Passau/ Kalabrien. Im Süden Italiens liegt ein einzigartiges Naturerbe versteckt. Im größten Nationalpark des Landes, dem Pollino-Nationalpark, befinden sich zwei der letzten verbliebenen Buchenurwälder Europas. Diese besonderen Wälder, die seit 2017 als UNESCO-Weltnaturerbe geschützt sind, bieten seltene Einblicke in unberührte Ökosysteme, die auf dem europäischen Kontinent nur noch an wenigen Orten existieren. Hog’n-Autorin Julia Gasser hat sie besucht.

In Italiens größtem Nationalpark gibt es zahlreiche Wanderwege. Zum UNESCO-Weltnaturerbe führt aktuell jedoch noch keiner dieser Wege. Fotos: Julia Gasser
Ein strahlender Spätsommermorgen in Kalabrien. Die Sonne leuchtet über die Hügel des Pollino-Nationalparks, während der Bus sich schnaubend die engen, kurvigen Straßen hinaufschlängelt. Vor jeder Biegung hupt unser Fahrer energisch – eine klare Warnung: „Achtung, hier kommen wir!“ Ich lehne mich zurück, lasse den Blick über die grünen Berge der südlichen Apenninen schweifen und atme tief durch. Seit Wochen freue ich mich auf diese Exkursion – und jetzt bin ich tatsächlich hier, mitten im größten Nationalpark Italiens.
Von Wiesen zu Wäldern: die Wanderung zum Polinello
Die Universität Passau hat gemeinsam mit vier weiteren Universitäten aus Italien und Österreich diese Reise organisiert. Unser Ziel: zwei der ältesten Buchenwälder Europas zu erkunden, die seit 2017 als UNESCO-Weltnaturerbe geschützt sind. Diese Wälder zu betreten ist ein seltenes Privileg – eines, das den besonderen Wert dieser uralten Ökosysteme unterstreicht. Der Wald, den wir heute besuchen sollen, liegt auf dem Pollinello – dem „kleinen Bruder“ des Monte Pollino, dem höchsten Berg und Namensgeber des Nationalparks.
Der Bus holpert weiter durch die Berge. Immer wieder blicken wir auf kleine Dörfer, die sich malerisch in die grüne Landschaft schmiegen. Iola Esposito, die als Guide im Park arbeitet, berichtet von den anfänglichen Schwierigkeiten, die der Aufbau des Nationalparks mit sich brachte. Viele Gemeinden hatten sich damals gegen die neuen, strengeren Regelungen gewehrt. Der Frust war gar so groß, dass eine 900 Jahre alte Kiefer, das Wahrzeichen des Parks, in Brand gesteckt wurde – die Täter wurden nie gefasst. Doch heute, erzählt Iola, ist das alles Geschichte. Der Park bringt den Menschen hier wirtschaftlichen Aufschwung – und inzwischen sind die Bewohner stolz auf ihn.
Auf 1.560 Metern Höhe hält der Bus an. Von hier aus geht’s zu Fuß weiter. Unser Ziel, der Buchenwald am Pollinello, liegt auf 1.900 Metern – den Rest des Weges müssen wir selber gehen. Der Pfad führt durch eine beeindruckende Landschaft: Zwischen dichten Wäldern öffnen sich immer wieder weite Wiesen, auf denen Kühe weiden. Ihre Glocken klingen vertraut, fast wie in den Alpen. Gian Luca Piovesan, Professor an der Universität Tuscia, erzählt, dass diese Flächen einst landwirtschaftlich genutzt wurden und auch heute durch das Grasen der Kühe offen gehalten werden – ähnlich wie die Almen der Alpen.
Wissenschaft im Naturschutzgebiet: Baumringe als Klimazeugen
Während wir weiter aufsteigen, wird die Landschaft karger und offener. Die Grasflächen dehnen sich aus und man fragt sich kurz, ob wir überhaupt noch im Wald landen werden. Aber dann, ganz unerwartet, tauchen hinter einer Wegbiegung die ersten Bäume auf. Bald stehen wir mitten im uralten Buchenwald des Pollinello. Auf den ersten Blick wirkt dieser nicht viel anders als die Buchenwälder, die man aus Deutschland kennt, doch hier sind einige der Bäume mehr als 600 Jahre alt. Trotzdem sind sie keine Riesen, denn in dieser Höhe wächst alles langsamer.
Die Temperatur sinkt merklich. Zeit, um Jacke und Mütze anzuziehen. Es ist erstaunlich, wie viel kühler es hier im Herzen des Waldes ist. Ein intaktes Ökosystem wie dieses kann die jährlichen Temperaturschwankungen gut regulieren – ein Vorteil im Kampf gegen den Klimawandel. So trotzen diese alten Wälder sowohl der Sommerhitze als auch den kälteren Monaten, wie Professor Piovesan erklärt.
Doch wir sind nicht nur zum Staunen hier. Jetzt heißt es anpacken. Ausgerüstet mit Messgeräten und Zuwachsbohrern machen wir uns daran, die uralten Bäume zu vermessen und Proben zu nehmen. Als ich das Werkzeug an die dicke Rinde eines vermutlich 400 Jahre alten Baumes lege, zögere ich kurz. Dieses Exemplar hat hier in unberührter Natur so lange überlebt – und jetzt soll ich einfach in ihn hineinbohren? Michele Baliva, ein Waldökologe der Universität Tuscia, beruhigt mich: „Das heilt schnell. Und die Probe verrät uns Klimageheimnisse aus längst vergangenen Zeiten.“ Jeder Baumring erzählt seine eigene Geschichte – von trockenen Sommern, Regenfluten und eisigen Wintern der Jahrhunderte.
Ein Schatz, eine Messlatte, um zu verstehen
Während wir die feinen Jahresringe im Holz bewundern, tauchen plötzlich zwei Wanderer zwischen den Bäumen auf. Neugierig bleiben sie stehen, stellen ein paar Fragen und ziehen dann weiter. Vermutlich haben sie keine Ahnung, dass sie gerade durch einen der wertvollsten Wälder Europas spaziert sind. Der genaue Standort dieser alten Buchenwälder ist nicht öffentlich bekannt – und es gibt keinen markierten Wanderweg, der hierherführt. Noch nicht.
Pläne gibt es aber schon, in Zukunft Besuchern den Zugang zu ermöglichen, doch das erfordert Fingerspitzengefühl. Die Herausforderung besteht darin, Menschen die Möglichkeit zu geben, diese uralte Natur zu erleben und gleichzeitig dieses fragile Ökosystem zu schützen. Insbesondere für die Wissenschaft sind diese Wälder ein Schatz, eine Messlatte, um zu verstehen, wie stark andere Wälder Europas wirklich geschädigt sind. Sie geben Einblicke in das, was ein unberührter, natürlicher Wald leisten kann – und sind somit richtungsweisend für Renaturierungsprojekte.
Eindrücke aus dem Pollino-Nationalpark im Süden Italiens:
Als wir nach einem langen Tag den Rückweg antreten, fühle ich mich schwer, fast melancholisch. Ich hätte gern mehr Zeit hier verbracht, aber ich weiß auch: Dieser Wald kommt ohne uns Menschen besser klar. Am Ende muss ich mich wohl mit diesem einen Tag begnügen. Vielleicht ist es genau das, was ich mitnehme – manchmal ist der Natur am besten geholfen, wenn wir sie einfach in Ruhe lassen.
Julia Gasser