Im Leben spielen viele Eigenschaften eine Rolle, die wir auch in Märchen finden: Stärke, Mut, Geschicklichkeit, List, Ausdauer und andere mehr. Eines wird in unseren europäischen Märchen jedoch besonders betont: Mitgefühl zu haben, Hilfsbereitschaft, Güte, Barmherzigkeit, Liebe, Herzlichkeit – kurz gesagt: ein gutes Herz. Warum dies so ist, hängt mit unserer jüdisch-christlichen Tradition zusammen. Ein Gastbeitrag.

St. Martin, dessen Gedenktag am 11. November begangen wird, verkörpert das „gute Herz“ und ist ein Inbegriff für „Nächstenliebe“. Fotos: Apollon Tempel Verlag/wikimedia
Zwar pflegt man auch im Buddhismus das Mitgefühl, im Islam und Hinduismus die Mildtätigkeit – und selbst in den Jägerkulturen gibt es Rücksicht, Hilfsbereitschaft und Friedfertigkeit. Doch nur die jüdisch-christliche Tradition betont die Liebe auf eine solch ausschließliche Weise:
Das höchste Gebot ist das:
Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst.
Es ist kein anderes Gebot größer als diese beiden (nach Mk 12, 29-31).
Das hat alle europäischen Völker geprägt – bis in ihre Sozialstaatlichkeit hinein. Es ist klar, dass mit der Liebe hier nicht die gegenseitige Anziehung der Geschlechter gemeint ist, sondern die Zuwendung zum Nächsten ohne Rücksicht auf Volk oder Stand, Verwandtschaft oder Sympathie – und auch die Hingabe an das Göttliche. Ob man gut daran tut, die Liebe so zu verabsolutieren, darf man fragen.
Stärke und Mut, aber auch Güte und Hilfsbereitschaft
Wir werden sehen, dass die Volksmärchen aus dem Schatz kollektiver Menschheitserfahrung dazu etwas zu sagen haben. Denn die Werte der europäischen Volksmärchen sind keiner Dogmatik verpflichtet, sie spiegeln die kollektive geschichtliche Erfahrung wider. Dazu gehören Stärke und Mut, aber auch Güte und Hilfsbereitschaft.
Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz des Herzens Gutes hervor, der böse Mensch bringt aus seinem bösen Schatz Böses hervor. (Mt. 12/35).
Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an! (1. Sam 16/7).
Behüte dein Herz mit allem Fleiß, denn daraus quillt das Leben. (Spr. 4/23).
An den Früchten kann man erkennen, ob der Bauer etwas taugt
In der biblischen Tradition meint man mit dem Herzen den Quellgrund unseres Denkens und Handelns, die Mitte der Persönlichkeit, unsere innere Motivation. Es ist das, was letztlich zählt: Nicht die Zugehörigkeit zu einer Religion oder Rasse, nicht die Größe der Taten oder des Erfolges, nicht der erworbene Ruhm oder Ruf – die innere Einstellung ist das Ausschlaggebende!

Erstveröffentlicht wurde dieser Text von Dr. Jürgen Wagner im Magazin „Märchenland und Zauberwald“, Ausgabe 6.
Das rechtfertigt keine Schlamperei nach dem Motto ‚Gut gemeint, aber schlecht gemacht‘. Es ist das Vertrauen darauf, dass ein guter Baum auch gute Früchte hervorbringt, ein schlechter Baum aber schlechte. Deshalb kann man an den Früchten erkennen, ob ein Baum etwas taugt (Mt. 7/17-20).
Auch wenn uns das heute selbstverständlich scheint: Das Christentum hat hier etwas Neues und Revolutionäres in die Welt eingebracht. Interessant zu sehen, wie die Volksmärchen das aufgenommen und umgesetzt haben.
