitpunkt keiner weiß: Es sollte eines der vorerst letzten Konzerte von RATM-Frontmann Zack de la Rocha sein.
Rückblick ins Jahr 1993. Ich bin 13 Jahre alt, ziemlich pubertär. Die Schule ist mir – gelinde gesagt – völlig schnuppe, meine Noten sind nicht gerade die besten. Mich interessieren gerade andere Dinge als Mathe, Latein und Religion. Das gemeinsame Abhängen mit den Kumpels, das Interesse an den Mädchen im Freibad, die erste (heimlich gerauchte) Zigarette, der erste Rausch – das steht im Vordergrund. Und Musik.
Eine Zeit des alltäglichen Trial- und ErrorsEs
Crossover war angesagt. Eine Musikrichtung aus den USA, eine Mischung aus Hardcore und Hiphop, garniert mit schweren Gitarren und Rap-Lyrics. Eine Kreuzung unterschiedlicher Stile der Hiphop- und Rockmusik. „Zwischen 1994 und 1998 war diese Art von Crossover der Trend schlechthin in der Alternative- und Metal-Szene. Bands wie Rage Against the Machine, Body Count oder Dog Eat Dog verkauften ihre Alben hunderttausendfach“, gibt Wikipedia dazu preis. Sie standen Pate für Combos wie Korn, Limp Bizkit, Slipknot oder Linkin Park.
Unbedingt zu erwähnen in diesem Zusammenhang ist der Film „Judgement Night – zum Töten verurteilt„, mit Emilio Estevez in der Hauptrolle. Denn der Soundtrack dazu hat den Grundstein für den Crossover-Stil gelegt und gilt als eines der erfolgreichsten Konzeptalben des Genres. Rock- und Hiphop-Combos wie Helmet und House of Pain, Biohazard und Onyx, Slayer und Ice-T oder Pearl Jam und Cypress Hill entfachten 1993 den Hype, der Millionen in seinen Bann zog.
Selbstfindungs-Zeit
Doch dies soll keine musikgeschichtliche Abhandlung sein, sondern ein Schwelgen in Erinnerungen an eine Zeit, die mich und viele meiner jugendlichen Artgenossen geprägt hat. Eine Zeit, in der es galt, sich selbst zu finden, all die Irrungen und Wirrungen des Heranwachsens zu verdauen und einzuordnen. All die damit verbundenen Unsicherheiten zu kompensieren. Eine Zeit des sich Ausprobierens, des Auslotens von Grenzen, des alltäglichen Trial- und Errors. Eine Zeit des sich Auflehnens gegen die Welt der Erwachsenen, gegen gesellschaftliche Regeln und Gepflogenheiten, die man kritisch zu hinterfragen begann.
Wenn ich heute zurückdenke, tauchen aber auch viele schöne Erinnerungen auf. Meist lustige Begebenheiten im Freundeskreis. Genauso wie Geschichten von kleinen Siegen, großen Enttäuschungen, gewaltsamen Auseinandersetzungen und Lachsalven, bei denen einem die Tränen gekommen sind. Momente der Neugierde, der Lust aufs Leben, der Neu-Entdeckungen und der Unbeschwertheit – frei nach dem Motto: „Was morgen ist, ist heute noch völlig egal.“
Songs, die sich ins Gedächtnis eingebrannt haben
Und die Musik als ständiger Begleiter. Ob im Auto der älteren Kumpels, im Jugendzimmer des besten Freundes, beim Lagerfeuer am Waldrand, im Freibad auf der Decke oder im Gartenhäuschen hinterm Haus – ständig waren besagte Bands an unserer Seite, ließen uns deren Texte mitsingen, mitpfeifen, mitgrölen. Selbst heute noch, 30 Jahre später, sind wir noch dazu imstande, einschlägige Lieder aus der Jugendzeit mitzuträllern, ohne dabei nur einmal überlegen zu müssen, wie die Songzeile endet. So sehr haben sich die Stücke in unser Gedächtnis, in unser Unterbewusstsein eingebrannt. So sehr ist dies alles in Fleisch und Blut übergangen, dass es bis heute nachwirkt.
So wie die Songs von „Rage Against The Machine“ (kurz: RATM), dessen bekannteste Single damals wohl „Killing in the Name“ gewesen sein dürfte. Ein Lied, das auf dem Debütalbum (1992) vertreten war und der US-Band zum Durchbruch verhalf. Ein Lied, das sich gegen Rassismus in US-staatlichen Institutionen wendet, gegen Mitglieder des Ku-Klux-Klan, die als Polizisten beschäftigt sind. Gerade die sich mehrmals wiederholende und von Zack de la Rocha mit voller Inbrunst hinauskrakeelte Textzeile „Now you do what they told ya“ erreichte in unseren Breitengraden Kultstatus, da diese insbesondere von den Waidlern mit „Leig‘ ma du deine Tuanschuah“ – sinnfrei aber witzig – ins Bairische übersetzt wurde.
In meinem CD-Regal befinden sich neben dem ersten RATM-Album freilich noch weitere Exponate der kalifornischen Band: „Evil Empire“ (1996) und „The Battle of Los Angeles“ (1999), die beiden Nachfolge-Werke. Alben, die dem Erstling in Sachen Power und Energielevel meiner Meinung nach in nichts nachstehen. Die mich begleiteten und meinen Weg bereiteten hin zu jenem unvergesslichen Abend im Münchener „Zenith“, den ich gemeinsam mit meinen Kumpels gefeiert, genossen, gelebt habe – und der bis heute nachhallt.
Erinnerungen, die bleiben
Ja und dann? Dann war’s vorbei mit „Rage Against“. Frontmann Zack de la Rocha war raus – und ich ebenso. Der Crossover-Hype war Vergangenheit, meine musikalische Entwicklung nahm neue Züge an. Was bleibt, sind ein paar wunderbare Erinnerungen an längst vergangene Tage, die heutzutage beim Auflegen alter CDs immer noch aufflammen. Erinnerungen an eine Jugendzeit, die es trotz und auch wegen all der Irrungen und Wirrungen wert war, heute versöhnlich auf sie zurückzublicken. Dank der Musik, dank Crossover.
Stephan Hörhammer