
Als „Star“ der Szene würde sich „Eve“ Grass nicht bezeichnen, aber immerhin hatte sie jüngst im Rahmen der Frankfurter Buchmesse zwei Lesungen. Fotos: Grass
Nürnberg/Bayerisch Eisenstein. Obwohl sie gebürtig aus Nürnberg kommt, ist der Bayerische Wald ihre Heimat – und auch ihre Muse. Am Fuße des Großen Arbers, in Bayerisch Eisenstein, dem Geburtsort ihrer Mutter, kann sie ungezwungen ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Ihrer Fantasie für Fantasy. Denn im Bereich der Mythologie, Sagen und Märchen fühlt sich Evelin „Eve“ Grass bestens aufgehoben…
Die Sehnsucht, ihre Gedanken auf Papier zu bringen, trägt die 67-Jährige schon lange in sich. „Bereits als Kind habe ich kleine Geschichten geschrieben.“ Doch wie es im Leben so ist, blieb im Alltag nur wenig Zeit für das, was in einem schlummert. „Arbeit, Ehemann, Kinder“ bestimmten jahrelang ihre Freizeit, was aber keinesfalls negativ ausgelegt werden soll. Sie hat es gerne getan. Genauso wie sie mit Leidenschaft eine Pferdezucht im Schwarzwald betrieben hat – und 17 Jahre als kaufmännische Angestellte im Luftfahrtbereich tätig war: „Ich habe mich bei einer Rettungsflieger-Staffel um die Ersatzteil-Beschaffung gekümmert.“
„Jetzt hast Du Zeit zum Bücher schreiben“
Es war alles gut so. Evelin Grass – übrigens nicht verwandt oder verschwägert mit dem bekannten Schriftsteller Günter Grass – würde alles wieder genauso machen, sagt sie. Und auch den kurzzeitigen Schock, als sie 2016 ihren Vollzeit-Job nach der Zerschlagung ihres Arbeitgebers verloren hatte, konnte sie relativ leicht und schnell abschütteln. „Dann hat mein Lebensgefährte gesagt: Jetzt hast Du Zeit zum Bücher schreiben“, erinnert sich die Fränkin mit Woid-Wurzeln. Die finanzielle Unabhängigkeit des Paares spielte der damals 59-Jährigen freilich in die Karten. Sie konnte ohne Druck in ihre eigene Welt eintauchen.
Werke aus der Feder der „fränkischen Waidlerin“:
Bayerisch Eisenstein nimmt dabei eine zentrale Rolle ein. Bereits als Kind fungierte der deutsch-tschechische Grenzort als ihre zweite Heimat. Manchmal, weil sie musste, beispielsweise wenn sie Keuchhusten hatte – „da hat mir die gute, reine Luft geholfen“. Großteils aber, weil sie wollte. „Irgendwie bin ich dann doch eine Waidlerin“, gibt die Nürnbergerin zu und schmunzelt. Später baute sie sich eine kleine Ferienwohnung so um, damit sie den Anforderungen eines Zweitwohnsitzes entspricht. Die Rahmenbedingungen für die Karriere nach der Karriere waren also vielversprechend.
Überlieferte Erzählungen als Ideengeber
Und den Rest tat der Woid. Weil er so ist, wie er ist. Ein Landstrich mit dunklen, teilweise unberührten Wäldern. Mit einer scheinbar unendlichen Weite. Und als Kulturregion mit unglaublich vielen Brauchtümern, Traditionen und Mythen. Genau der richtige Nährboden für Evelin Grass‘ Gedanken. Wasser auf ihre Fantasy-Mühlen, weil dieses Genre ohnehin das Ihrige ist – schon immer war. Los ging es mit der „Pegasosgen“-Reihe (Verlag der Schatten), die zwischen 2018 und 2020 erschien. Und es sprudelte gerade nur so. „Eigentlich war das Erstlingswerk nur als ein Buch gedacht. Aber es wurde so lang, dass daraus eine Serie entstanden ist.“
Schreiben fällt ihr eigenen Angaben zufolge überhaupt nicht schwer. „Viele meiner Geschichten entstehen auf Wanderungen im Bayerischen Wald.“ Zahlreiche Orte zwischen Osser und Dreisessel, oft verbunden mit überlieferten Erzählungen, dienen dabei als Ideengeber. Auch aktuelle (Umwelt-)Themen lässt sie immer wieder miteinfließen. Der Rest entsteht in ihrem Kopf. So arbeitet sie derzeit an der Fortsetzungsserie „Hinter dem Zifferblatt“, die in Lohberg, Regen, Zwiesel und dem Lokalbahnhof Bayerisch Eisenstein spielt. Und auch für das Hüttendorf „49gradnord“ in Regenhütte hat sie geschrieben.
„Das ist nicht unbedingt Mainstream“
Ja, gewiss, ihre Fantasy-Geschichten haben – logischerweise – nichts mit der Realität zu tun. Derartige Geschichten fesseln aufgrund ihrer Surrealität. „Das ist nicht unbedingt Mainstream“, gibt die 67-Jährige zu. Würde sie eine von unzähligen Autorinnen von Regionalkrimis sein, hätte sie wohl ein breiteres Publikum. Von Massen gelesen bzw. geliebt zu werden, ist jedoch nicht ihr Antrieb. „Es geht mir darum, das zu schreiben, was ich gerne schreibe.“ Angst davor, nicht anzukommen, hat sie nicht. Weil sie keinen entsprechenden Druck verspürt. Und ohnehin: „Das sind keine blutrünstigen Geschichten – sie haben auch immer ein Happy End.“
Weitere Erscheinungen von Evelin Grass:
Ein glückliches Ende, auch wenn dieses in biologischer und schriftstellerischer Hinsicht hoffentlich noch lange nicht in Sicht ist, hat auch die facettenreiche Biographie von Evelin „Eve“ Grass genommen. Sie hat es sich erarbeitet, das tun und lassen zu können, was sie möchte: die Schreiberei. Hinzu kommt, dass sie sich angekommen fühlt. In ihrer Vergangenheit, im Bayerischen Wald. Dort, wo Sagen und Mythen genauso dazugehören wie Fichten und Buchen…
Helmut Weigerstorfer