Ein rumänisches Märchen möge hier für viele sprechen:
In einem kleinen Gebirgsdorf lebte einmal ein armer Korbflechter mit seiner alten Mutter. Er war sehr hässlich von Gestalt, lahm und schielte mit dem linken Auge. Die Leute im Dorf sagten, er habe den ‚bösen Blick‘ und gaben sich nicht gern mit ihm ab. Weit und breit nannte man ihn den ‚dummen Georg‘, denn er hatte ein sehr gutes Herz und teilte auch noch sein letztes Stückchen Brot mit den Menschen, die es verlangten („Der arme Korbflechter und die drei Quellen„).
Reiche und Mächtige gelten oft als geizig und hartherzig
Was viele Märchen unter einem „guten Herz“ verstehen, ist die Bereitschaft, das, was man hat, mit anderen zu teilen. Die Märchen werden nicht müde zu erzählen, wie alles Gute, das man anderen Wesen tut, früher oder später wieder zu einem zurückkommt (z. B. Die Bienenkönigin, KHM 62). Was der Mensch sät, das kann und wird er auch ernten (Gal. 6/7).
Im Märchen sind es häufig Arme, Behinderte und Benachteiligte, denen ein gutes Herz nachgesagt wird, während Reiche und Mächtige oft als geizig und hartherzig geschildert werden. Hier ein solches Gegenbeispiel:

Hinter dem Märchen-Magazin steckt der Apollon Tempel Verlag – und dieser gehört Karin Biela.
So schickte der Graf einen Befehl an alle Häuser: „Wer einem Bettler etwas schenkt, der wird von Haus und Hof gejagt!“ („Der Graf mit dem steinernen Herzen„).
Beispiel: Hollemärchen
Dieser edle Herr in dem österreichischen Märchen regiert so „hart und unerbittlich“, dass man von ihm sagt, er hätte ein steinernes Herz. Weil er so herrschsüchtig ist, erlässt er sinnlose Anordnungen, die nur darauf aus sind, die Menschen zu drangsalieren.
Die Märchen entfalten positive wie negative Beispiele – erst beide zusammen spiegeln die Wirklichkeit wider. Im Hollemärchen kann man an der Goldmarie erkennen, was Hingabe einem schenken kann – an der Pechmarie, was Bequemlichkeit einem bescheren kann. So sind auch der Korbflechter mit dem guten und der Graf mit dem steinernen Herzen zwei Möglichkeiten, die in uns angelegt sind.
Das österreichische Märchen sagt von der Herzensgüte, dass man die Menschen achten und für ihr Wohl sorgen soll, wenn man in der Verantwortung steht. Das geht bei manchen Menschen aber nur, wenn sich ihre innere Verhärtung löst. Dazu kommt es leider oft nicht. Dieses Märchen endet so, dass der hartherzige Graf von einem Jäger aus der anderen Welt zur Rechenschaft gezogen und aus diesem Leben gerufen wird. Steht hier der „Wode“ (Odin) im Hintergrund, den man auch den „wilden Jäger“ nannte, der diese Seele abholt?
Märchenhelden pflegen keine Gottesbeziehung
Die Märchen sind niemals nur der verlängerte Arm der Religion. Ihnen liegt nichts an der Reinheit der Moral und des Glaubens, aber daran, dass das Gute erkannt und ergriffen wird. Zum Märchen gehören auch die Aufschneiderei des „tapferen Schneiderleins„, die Naivität des „Hans im Glück„, die Schwindelei des „Doktor Allwissend“ u. a. m.

Eine Szene aus dem Märchen „Goldene Gans„.
Die Volksmärchen pflegen vorchristliche Werte wie Fleiß, Tapferkeit, Listigkeit, Humor und Gerechtigkeit. Zum anderen lassen sie spezifisch christliche Akzente einfach auch weg: die Betonung von Buße, Umkehr und Vergebung (s. Ps. 7/10), z. B. auch der Märchenheld versagt manchmal und braucht eine zweite und dritte Chance, aber das wird nie breitgetreten (KHM 57). Märchenhelden pflegen keine Gottesbeziehung (1. Sam 2/1), sie leben wie Kinder direkt und handeln unmittelbar – so erlangen sie Glück und Segen (vgl. Mt 18/2f).
