Die Märchentiere haben ihren Ursprung in den schamanischen Krafttieren. So wie diese den Schamanen begleiten, ihm oft ein Leben lang raten und helfen, so tun dies auch die sprechenden Tiere in den Volksmärchen mit dem Märchenhelden. Mit der Christianisierung der alten schamanischen Kulturen verdunkelten auch deren Symbolen, Totems und Geistwesen. Aus der Eule als stiller, scharfsichtiger und geschickter Jäger wurde eine „Macht der Finsternis“ und ein Begleittier böser Hexen.
Doch nicht nur im christlich-europäischen Mittelalter, auch in orientalischen und asiatischen Kulturen galten Eulen als Todesboten und ihre durchdringenden Rufe standen für kommendes Unheil und Schrecken. Hier war sichtlich die Angst der Vater des Gedankens. Anders war es bei den Griechen und Römern: ihnen war die Eule als Tier der Athena/Minerva heilig und Inbegriff der Weisheit. Heute ist es an der Zeit, diese wundervollen Tiere aus dem Schatten des Unheimlichen und Angsterregenden herauszuholen und sie besser zu verstehen.
Der Name
Die deutsche Sprache kennt die Bezeichnungen „Eule“ und „Kauz“. Diese Unterscheidung wird so in keiner anderen europäischen Sprache getroffen. Im Englischen werden alle Eulenarten als „owl“ und im Niederländischen als „uil“ bezeichnet. Die französische Sprache kennt zwar neben „chouette“ noch den Begriff „hibou“, jedoch wird letztere Bezeichnung ausschließlich für Eulen mit Federohren wie die Waldohreule verwendet.
Die beiden deutschen Begriffe haben sich lautmalerisch aus den Rufen der Eulen entwickelt. „Eule“ weist auf die heulenden Rufe hin, während „Kauz“ eine Umschreibung der kurzen und markanten Rufe ist. Der Begriff Eule wird im Deutschen vorwiegend für Arten verwendet, die in ihrem Erscheinungsbild schlank wirken. Kauz – im Deutschen auch für die Gattung Strix verwendet – bezeichnet meist Arten, die eher gedrungen und rundlich wirken
Verbreitung
Außer in der Antarktis findet man Eulen auf allen Kontinenten. Durch ihre Anpassungsfähigkeit sind sie auch in kalten und schneereichen Klimazonen beheimatet. Dort ist ihr Gefieder weiß und sie trägt den schönen Namen Schneeeule. Tagsüber sieht man die Eule selten, erst in der Dämmerung zeigt sie sich.
Fähigkeiten
Eulen verfügen über eine Reihe ganz erstaunlicher Fähigkeiten. Ihren Kopf können sie bis zu 270 Grad drehen – ohne jegliche Körperbewegung kann das Tier dann einfach über seine gegenüberliegende Schulter blicken. Sie hat ein hervorragendes räumliches Sehen und kann damit Entfernungen genauestens einschätzen, auch beim Schauen durch Hindernisse, wie Geäst und hohes Gras.
Der Eule dient ihr gesamtes Gesicht als Schalltrichter. Ihre Ohren sind höhenversetzt angeordnet. Diese anatomischen Besonderheiten verschaffen ihr ein außerordentlich gutes Gehör nach allen Richtungen. Sie kann deshalb schon leiseste Geräusche auf große Entfernungen cm-genau lokalisieren und auch deuten. Dazu hat sie lange und äußerst scharfe Krallen, denen nach dem Zupacken nichts mehr entkommt.
Geistiger Begleiter des Menschen
Weil sie nachtaktive Jäger sind, die lautlos zuschlagen, umgab Eulen auch schon immer eine Aura des Geheimnisvollen und Besonderen. Im antiken Griechenland etwa war der Steinkauz das Attribut der Göttin Athene, dessen Abbild sogar auf zahlreichen Münzen eingeprägt war.
Ob bei den Indianern, in schamanischen Kulturen oder im alten China – überall galt die Eule als Grenzgängerin zwischen den Welten. Scharfblick, ein ausgezeichnetes Gehör und ein lautloser Flug zeichnen sie aus. Im christlich-europäischen Mittelalter brachte man sie deshalb mit Hexerei und Zauberei in Verbindung.
Schutz
Fast alle Eulenarten gelten in Deutschland als gefährdet. Für den Rückgang ihrer Populationen ist vor allem die Habitatzerstörung der alten, naturbelassenen Wälder verantwortlich. Durch die Intensivierung der Landwirtschaft stehen auch weniger Kleinsäuger als Nahrungsquelle zur Verfügung
Die Eule in den Volksmärchen
Im Grimm’schen Märchen „Die Eule“ (KHM 174) wird sehr deutlich gesagt, welche Rolle sie im Gefühl der Menschen und in den meisten Volksmärchen einnahm:
Als nun der Hausknecht morgens in die Scheuer kam, um Stroh zu holen, erschrak er bei dem Anblick der Eule, die da in einer Ecke saß, so gewaltig, dass er fortlief und seinem Herrn ankündigte, ein Ungeheuer, wie er zeit seines Lebens keins erblickt hätte, säße in der Scheuer, drehte die Augen im Kopf herum und könnte einen ohne Umstände verschlingen.