Blick zu den Indianern
Auch in anderen Völkern und Kulturen kennt man das Bild des guten wie des steinernen Herzens:
So heiter und herzensgut Chibiabos war, so böse und grausam war Chokanipok, der jüngste von den Brüdern. In dem gleichen Maß, wie Chokanipoks Hass gegen die Menschen und die Indianer wuchs, verwandelte sich sein Herz allmählich zu Stein („Manabusch“, Märchen der Menomini, Nordamerika).
Das indianische Märchen sagt, wie es zu einem versteinerten Herzen kommen kann: wenn man anfängt zu hassen und nicht wieder damit aufhören kann. Es sagt darüber hinaus, dass es nicht genügt, „den Menschen nur Gutes zu tun“, man muss „in die Welt ziehen und Erfahrungen sammeln“, damit man auch „gute Ratschläge geben“ kann.
Einer allein kann auf Dauer nicht bestehen
Darin wird deutlich, dass Güte allein nicht ausreichen wird, um im Leben zu bestehen. Es braucht auch die Erfahrung, damit man den Frühling kennenlernt, aber auch den Herbst, den Sommer, aber auch den Winter. Erst wenn man die Höhen und die Tiefen des Lebens kennt, kann man lebensklug und weise werden.
Eine der wichtigsten Erfahrungen ist, dass die Wesen miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Deshalb kann einer allein auf Dauer nicht bestehen. Wir dürfen lernen, etwas von dem zu geben, was wir haben. So werden auf die Länge der Zeit viele etwas davon haben. Das betrifft materielle Güter, seelische und geistige.

„Sterntaler“: Ein armes Waisenmädchen, das außer einem Stück Brot nichts besitzt, geht in die Welt hinaus.
Weil du ein gutes Herz hast und von dem deinigen gerne mitteilst, so will ich dir Glück bescheren. Dort steht ein alter Baum, den hau ab, so wirst du in den Wurzeln etwas finden („Die Goldene Gans“, KHM 64).
Seelischer Reichtum
Vielleicht ist es im Leben so, dass man als freigiebiger Mensch nicht materiell reich wird, aber doch in seiner Seele. Man kann dadurch ein glücklicher Mensch werden.
Die Herzensgüte steht immer etwas im Verdacht, naiv und weltfremd zu sein. Was es damit auf sich hat, zeigt ein französisches Märchen:
Dieser junge Prinz, das arglistigste Gemüt seiner Zeit, regierte seinen Vater gänzlich, jedoch brauchte es hierzu eben nicht die größte List von der Welt, denn dieser König war so sanftmütig und willfährig, dass man ihm den Beinamen Herzensgut gegeben hatte („Die gewandte Prinzessin„).
Der König mit dem wenig schmeichelhaften Beinamen ‚Herzensgut‘ hat es versäumt, seine männliche Seite zu verwirklichen. Mit Sanftmut alleine kann man nicht regieren und wird manipulierbar. So kommt es, dass ein junger Prinz das Heft des Handelns in die Hand nimmt. Dieser freilich ist „betrügerisch und hinterlistig“ und bewirkt nichts Gutes. So kommt es, dass man das Gute will und das Böse schafft.
Rumänien und ein typischer Familienkonflikt
Es gibt auch noch eine andere Falle in dieser Sache, die heißt Leichtsinn. Davon weiß ein rumänisches Märchen:
„Schwiegertochter, liebe Schwiegertochter, gib mir ein wenig Wasser.“ – „Wart, Schwieger, warte, bis ich das Mittagessen bereitet, dann will ich dir Wasser bringen.“ („Die herzlose Schwiegertochter“)
Hier handelt es sich um einen typischen Familienkonflikt in einem schönen, großen Haus, das „nach außen mit lauter Heiligen kostbar be-malt“ ist. Nach innen jedoch ist das Haus alles andere als heilig. Die Schwiegermutter ist krank und fiebert. Immer wieder bittet sie ihre Schwiegertochter um etwas Wasser und immer wieder wird sie von dieser vertröstet – bis sie stirbt.
Sie hatte es einfach wieder „vergessen“. Das Gute meinen und sich vornehmen und es nie tun, ist am Ende fast so verderblich, wie wenn man es gar nicht im Sinn hat.
Schauen wir zum Schluss noch in den asiatischen Kulturraum. An einem japanischen Märchen kann man sehen, dass „herzensgut“ nicht immer das bedeutet, was wir darunter gewohnt sind zu verstehen: „im Vertrauen auf den lieben Gott“ zu geben, was man hat („Die Sterntaler“, KHM 153).
Eine etwas andere Definition von „Herzensgüte“
Einst lebte in einem Dorfe ein herzensguter, fröhlicher Mann, der sich mühevoll seinen Lebensunterhalt verdiente, dabei aber immer lustig und guter Dinge war. Auf der rechten Wange hatte er eine große, hässliche Warze, die ihn sehr verunzierte, doch machte er sich nicht viel daraus, und wenn ihn die Leute dann und wann wohl darüber neckten, so fing er mit ihnen zu lachen an und kränkte sich nicht darüber.
Sein Nachbar indessen, der merkwürdigerweise dieselbe Verunstaltung auf der linken Wange hatte, war anderer Natur: Er war zänkisch, und niemand hätte wagen dürfen, in seiner Gegenwart auf die hässliche Warze anzuspielen. Deshalb hatte dieser Nachbar auch wenig Freunde, während der andere freundliche Mann von allen im Dorfe geliebt wurde („Die Warze und die Kobolde„).
Hier versteht man unter Herzensgüte nicht Mildtätigkeit und Barmherzigkeit wie in der jüdisch-christlichen Tradition. Man denkt eher an einen Menschen, der vielleicht einige dicke Probleme in seinem Leben hat, der sich aber dennoch davon nicht unterkriegen lässt. Herzensgüte heißt hier: sich nicht vom Negativen beeinflussen zu lassen und auf das Gute ausgerichtet bleiben.
So bleibt man fröhlich und guter Dinge und versteht sich gut mit anderen. Sogar die Natur, verkörpert von kleinen Naturgeistern, bekommt man zum Freund. Das alles gewinnt man nicht, wenn man sich nicht annehmen kann und sich deshalb auch mit anderen stets in Auseinandersetzungen verwickelt.
Auch gute Helden schlagen dem Drachen den Kopf ab
Fazit: Von den Märchen lässt sich lernen, dass das Pochen auf Liebe und Güte allein zu kurz greift. Sie können schnell auf verlorenem Posten stehen, wenn die Lebenserfahrung fehlt oder man es mit Menschen zu tun hat, die schlichtweg böse und verdorben sind. Wer sein Leben allein Gott und dem Guten widmet, kann leicht ein „König Herzensgut“, werden, der zu eng und wehrlos ist, um dem etwas entgegenzusetzen, was hinterhältige oder egoistische Menschen zu tun in der Lage sind.
Auch andere vermag er dann nicht mehr zu schützen. Da braucht es manchmal Heldenmut, manchmal Magie, manchmal Wehrhaftigkeit, damit man selbst und andere nicht unter die Räder kommen. Auch gute Märchenhelden schlagen dem Drachen manchmal den Kopf ab und setzen damit einer schlimmen Entwicklung ein klares Ende.
Dr. Jürgen Wagner
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Dieser Text stammt aus dem Magazin „Märchenland und Zauberwald„, Ausgabe 6 – das hier bestellt werden kann (einfach klicken)