Die „große Eule“ wird „Schuhu“ genannt und wird am Ende mitsamt der Scheuer (Scheune) verbrannt. Vermutlich ist hier der Uhu gemeint. In „Die Eule und ihre Jungen“ wird sie unter „die abscheulichsten unter den Vögeln“ gerechnet; gleichwohl hält die Eule selbst ihre Jungen für die allerhübschesten. Im englischen Märchen „Die Eule war eines Bäckers Tochter“ wird ein hartherziges Mädchen von der Fee mit der Verwandlung in eine Eule bestraft:
„Die Welt hat schon zu lang deine Selbstsucht und deinen Geiz ertragen.“ Sie schlug mit ihrem Stab nach dem Mädchen, und das wurde zu einer Eule und flog mit hoohoo hinaus in die Nacht.
Man projizierte auf dieses Tier alles, was unheimlich war
Das Volk brachte also dieses Tier in Verbindung mit dem Bösen. Warum? Weil es einem unheimlich war und man Ängste hatte. Man kannte dieses Tier nicht wirklich und projizierte deshalb auf es, was einem auch sonst unheimlich und ungeheuer war. Dazu gehörte das Böse, die Magie und es sind vor allen besondere Frauen, denen man die Eule beigesellte. In „Jorinde und Joringel“ (KHM 69) verwandelt sich die böse „Erzzauberin“ tagsüber in eine Eule. Jorinde hat einiges auszuhalten:
Jorinde war in eine Nachtigall verwandelt, die sang: „Zicküth, Zicküth“. Eine Nachteule mit glühenden Augen flog dreimal um sie herum und schrie dreimal „Schu, hu, hu, hu.“
Auch mit dem Tod wurde dieses Tier in Verbindung gebracht. Hörte man unversehens einen durchdringenden Eulenruf, deutete man dies als böses Omen. Im spanischen Märchen „Juan Holgado und Frau Tod“ bekommt der Märchenheld den Altenhusten und Frau Tod ließ ihm durch eine Eule sagen, dass sie ihn bald besuchen werde.
Nur hier und da scheint die alte Wertschätzung für dieses Tier noch durch wie im Märchen „Padischah Suleiman“ aus Dagestan. Bezeichnenderweise ist es hier auch ein Mann, dessen Weisheit hier noch mal auf die Probe gestellt wird.
Es gibt auch positive Märchen-Darstellungen der Eule
In alten Zeiten lebte ein weiser Padischah mit Namen Suleiman. Er verstand die Sprache aller Tiere der Erde. Er hatte vier Frauen. Eines Tages erkrankte eine von ihnen. Wonach das Herz einer Kranken bloß gelüstet! Sie ließ den Padischah zu sich bitten und sagte: „Bau mir ein Schloss aus den Knochen aller Vögel der Erde.“ Padischah Suleiman rief die Vögel zu sich. Sie kamen aus allen Himmelsrichtungen. Nur die Eule fehlte. Padischah Suleiman ließ sie einmal benachrichtigen, ein zweites Mal und schließlich zum dritten Mal. Doch sie flog erst nach dem vierten Mal herbei. „Ich habe dreimal nach dir ausgeschickt. Warum bist du nicht erschienen?“ fragte der Padischah.
Die Eule entgegnete: „Ich habe die ganze Zeit nachgedacht, mein Padischah.“
„Worüber hast du dir so schwere Gedanken gemacht?“
»Ich habe darüber nachgegrübelt, ob es auf der Welt mehr Lebende oder mehr Tote gibt.«
»Und bist du zu einer Erkenntnis gekommen?«
»Ja.«
»Zu welcher?«
»Nun, alle Lebenden sterben, deshalb denke ich, dass es auf der Welt mehr Tote als Lebende gibt.«
»Und worüber hast du nachgedacht, als ich das zweite Mal nach dir rief?«
»Da überlegte ich, was es mehr gibt auf der Welt – Festland oder Wasser.«
»Und bist du dahinter gekommen?«
»Ja.«
»Was gibt es nach deiner Meinung mehr?«
»Wenn man in der Erde gräbt, so tritt Wasser heraus. Deshalb dachte ich, es gibt mehr Wasser auf der Welt als Festland.«
»Und welche Überlegungen haben dich beim dritten Mal aufgehalten?«
»Beim dritten Mal sann ich darüber nach, ob es mehr Männer oder mehr Frauen auf der Welt gibt.«
»Das ist ja interessant! Und zu welchem Schluss bist du gelangt?«
»Darüber sann ich sehr lange nach. Deshalb habe ich mich verspätet.«
»Hast du die Aufgabe wenigstens gelöst?«
»Natürlich. Ich habe den Frauen auch jene Männer zugezählt, die auf die unbedachten Worte der Frauen hören, und kam zu dem Schluss, dass es wohl mehr Frauen als Männer gibt.«
Da wurde Padischah Suleiman verlegen, hatte er doch wegen einer Laune seiner Frau alle Vögel um sich versammelt. Er entließ sie und gab ihnen die Freiheit zurück.
Dr. Jürgen Wagner